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F. Ratzel: Die chinesische Auswanderung seit 1875. nach Padang-Pandjang gehen und mehrere Stunden lang durch die einförmige Küsteuebene gefahren sind. Noch am selben Tage setzte unsere Gesellschaft ihre Reise nach Fort Kock fort, einige in einem gemietheten Wagen, um die Hufe ihrer unbeschlagencu Thiere zu schonen. Der Weg steigt stark und zieht sich in einer Höhe von 1100 m zwischen dem Siugalang und Merapi hindurch. Von der Paßhöhe sahen sie die schöne Ebene von Agam mit ihrer prachtvollen vulkanischen Umrahmung zu ihren Füßen sich auDdehneu. Dann ging es steil hinab nach Fort Kock, welches 12^/2 Paal von Padang-Pandjang entfernt ist; Veth wurde dort im Hause des Resideuten nach Wunsch untergebracht, seine beiden Gefährten bei dem Kontroleur de Gräve, dessen Bruder, Bergmann seines Zeichens, den Fluß Kocantan (Kwantan; in denselben ergießt sich der oben erwähnte Ombilin) ersorfcht hat und dann ein Opfer seines Entdeckereifers wurde. Die chinesische Auswanderung seit 1875. Von Prof. F. Ratzel. II. Kolonisation innerhalb der Grenzen des eigentlichen China. Ein Blick auf die Geschichte des chinesischen Reiches lehrt, daß es zu seiner heutigen gewaltigen, ja, was die Zahl der Bevölkerung anlangt, geradezu beispiellosen Größe nicht durch große Eroberungen oder durch nach einem großen Plane geführte diplomatische Feldzüge gelangt ist, sondern daß es vielmehr die kolonisirende Arbeit der Ein zelnen ist, welche das Reich zu dem erwachsen ließ, was es heute darstellt. Die Chinesen drangen aus dem Nordosten des heutigen China nach Süden, Westen und zuletzt auch nach Norden langsam in dem Maße vor, wie ihre Bevöl kerung zunahm, sie erwarben sich einen Strich Landes nach dem andern, indem sie das, was ihre Krieger eroberten, mit jenem emsigen Fleiße, welcher sie schon vor Jahrtausen den charakterisirte, der Kultur gewannen. Die fremden Völker werden ausgerottet oder nach den schon gewonnenen Gegenden versetzt und an ihre Stelle tritt ein wohl aus gedachtes System von Militär- und Ackerbaukolonien. Kluge Verwaltung, Ackerbau, Gewerbe, Handel und Ver kehr vollenden die Eroberungen und schieben sich lang sam immer weiter vor, indem sic einen neuen Schritt im mer erst wagen, nachdem sie sich auf der Stelle des vor herigen festgesetzt und gesichert haben. Heute sind es zwar nur noch einige wenige Bezirke von beschränkter Ausdeh nung im Süden und Westen des Landes, welche dieser langsamen aber sichern Arbeit noch nicht gewonnen sind, aber wie fast Alles in China ist diese Kolonisationsarbeit von Alters her dieselbe geblieben. Man geht mit der Vor sicht, mit der man die Unterwerfung einer überwältigenden Masse wilder Völkerstämme zu einer Zeit plante, wo China noch nicht ein Viertheil seines heutigen Gebietes umfaßte, an die Kolonisation der schon seit Jahrhunderten rings von Chinesen umschlossenen Gebirgsvölker in Kweitschau oder Szetschuen, oder der schon halb von Chinesen besiedelten Insel Formosa. So kommt es, daß das volkreiche, längst nach außen kolonisirende Reich im Innern noch eine Reihe unbesiedelter und ununterworfener Landschaften umschließt, welche freilich immer mehr eingeengt werden, deren Bewoh ner aber von Zeit zu Zeit durch Ueberfällc der Kolonisten der Regierung schwere Sorgen machen. Vorzüglich in den Provinzen Kweitschau, Szetschuen, Kuangtung und Jünnan findet man noch solche Gebiete, wie denn die ganze Be völkerung derselben, zum Theil auch Hunans und Kiangsis, durch Mischung mit diesen „Wilden" sich in manchen Be ziehungen von den Chinesen unterscheidet und manche Züge an sich trägt, die man auch anderwärts als „Kolonistcn- charakter" kennt. Hier haben sich auch, nachdem diese fremden Elemente längst aufgesogen sind, ganz wie bei uns, in der Volkssage Erinnerungen an die wilden Völker erhalten, welche einst die Wälder und Gebirge bewohnten. Von wirklichen Resten der Mantze konnte z. B. Fr. Garnier trotz den eifrigsten Erkundigungen nichts erfahren, als er 1873 im Gebiete des Puen-kiang und Wukiang reiste, aber in schwer zugänglichen Höhlen sollten sie Kisten mit Büchern in „europäischer Schrift" zurückgelassen haben, und nur die abergläubische Furcht vor diesen Höhlen hält davon zurück, diese wunderbaren Reste näher zu erforschen. Kapt. W. I. Gill, welcher 1877 die westlichen Grenzpro vinzen Chinas bereiste, gab von dem Vordringen der chine sischen Kolonisten in Szetschuen, wo sie die Mantzes immer mehr in die Gebirge zurückdrängen, soweit dieselben sich nicht durch Heirath assimiliren lassen, eine Schilderung, welche die von Richthofen, Cooper und Anderen i) früher gegebenen bestätigt und vervollständigt. Er zählt 18 Mantze- Stämme von Jünnan bis in den äußersten Norden von Szetschuen, deren jeder einen König oder eine Königin be sitzt. Diese Herren erhalten Abgaben in Arbeit und Feld früchten. Die Chinesen verheirathen sich mit Mantzefrauen, aber Verbindung zwischen Mantzemännern und Chinesinnen kommen nicht vor. Die in der Nähe von Ngan-Schun wohnenden Kong-kia-tze sind eine solche Mischung, halten sich aber von beiden, Chinesen wie Mantze, fern. Die hier lebenden Mantze sind erst seit 18 bis 20 Jahren aus man chen Thälern in die höheren Theile des Gebirges zurück gedrängt, wo ihre Dörfer oft wie Adlernester zwischen Felsen kleben. Tiefer unten findet man zahlreiche Ruinen neuern Datums und oft hart daneben ein Ehincsendorf: ein spre chendes Zcugniß der Veränderung des einen Volkes durch das andere. Die Mantze, welche Gill sah, glichen den Chinesen, kleideten sich wie sie und sprachen neben ihrer eigenen Sprache meist auch Chinesisch. So wie die Mantze sind die westlich von ihnen wohnenden Sifan von den Chinesen in die Gebirge gedrängt und diese letzteren haben manche neue Ansiedelungen in dem ihnen zugefallenen Gebiete be gründet. Die Bevölkerung von Szetschuen zeigt auch ihren kolonialen Charakter in dem Uebergewicht, das Ackerbauer i) H. O. Loe. 1877 — 1878.