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— 280 — erwähnten Forschungen*) keinem Zweifel unterliegen, daß König Claudius Niemand anders war als der glatte Hofmann und Giftmischer Leicester, seichten Herzens unter seiner Raub thierschönheit, von oberflächlichem Ehrgeiz, doch eisenstirnig und willenskräftig. Jener Leicester, der seine Gemahlin Amy Robsart umbrachtc, um seine Hand nach Elisabeth von Eng land strecken zu können; der während der Feste, die er in Kenilworth der Königin gab, Zeit fand, die bildschöne, heiß blütige und anschmiegsame Gräfin Essex zu verführen; der, durch das ganze Land hin beschuldigt, den Grafen Essex in Dublin durch Gift aus dem Wege geräumt zu haben, um die Wittwe heimlich heirathen zu können, doch der Wuth der Königin, als sie es erfuhr, wie den irdischen Richtern zu ent schlüpfen wußte, um bald zu immer höheren Ehren aufzusteigen. Und wie kam es, daß Leicester im Leben glänzen durfte, Claudius im Trauerspiel so jämmerlich endet? Es kam, weil Shakespere im gelegentlichen Obwalten des Bösen auf Erden, so schmerzlich unser Gefühl davon berührt wird, doch den tiefen Zweck begriffen hatte; weil ein untrügliches Gefühl der Ver antwortung ihn abhiclt, den Glauben an Gerechtigkeit im naiven Zuschauer durch Darstellung solchen Sachverhaltes zu erschüttern. Er war in höherem Sinne naturgetreu als die bloßen Ab- klatschcr plumper Wirklichkeit; er verschmähte es, eine Einzel wirkung, wäre sie noch so naturgetreu, herauszugreifen aus dem Zusammenhang der Dinge und der göttlichen Weltordnung, um, durch die dergestalt isolierte, Augenblickswirkungen zu er zielen zum dauernden Schaden der Gemüther. Er kannte den zufälligen Sieg des Schlechten und glaubte doch an den ewigen Triumph des Guten. Ich weiß sehr wohl, daß Mancher, der nun ein mal in der Brutalisierung aller harmloser Gepflogenheiten *) „Preuß. Jahrb.", Februar und Juli 1895.