Volltext Seite (XML)
108 F. Ratzel: Die chinesische Auswanderung seit 1875. päischen Auswanderern den Vergleich aushält. Auch die Auswanderer aus Hainan, welche worwiegend nach der Halbinsel Malacca gehen, verdienen nicht den Namen eines Auswurfes, denn auch hier steht die von Alters her an die Auswanderung gewöhnte Bevölkerung zu der Durchschnitts- Qualität ganz in demselben Verhältniß wie bei uns. Medhurst sucht noch einige andere Klagen zu entkräften, welche gegen den chinesischen Auswanderer vorgebracht wer den. Daß die Chinesen im Ganzen und Großen nicht un moralischer sind als manche europäischen Nationen, ist eine Thatsache, welche dem Völkerkenner und vorsichtigen Völker- beurtheiler nicht erst klar gemacht zu werden braucht, denn auf dem moralischen Gebiete gehen die Unterschiede der Völker viel weniger tief als auf dem geistigen, sobald man durch die Hülle des Scheines in den Kern, in das Wesen der Mora lität vordringt. Die Abschließung der Chinesen gegen die Völker, in deren Mitte sie sich niedcrlassen, kann sicherlich nicht ihnen allein zur Last gelegt werden. Sie sind zwar ein konservatives Volk, das an seinen Sitten und Gebräuchen fester hält als die meisten anderen Völker. Aber schließen sich diese nicht auch ihrerseits gegen die Chinesen ab? Zwei fellos sind die geheimen Gesellschaften (Hoei), zu welchen die Chinesen wie mit einer Naturnothwendigkeit allüberall zu- sammenklubben, wo immer eine Anzahl sich zusammenfindet, eine Gefahr für die bürgerliche Gesellschaft, welche sie aus genommen hat. Aber diese Gesellschaften haben ihre Wur zeln einerseits in dem patriarchalischen Zuge, der durch das Leben der Chinesen geht und die Angehörigen eines Stam mes mit einer Festigkeit aneinander halten läßt, die außer ordentlich ist, andererseits in der Schwierigkeit, die der Ein zelne findet, „sein Leben zu machen", in dem Bedürfniß nach gegenseitigem Halt und Schutz, wie er auch in den dich ten Bevölkerungen Südeuropas, man denke an die Camorra, Maffia und ähnliche, hervortritt. Auch der Schutz gegen Mißregierung durch schlechte Beamte ist ein Motiv zur Bildung solcher Gesellschaften und dasselbe ist in China gewiß kein schwaches. Indessen sind an den Orten, wohin die Chinesen wandern, viele von den Gründen nicht mehr gül tig, welche dieselben in der Heimath in die „Hoeis" trieben, und tiefeingewurzelt wie die Neigung zu Geheimgesellschaf ten sein mag, ist sie doch gewiß kein Charakterfehler, son dern kann durch Energie der Regierenden auf ein un schädliches Maß herabgemindert werden. In der mensch licher» und vertrauensvoller» Politik, mit der die englischen Beamten Hongkongs, Singapurs, Pinangs u. s. f. neuerdings den Chinesen entgegenkommen, ist der Wunsch mitbestimmend, sie aus ihren Gemeinschaften, in welche sie sich verschließen, heraus und in höherm Maße, als sie es bisher thaten, in die gesunde Luft des öffentlichen Lebens zu bringen. Wir sind überzeugt, daß dieses Mittel gerade gegenüber den Hoeis sich glänzend bewähren wird. Auch die Theilnahmlosigkeit gegenüber den öffentlichen Angelegenheiten wird den Chinesen zum Vorwurf gemacht. Aber woher sollen sie die Thcilnahme für dieselben in ihrer patriarchalisch-despotisch regierten Heimath nehmen? Es ist möglich allerdings, daß gerade in ihren Anschauungen von Politik etwas von der einzigen seltsamen Geistes beschaffenheit hervortritt, welche sie anders denken und auf anderen Wegen (wenn auch mit demselben Ergebniß) han deln läßt als andere Menschen. Jndeß lehrt die Erfahrung, daß sie keineswegs ohne Gemeinsinn und noch weniger ohne Verwaltungstalent sind, und jedenfalls lohnt es sich, Versuche mit ihrer Erziehung zur Selbstregierung, wenn auch nur zu den ersten Anfängen derselben, zu machen. Man darf sich eben ihnen gegenüber nicht einfach auf den Standpunkt der unbedingten Ueberlegenheit und Gering schätzung stellen, den man Indianern oder Australiern gegen über einnimmt, sondern muß den Sitten und Anschauungen der Chinesen, welche in einer alten Kultur wurzeln, min destens einige Berechtigung zugestehen. Manche der Miß stände, welche die Verwaltung der Chinesen in Singapur, Pulo Pinang u. s. f. gezeitigt hat, würden anerkannter maßen zu vermeiden gewesen sein, wenn die betreffenden europäischen Beamten der chinesischen Sprache mächtig ge wesen wären und noch mehr, wenn sie den chinesischen An schauungen von Recht und Staat nicht wie einem versiegel ten Buch gegenübergestanden hätten. Noch einige Worte über die Versuche, diese verwickelten Probleme auch für Europa praktisch werden zu lassen. Ein zwingender Grund für dieselben liegt nicht vor und die Bespre chung des Werthes chinesischer Arbeit in Europa hat sich daher bis jetzt in akademischen Grenzen gehalten. Das ist selbstverständlich. Auch haben sich fast nur englische Stimmen über diese Frage vernehmen lassen, denen der Arbeitermangel auf dem flachen Lande inBerbindung mitdemUeberfluß aufsäs siger, anspruchsvoller Arbeiter in dem Mittelpunkte der gro ßen Gewerbthätigkeit und endlich die durch die beherrschende Stellung Englands im Weltverkehr erzeugte Neigung die fernste» Länder- und Völkerbeziehungen in den Kreis der Beobachtung und Besprechung zu ziehen, derartige Betrach tungen näher rückt. Was dort über die Verwendung chine sischer Arbeit im Großgewerbe gesprochen worden ist, machte mehr den Eindruck von Schreckschüssen, für die streikenden Arbeitermassen berechnet, als von ernsthaften, praktischen Erwägungen. Praktisch ist für jetzt nur die Möglichkeit, daß die Chinesen, welche als Studenten, selbständige Kaufleute und in viel größerer Zahl unter der Mannschaft und Bedie nung der indischen und ostasiatischen Dampfer immer häu figer nach England kommen, die dortigen Verhältnisse lockend genug finden, um sich dauernd niederzulassen und andere von ihren Landsleuten nachzuziehen. Sachkenner sehen es als wahrscheinlich an, daß die Chinesen in steigendem Maße auf eigenen Schiffen ihren Verkehr mit Europa besorgen und eigene Häuser bei uns gründen werden. Ein lang samer Zuzug derselben nach Europa und vorzüglich nach England ist also wahrscheinlich , ja gewiß. Aber ein lang samer. Von der Einfuhr großer fremder Arbeitermassen nach Europa hat man alle Ursache abzustehen in einem Augenblick, wo uns bei fortschreitender Bcvölkerungszunahme bei immer gleichem Raume und damit gleichen Hülfsquellen ein an chinesische Uebervölkerung erinnernder Zustand näher gerückt ist als je vorher. Heute, wo die eigenen Völker der Mutter Europa Sorge genug machen, wird man sich selbst nur theoretisch weniger als je mit einer großherzigen Ansicht befreunden, wie sie z. B. Daily Telegraph in einem Aufsatz über chinesische Einwanderung im December 1877 äußerte: „Sollte," heißt es dort, „diese alte, begabte, abgeschlossene Race in nie dagewesenen Schaaren ihr Vaterland verlassen, um nach fremden Gebieten kommercieller und gewerblicher Arbeit sich zu begeben, so würde es ganz vereinbar sein mit der Pflicht, welche die westlichen Nationen sich selber schulden, daß diese Fremdlinge nicht zurückgewiesen würden, sondern daß man sie eher ermuthigte auf der Bahn der Civilisation fortzuschreiten." Aus den Tagesblättern gingen jene Gedanken auch in mehr wissenschaftliche Zeitschriften und Bücher Uber, ohne indessen an Vertiefung zu gewinnen. So sprach ein Auf satz im Oktoberheft der „^»»alss äs 1'LxtrZins Oriont" die Meinung aus, daß in 100 Jahren die Chinesen die Arbeiter von ganz Europa sein würden. „Die europäische Race," hieß es dort, „ist aristokratisch, der Handarbeit ab geneigt und hat zu nichts weniger Lust als zum beschränkten