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Isabella L. Bird's Reise durch Japan. 141 wird gesungen: „Haltet, meine Brüder, haltet! Die Gattin hat euch einen Auftrag zu geben. Wartet noch ein wenig! Grüßet mir meinen Vater und meine Brüder! Haltet, haltet! Grüßet mir meine Mutter und meine Schwestern! Sagt ihnen, daß mein Herz sie niemals vergessen wird. Haltet, haltet! Sagt ihnen, daß der Abeudwind ihnen stets die Gebete überbringen wird, welche ich für sie zum Himmel senden werde. Haltet, haltet!" Sobald die Gattin bei dem Gatten angekommen ist, wird gesungen: „Du bist verloren; was suchst Du, Gattin? — Die Thür des Gatten! — Was giebst Du mir, Gattin, wenn ich sie Dir zeige? — Nett gefaltete und schöngestickte Hemden, mein Gatte! — Für diese danke ich Dir nicht, o Gattin! denn ohne Dich darum zu fragen, werde ich sie Dir nehmen!" Einmal verheirathet wird die Frau die Sklavin ihres Mannes. Denn der Koran sagt: „Die Frauen müssen ihren Pflichten nachkommen, aber auch die Männer nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit sich ihnen gegenüber betragen. Doch kommt stets dem Gemahl die Herrschaft über die Frau zu." Der Koran geht in Bezug auf das eheliche Leben in die genauesten Details ein. Alles ist geregelt, so daß der Mann niemals im Zweifel über seine Rechte und Pflichten sein kann. Der Koran verpflichtet ihn zur Ernährung seiner Frau; er muß sie kleiden und beherbergen und mindestens zweimal monatlich seiner Gattcnpflicht nachkommen, widri genfalls ihn die Frau beim Kadi verklagen und dazu ver halten lassen kann. Seine Weigerung wäre Scheidungsgrund. Hat der Mann mehrere Frauen, so ist jede derselben berechtigt, ein eigenes Gemach zu beanspruchen. Wenn er der einen Gattin ein Geschenk macht, müssen auch die an deren auf Verlangen dasselbe erhalten und der Gemahl darf niemals der einen Frau etwas abschlagen, was er der an dern gewährt hat. Diese lästigen Bestimmungen mögen nicht wenig dazu beitragen, daß die Vielweiberei im Orient nnr bei den sehr Reichen, vorkommt und die Anderen sich weniger rechtmäßige Frauen nehmen, dagegen mehr auf Sklavinnen halten und sich noch lieber — leider sehr allgemein! — mit Knabe n abgcben. Ich habe oben eines Scheidungsgrundes erwähnt. Sol cher giebt cs indeß mehrere. Ehebruch zählt selbstverständ lich auch dazu, obwohl der Albanese in diesem Falle die Scheidung schneller und kürzer durch einen Pistolenschuß oder Messerstich besorgt. Schlechte Behandlung und be ständiger häuslicher Hader begründen ebenfalls das Gesuch um Ehescheidung. Wenn der Gatte verreist oder verschollen ist und nicht innerhalb einer vom Kadi bestimmten Frist zu- rückkehrt, hat die Fran das Recht Scheidung zu verlangen. Ebenso kann eine Scheidung stattfindcn, wenn der Mann nachträglich findet, daß seine Frau hinkt (so zwar, daß sic weder gehen noch stehen kann), blind oder mit Geschwüren behaftet ist. Auch wenn sie verrückt, unfruchtbar, ja selbst weun sie übermäßig dick ist, kann der Mann Scheidung verlangen. Nur muß es gleich nach dem Entdecken dieser Eigenschaften geschehen. Die Frau darf ihrerseits Scheidung beanspruchen, wenn der Gatte impotent, verrückt oder allzu dick ist. Sollte sie jedoch dies nicht gleich thun, verliert sie ihren Anspruch auf die vom Manne zu zahlende Mitgift. Diese muß jedoch der Mann ganz zahlen, sobald die Scheidung auf seinen Wunsch erfolgt. Nach dem Koran hat anch der Mann das Recht, seine Frau zu verstoßen. Nach der Schei dung darf sich der Mann sofort wieder verhcirathen; die Frau jedoch erst vier Monate und zehn Tage später. Ebenso lange muß auch die Wittwe mit der zweiten Ehe warten. Die Ehescheidungen sind in Albanien gar nichts Seltenes, doch finden sie meist bei kinderlosen Paaren statt. Wenn ein Kind geboren wird, so begnügt sich die Be hörde mit der einfachen Anzeige der Eltern, da keine Doku mente über dieses Ereigniß ausgestellt oder sonstige Akte ausgenommen werden. Das Kind ist legitim, sobald es der Vater als solches betrachtet. Doch haben seine Erben das Recht, die Legitimität zu bestreiten, sofern sie beweisen kön nen, daß die Mutter vor weniger als sechs Monaten vor Geburt des Kindes in das Haus des Gemahls gekommen. Illegitim ist auch jedes vor der Hochzeit geborene Kind, selbst wenn es der Vater anerkennen wollte. Ebenso hat ein zehn Monate nach dem Tode des Gatten geborenes Kind keinen Anspruch auf Legitimität. Die Kinder von Skla vinnen werden frei und erbberechtigt, wenn der Vater (der indeß selbst frei sein muß) sie dazu erklärt. Originell und erheiternd ist die Bestimmung des Gesetzes: „Wenn ein Mann sich in der Eile vergreift und irrthümlich die Frau oder Sklavin eines Andern für die seinigc haltend sie schwän gert, so wird das Kind frei und erbberechtigt." Darnach scheint cs, als ob solche sonderbaren „Versehen" und „Jrr- thümer" nicht so selten wären. Außer der Beschneidung sind die Kinder auch dem Ra- sireu des Kopfes unterworfen, das am siebenten Tage nach' der Geburt stattfindct. Isabella L. Bird's Neise durch Japan. ii. Wenn Jokohama dem Fremden, der den Boden Japans hier zum ersten Mal betritt, fast unausbleiblich wie ein Bild der traurigsten Monotonie und grauen Nüchternheit er scheinen wird, so bietet ihm Tokio dagegen eine schwer zu bewältigende und immer von Neuem überraschende Fülle des verschiedenartigsten Bcobachtungsstoffes dar. In den hete rogenen Theilen, aus denen die gewaltige Hauptstadt besteht, spiegeln sich die Hauptphasen der wechselvollen neuern Ge schichte des japanischen Reiches wieder. Seitdem im 12. Jahrhundert die Entwickelung eines mächtigen Vasallenthums der Kriegsfürstcu begonnen hatte, war das Land mit nur kurzen Unterbrechungen der Schauplatz fortgesetzter Kämpfe zwischen den einzelnen Dalmios oder Vasallen. Die Ge walt des in seiner Hauptstadt Kioto residirenden Mikado, des „direkten Nachkommen der Sonnengöttin", war in stetem Abnehmcn begriffen, der Herrscher selber in seiner geheiligten Zurückgezogenheit gar oft ein Spielball seiner kämpfenden Lehnsfürstcn. Da gelang cs gegen das Ende des 16. Jahrhunderts dem tapfern Jjejasu, einem der mäch tigsten unter den Dalmios, alle streitenden Parteien zu be siegen und die eigentliche Herrschaft über das Reich an sich zu reißen. Er nahm den alten Titel der Lehnsfürstcn, Sei-i-Schogun (Feldherr gegen die Barbaren), wieder an und kennzeichnete dadurch seine Absicht, die auf der alten religiösen Fiktion begründete Oberhoheit des Schattenmikado aufrecht zu erhalten. Unter ihm und seinen Nachfolgern,