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194 „Wer mir die Wahrheit sagt, und wär' sie tödtlich, Den hör ich an, als schmeichelt er Wir tragen Unkraut, Wenn scharfer Wind uns schont", . . . so denken Männer, nicht Frauen. Denn entweder fehlt ihrer Schwäche der Muth, um einer unbequemen Thatsache ins Gesicht zu sehn, und sie strengen lieber all ihren Scharf sinn an, um einem Schluß, den sie als unliebsam voraus empfinden, zu entgehn; oder die Organe ihrer seelischen Em pfänglichkeit sind thatsächlich aus so seltsamem Stoff, daß sie, — wie längst bemerkt worden ist, — dem Wachse gleichen, um einen Eindruck aufzunehmen, und dem Stahl, um ihn wieder herzugeben. Das Umdenkcn hat für sie die Bedeutung einer höchst schmerzlichen Opcrailon und? obwohl sonst von un endlicher Güte, lernen sie doch nur selten einem Dichter ver- zeihn, der sie einer solchen Operation zu ihrem eignen Besten unterwerfen wollte. Lord Byron hat dieses Verhältniß sehr treffend gekenn zeichnet, als die holde Gräfin Giuccioli den Preis ihrer Gunst dahin sestsetztc,. daß er aufhöre, am „Don Juan" zu arbeiten, seinem Meisterwerk, in welchem er die Heuchelei der damaligen englischen Gesellschaft schonungslos geißelte. „Solche Wünsche, sagt er, entspringen aus dem Streben aller Frauenzimmer, das Sentiment der Leidenschaft zu exaltieren und die Illusionen, welche ihr Reich sind, zu erhalten. Don Juan aber streift diese Illusionen ab und lacht darüber, wie über fast Alles. Ich kannte nie ein Weib, welches Rousseau nicht vertheidigte, und keines, welches nicht Gramont/) Gil Blas, kurz die ganze Komödie der Leidenschaft in ihrer wahren Gestalt, haßte." So wird man noch heutigen Tages tausende von Frauen urtheilen hören, daß Shakespere ganz schön sein *) Gemeint sind die sehr lesenswerthen „NöwoirsZ äu oüsvniisr äs Ornuroirt", 's 1707.