Volltext Seite (XML)
138 F. Ratzel: Die chinesische Auswanderung seit 1875. Takau. Dafür warf er sich auf die Reinigung des korrup ten Beamtenstandes mit einer seltenen Energie und erzielte Bedeutendes in dieser Richtung. „Ting-Jih-Chang," sagt der englische Konsulatsbcricht aus Tamsui für 1876, „ist in vielen Beziehungen ein hervorragender Mann und vor allem ein hervorragender Chinese. Die unaufhörliche Verfolgung, welche er seit seinem Amtsantritt der Bcamtenkorruption jeder Art hat angedeiheu lassen, findet wenig ihres Gleichen in der Geschichte des Landes." Durch die Ausbeutung der Kohlenlager von Kilung (Nordformosa) nach europäischen Grundsätzen und mit europäischen Maschinen hat er die Einnahmen der Insel in einer Weise gesteigert, welche die Aufhebung einer ganzen Anzahl von jenen kleinlichen Steuern erlaubte, in welchen die chinesische Berwaltungskunst eine wahrhaft komische Erfindungsgabe zeigt. Ein Bericht des Futai im Pekinger Regierungsblatt vom 31. Mai 1877 in dieser Hinsicht verdient als interessanter Beitrag zum chine sischen Bestcnerungswesen verzeichnet zu werden. Es wird dort unter anderen die Aufhebung der Steuern auf Fischer- nctzc, Taue, Bambusstöcke, Fischreusen verfügt; einige an dere, „wenn auch kleine und lästige Steuern, welche wenig stens insofern gerechtfertigt erscheinen, als sie vom wirklichen Gewinn erhoben werden" und die in eine Linie zu stellen sind mit den Haselnuß- und Kastaniensteueru von Tschili, werden einstweilen noch beibehalten. Der Straßenbau nahm unter der Leitung dieses Beamten einen hohen Aufschwung. Den Anstoß dazu gab wohl hauptsächlich das seit der japa nischen Invasion lebhafter hervortretende Streben der chine sischen Regierung, das ganze Formosa möglichst rasch sich zu unterwerfen. Mehrere neue Straßen von der Haupt stadt ins Innere eröffneten das letztere den Ansiedlern, welche amtlich zur Auswanderung nach Formosa aufgefordert und in Rcgicrungsschiffcn dahingcbracht wurden. Ein eigener Auswanderungskommissär wurde aus der Zahl der höheren Beamten von Futschem ernannt. Diese wahrscheinlich nicht immer freiwillige Auswanderung wurde mit solcher Energie betrieben, daß der Assistant Protector der Chinesen in Pinang die Abnahme der Einwanderung nach den Straits unter an deren auf sic zurückführtc. Eine große Zahl der Auswan derer wurde an die Süd- und Ostküste gebracht, wo ihnen die Regierung Land auwies. Ebendort wurde in der Kwa- liang-Bucht eine neue Stadt an derselben Stelle angelegt, wo die Japanesen ihr Lager gehabt hatten. Zugleich wurden die Mandarinen angewiesen, durch Freundlichkeit sich das Vertrauen der Eingeborenen zu ge winnen. Der Mandarin von Long-Kian, das die Japa nesen besetzt gehabt hatten, hielt z. B. offenes Haus für die Eingeborenen, wo sic sich satt esscn und ausruhen konnten. (P. Ibis, „Globus" XXXI, S. 199.) Leider sind seit 1878 einige von diesen Reformen in Formosa zum Still stand gekommen, so vor allem die gehoffte „Transinsular- Eisenbahn". Auch die Kohlenwerke von Kilung und die Erdölwcrke haben nicht die Fortschritte gemacht, zu welchen sic berechtigten, so lange sie unter Leitung von Europäern und Amerikanern standen. Ein britischer Konsularbericht für 1878 aus Taiwanfu klagt, vielleicht etwas zu pessimistisch, daß der ganze Reformcifcr für die 8 Millionen Dollar, welche er in wenigen Jahren verausgabt habe, nichts Dauern des geleistet habe, als die Tclcgraphenlinie und einige kostbare Befestigungswcrke. Indessen ist mindestens die sehr starke Hebung der wirthschaftlichcn Leistung dieser vor 15 Jahren für den großen Handel fast bedeutungslosen Insel als un leugbare Thatsache zu bezeichnen, welche vielleicht zugleich den besten Maßstab giebt für den Fortschritt der chinesischen Kultur auf derselben. Der Haupthafen für den Verkehr zwischen Formosa und dem Festland ist Amoy (die größeren Kaufleute in Formosa sind vorwiegend aus Amoy) und die Konsularberichtc von diesem Platze führen von Jahr zu Jahr größere Summen an für Aus- und Einfuhr Formosas. In der Regel sind die betreffenden Zahlen nicht genau specifi- cirt, doch giebt z. B. der britische Konsularbericht für 1878 den Werth der aus Amoy rccxportirten Waaren, die fast ausschließlich nach Formosa gehen, auf 1 151 798 Haikwan Taels — circa 6 900 000 Mark an, während der Fremd handel der drei offenen Häfen in dem genannten Jahre genau 30 Mill. Mark umsetzte. Ein wenig löblicher, aber für die „Kolonie" bezeichnender Zug der chinesischen Händler in Formosa ist die geringe Rcellität, welche sich hauptsäch lich im Theehandcl geltend macht. Der formosauische Thee hat in den letzten Jahren durch schlechte Mischung und Packung erheblich von dem Rufe verloren, den er besonders in Nordamerika besaß. In Europa hat er, wie alleUlong- sortcn, wcgcu seiner Bitterkeit nie Fuß fassen können. Die europäischen Reisenden, welche in den letzten Jahren Formosa besuchten, thcilen manche Einzelheiten mit, welche die Fortschritte der chinesischen Kolonisation auf dieser Insel näher beleuchten. Arthur Corner fand 1876 auf einer Reise durch Formosa von Süden nach Norden die Chinesen überall in voller Arbeit. Die Ebene von Taiwanfu ist jetzt ganz von Chinesen eingenommen und bildet den Brennpunkt der chine sischen Kultur auf Formosa. In der Nähe der erstem Stadt wurde das alte Fort Zealandia abgebrochen und aus seinen Steinen eine neue Küstenbefestigung unter Leitung eines französischen Ingenieurs erbaut. In der Nähe von Tarniu und Toapana setzten ihn die sehr gut angelegten terrassenförmigen Bewässerungsarllagen in Erstaunen. Bei Chip-Chip, einem ausschließlich chinesischen Dorf, waren chinesische Kulis beschäftigt einen Wald zu lichten, hatten aber ihre Steinflinten nahe bei der Hand liegen, um sofort jeden Angriff der Eingeborenen abwehren zu können. In der Ebene von Posia fand er die Mischlinge zwischen For- mosanern und Chinesen in großer Zahl (H. I. Allen gicbt in kroooockings U. C. 8. 1877/78 5000 und daneben nur wenige Chinesen an); sie trugen sich völlig chinesisch, waren aber an entschieden malaiischen Zügen ihrer Physiog nomie zu erkennen. Sie sind fleißig und ehrlicher als die Chinesen, gleichen ihnen aber nicht in der Geschicklichkeit, mit der sie den Acker bebauen. Die Chinesen neunen sie Pepauhoan oder Pepohnan (auch der Name Sekhuan, d. h. civilisirte Barbaren im Gegensatz zu den Wilden, Tschihuau, wird ihnen beigelegt) und sie wenden diesen Na men wohl auch selbst auf sich an. Manche von ihnen sind Christen. Den unvcrmischten Eingeborenen stehen sie ganz ebenso scheu oder feindlich gegenüber wie die Chinesen, und es würde nicht möglich sein, einen Führer in das Gebiet, das jene bewohnen, aus ihrer Mitte zu erhalten. Selten versteht einer noch die Sprache derselben und nur einige von ihnen geraubte oder zu ihnen geflohene Weiber dienen als Dolmetscherinnen. Ungemischte Eingeborene, welche von den Chinesen hauptsächlich durch Zufuhr von Branntwein kor- rumpirt wurden, und nun großentheils von denselben als Sklaven benutzt werden, sand H.J. Allen am See Tsui-sia- hai, d. h. dem See der Wassermcnschen. Sic machten den Eindruck einer heruntergekommenen Race. Bullock giebt (kroosmlinZs u. C. 8oo. XXl) ihre Zahl zu 100 bis 200 Familien an. Fast alles Land um den See gehört jetzt den Chinesen. Wie groß die Scheu der Chinesen ist, sich ohne den drängendsten Zwang auf das Gebiet der Eingeborenen auszubreitcn, zeigt Margary sehr gut in seinen geistvollen Briefen aus Formosa Cilla ckournal ok X. R. LlarZar^. Uonckon 1876) an der Thatsache, daß sie selbst hier schon auf die höchsten Höhen, deren Bebauung unendliche Mühe