Enthält: zahlreiche Anstreichungen und Anmerkungen Karl Mays im Text und auf dem fliegendem Nachsatz, auf Titelseite neben Verfasser handschriftlich von May mit Tinte: "(Hessen)"
bietenden Interesse der Gegenwart nicht aufkommen, so klaffen mir im „Lear" doch gerade dadurch wesentliche Lücken und der Argwohn, daß Lear schon sein Lebelang ein Einfalspinsel ge wesen sei, weil er die wahre Natur seiner älteren Töchter niemals auch nur ahnte, wirkt ernüchternd. Ganz ähnlich ergeht es mir in Betreff des äußern An lasses zum Streit zwischen Goneril und dem Vater. Jeder mann, der mit bäuerlichen Verhältnissen vertraut ist, kennt auch die unsägliche Zwietracht, die das Wort „Altentheil" in sich birgt. Wo das Altentheil nicht ganz genau, und vor Allem ganz vernünftig abgegrenzt wurde, ist der Zank schon andern Tages da. Wo es so ohne Vorbedacht bedungen wurde, daß dem Alten immer noch das Dreinreden bleibt, um den jungen Besitzer in all seinen Unternehmungen zu hemmen, ihn durch das Vorenthalten wirklicher Selbständigkeit aufzuregen und zu reizen, da ist der Zank nicht bloß unvermeidlich, sondern auch ganz berechtigt. Und in diesem Fall befinden wir uns mit Lear. Wozu muß er hundert Ritter haben, wenn er doch nur noch höchstens auf Jagd gehn will? Hundert Lanzen und Schwerter zur augenblicklichen Verfügung in einem noch unzivilisierten Lande, wo Jedermann gelegentlich, aber Niemand von Berufs wegen Waffen trug? Wozu dieses „stehende Heer"? Welcher Schwiegersohn, der schon der Kosten wegen davon absehn mußte, sich in Friedenszeiten solch eine Truppe zu halten, würde sich ein derartiges Einlager auf die Dauer haben gefallen laßen? Wenn ein Städter mit seinerDiener- schaft nur für Wochen auf ein Landgut kommt, geht es ohne Liebschaften und ärgerliche Händel nicht ab. Und Lear mit seinen hundert Rittern wollte den Rest seines Lebens nicht blos ein so zweifelhafter Besucher bleiben, sondern geradeswegs einen Staat im Staate bilden? Ich muß gestehn, daß, wenn Goneril dem Vater vorwirst: