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§42 Nacht ibr Haupt niederzuicge». Wir sahen deren, denen man snr diese einzige Nacht ein Bette lieh. Jndeß, warum seilten sie sich Sorge machen ui» ihre Armulh? Fühlen sic nicht auch jene Lebcns- wärme, welche die Kraft giebt, Alles zu wagen, und pertrauen sie nicht außerdem auf denjenigen, der die Bögel im Walde ernährt? Wenn der Mensch auf Alles.bedacht sepn wollte, wozu wäre die göttliche Vorsehung da? — Und die Müdlhäligkeil ihrer Brüder, ist sie nicht unerschöpflich? — Die armen Brautleute gehen mit einan der zu allen Familien der Gegend und laden sie zur Hochzeit. Alle kommen, denn sie wissen, daß sie ein gutes Wert lhun. Sie brin gen dem jungen Paare einige Feldsrüchte, Leinen, Honig und selbst Geld mit. Zuweilen vereinigen sich so an dreihundert Gaste, und ihre Geschenke setzen die Neuvermählten in den Stand, ihren Haus halt anzusangcn; denn sie bringen auf diese Art oft mehrere hun dert Francs zusammen und können so ihr bescheidenes Plätzchen in der Gesellschaft einuehmcn. Tausend andere Gebräuche, die unseren Sitten eben so fremd sind, haben sich im Leonnestschen erhallen. Wenn eine Frau Mut ter wird, so schickt sie allen schwangeren Frauen in der Nachbar schaft Weißbrod und heißen Wein. Dies dient zugleich als Anzeige ihrer Niederkunft und als Anwünschung einer gleich glücklichen.Ent bindung. Es ist ein Licbesmahl, welches die junge Mutier mit de nen hält, die diesem süßen Namen noch cnlgcgcnsrhcn. Eine Nie derkunft ist übrigens ein religiöses und feierliches Ereigniß, welches tausend merkwürdige und interessante Züge berbeifühn. Die Wöch nerin ist von allen jungen Müttern aus der Nachbarschaft umgeben, itnd Jede erbittet cs sich als eine Gunst, dem Neugebornen die Ernst reichen zu dürfen; denn ein ncugebornes Kind ist in ihren Augen eine Seele, die eben vom Himmel kommt; cs hat etwas Heiliges; seine unschuldigen Lippen geben der Brust, die sie zuerst berühren, eine heilige Weibe, und sein erstes Lächeln bringt Glück. Dieser Glaube ist so fest bei ihnen, daß der Säugling von einer Hand in die andere geht und nicht eher zur Wöchnerin zurückkchrt, als bis er eben so viele Mütter gesunden Hal, als junge Frauen da sind. Hat cr das Unglück, seine wahre Mutter durch den Tod zu verlie ren, so fürchtet nur nicht, daß cs ihm an eincr Stütze fcblc. Der Pfarrer des Kirchspiels tritt an die Wiege, welche die jungen Müt ter schweigend umgeben. Er nimmt das Kind, sucht unter den Frauen ricjenlgc aus, die ihm eines so kostbaren Pfandes am würdigsten scheint, und reicht cs ihr mit den Worten: „Nehmt hin, Gott schenkt Luch dieses Kind." — „Großen Dank," sagt die arme Frau, und geht mit dem Kiitdc, stolz und beglückt durch den Vorzug, von dan nen. Mitunter indessen, wenn die Nachbarinnen der Verstorbenen gar zu arm sind, als daß Eine allein Las Kind übernehmen könnte, behalten sie es als gemeinschaftliches Eigenlhum. Eine von ihnen nimmt es zu sich, aber Jede von den anderen hat ihre gewisse Stunde, in der sic cs wartet und ibm die Brust reicht. Wir haben solche Frauen gesehen, welche in der Nacht aufstanden und ziemlich weil gingen, um die übernommene Multcrpflichl zu üben, und nie honen wir eine Klage. Oft dachten wir beim Anblick dieses rührenden Wetteifers an die Veränderungen, welche der Lauf der Zeiten herbeiführcn wird: „Ja auch dieses Land wird alle die Phasen menschlichen Geschicks durchlaufen, die wir bereits zurückgelcgt haben. Einst werden unsere Enkel an dieser Stelle jene Scenen gemeinschaftlicher Freuden und Leiden von dem Schauspiele der Philanthropie, welche die ch rist l i ch c Liebe vorschreibt, verdrängt sehen. Einst wird das Lronntsischc Volk, während man den Worten: „Liebt Euch einander!" eine andere Deutung giebt, in seiner Muthlosigkeit eben so sagen, wie heutzu tage das Volk im übrigen Frankreich: „Mögen unsere Kinder und unsere Armen umkommcn, wenn diejenigen, die unsere Arbeit berei chert, uns nicht Helsen wollen, sie zu ernähren", und dic Neichen, von Mitleid oder auch wobl von Schrecken ergriffen, werden sagen: „Wir müssen doch wohl die Kinder dieser armen Leute auszichcn, denn wir können sie doch in der Tbat nicht aus rmscrer Schwelle umkommen lassen. Wik wollen diesen Armen, die sich einandcr im Stiche lassen, woblthälige Anstalten eröffnen, denn ihre Blässe ist zum Erschrecken und unsere Gefängnisse sind voll. Ich sehe im Geiste, in einer Lcvnncsischcn Stadt, ein Findelhaus, mit großen Kosten erbaut. An dem Thore ist ein Kasten mit einem Klingelzug angebracht. Mehr als eine Mittler, die Frucht ihres Schoßes un ter doppelter Hülle sorgfältig verbergend, schleicht vor diesem .Lause vorbei und blickt verstohlen nach dem Kasten und der Klingelschnur. Sie ist bereits wieder in ihre dunkle Hütte zurllckgckcbrt, und noch schweben sie ihr vor Augen. Sic Hai einen furchtbaren Kamps zu bestehen; aber nachdem sie, ibrcn Angstrus erstickend, bedacht ha«, daß schon lange Niemand mehr das Bette der armen Wöchnerin besucht, daß man nicht mehr glaubt, da« Ncugeborne seh ei» Engc- lcin aus den Schaaren Jesu, das vom Himmel bcrabgckommcn, baß der Winter streng und der Tagclobn kärglich ist, daß jede arme Mut ter genug mit sich selbst zu lhun hat, trocknet sic ihre Augen, waff- net sich mir entsetzlicher Resignation und trägt schnell das lhcurc Wesen hin und legt es i» die öffentliche Krippe, die entweder seine Wiege oder sein Sarg werden soll; dann, konvulsivisch an der Klin gel ziehend und erschreckt von dem schauerlichen Klange dcr Glocke, sticht sie davon. Sie hat ihrem Kinde dic erste und letzte Mutier pflicht erwiesen. Auch in der Nicdcr-Brelagnc werden die Weisen dar- tbun, wie gefährlich die Mildthäligkeit seh, dic der Bettelei Vorschub leistet. Man wird den Bettler mit Verachtung abweisen. Dic Mildthätigkeit wird aushörcn, eine persönliche Tugend zu sehn, man wird sic, wie anderwärts, provsiorisch zur administrcuivcn Maaßregcl erbeben. Man wird Königliche Wohlchätigkcits-Bureaus errichten, mit ihren Präsidenten, ihren Berathschlagungs-Protokollen, ihren ge- truülku Karlen. Mbrechlichlcit und Aller werden sorgfältig ins Register cmgelragen, Leide» und Schmerz werden in Klaffe» gebracht. Wer nicht gebrechlich genug ist, oder ein Jabr jünger, als das Regle ment verschreibt, wird nicht cnigeschricben^ man weist ihm dic Thure. Dem privilegirten Armen macht man seinen Hund, scincn Pfcifen- stummel und selbst seine eigene milde Gäbe zum Vorwurf, wcnn er, vom Andenken dcr Väter ergriffen, dem Eicndcii, der vorübcrgcht, von seinem Stück Brod etwas mitthcilt. Glücklich genug, wenn zu weilen, statt der Inquisition mildthäliger Kommissarien, Damen in seine Hütte treten, dic mit ihren guien Werken wenigstens eben so gern prunken, als mit ihren Ballkleidern. Ja, Ihr guten Leonne- sen, Ihr werdet durch diese Prüfungen gehe». Und dann? — O, dann! dann werdet Ihr in dcr Hoffnung leben, wie wir, die wir schon diese Zukunft erreicht haben, und sie doch nicht mit Eurer Ge genwart verrauschen möchten." Wenn Du durch das Leonncsischc. wanderst, und Kälte oder Hunger Dich überfällt, so nähere Dich ohne Furcht dcr armen Hütte; lasse Deinen Wanderstab an dcr Thür und setze Dich uni Essens zeit mit der Familie zn Tische. Dic Armen sind „die Gäste Gol les", nie scheuch! sic eine rauhe Summe von dcr Schwelle zurück; auch bleiben sic nicht furchtsam an dcr Thüre siche», sie trete» vertrauens voll mit dein Spruche ein: „Golt segne Alle, dic hicr sind." — „Euch auch", antwortet dcr Herr vom Hause und weist dem Ankömmling rinen Platz am Heerde an. Der zerlumpte Gast setzt sich nieder, das Feuer wird angeschiirt, und man nimmt ihm scincn Ocuersack ab, dc» cr dciiw Fortgehen woblgcsüllt wieder erhält, und nun beginnt cr, zum Dank für dic erhaltene Gastfreundschaft, seinem Wirthc jzu erzählen, was cr aus seinen Wandcrungcn Neues crsahrcn hat. Er sagt ihm, daß der oder jener Pfarrer krank ist; daß das Korn ans diesem Felde besser steht, als aus cinem andere»; was die Leinwand auf dem letzten Markt zu Landernau gegolten Hai. Mitunter weiß cr ihm auch ci» nützlichcs Heilmittel zu cmpschlc». Er sagt ihm, wer schlimme Auge» habe, müsse nach St. Jean du Doigt pilgern. Hat cr Gichtschmcrzcn, so räth cr ibm, sich unter de» Brunnen des heiligen Lorenz zu setzen. Dc» hciralhslustigen Mädchen nennt er dic Brunnen, in welche sie eine Slccknadcl aus ihrem Brustlatz wcr- sc,i mußte»; wen» diese mit der Spitze zu Grunde fällt, so hciraihcn sie noch i» dcmselbcii Jahre. Ec erzählt, wie viel junge Mädchen am letzte» Michaclistagc aus der Brücke vo» Pinzö gesessen, und wie viel junge Männer sich auf diesem Weibcrmarktc ihre Frauen ausgesucht habe». Er singt auch wohl dic lctzlcn Lieder, dic aus dcn Schiffbruch der acht Zöllner bei Kerlaudc oder auf dc» ermor deten Müller von Ponton gcmacht worden sind, denn dcr Nicder- Brciagnischc Bettler ist zu gleicher Zeit der Barde, der Ncuigkeits- tramcr und der reisende Kausmann dieses patriarchalischen Völkchens. Vor kurzen, thciltc cr noch mit dem Dorsschneidcr, dcr auch eine Art von wandcrndcm Erzähler ist, das Geschäft der Frciwcrberci. Der Bcttlcc wciß auch am beste» jene Zaubcrgeschichlcn, die der Lcon- nese in dcn langcn Winterabenden an scincn, großcn Heerde so gern hört. Emr dieser Wundcr-Gcschichmi, welche wir ei,ist mit anhöncn, als dic Jagd und das schlechte Wetter uiks in eine» Lcomicsischen Me,erbos geführt hallen, machte einen besonderen Eindruck aus uns. Wir wollen sie hier, ohne Zusatz und ohne Abkürzung, wiedcrgcbcn, nur Schade, daß jene wilde Energie dcr Bretagnischcn Sprache, dio rauhe und scharfe Betonung des Bettlers und besonders das Schauerliche, welches dcr halbdimklc Schcin dcs Kaminseucrs, dir Eruppcn äiigstlichcr Kinder und Franc» und dic feierliche Stimme dcs zerlumpte,, Erzählers dem Ganze» lieb, währc»d drauße» der Sturm wbic, dic Blitze durch dic Spälten dcr an mehrere» Stelle» geborstene» Wände leuchtete» und die Dachsparren im Winde krach- ic», beim Ucbcrsctzc,, und Nacherzählen verloren gehen. Eingang. ,.s» »ninino ziatcis et lilii ,-t «zncilns sancti." „Ich bitte Gott Vater, seinen Sohn Zcsnm Christum und den heiligen Geist, mir die Gabe dcr Uebrrredung zu verleihen, damit Ihr,' junge Leute, aus dcr wahren Erzählung, die ihr hören sollt, Nutzen sichen möget. Nehmt sie wohl zn Herzen, denn durch eine gute Ermncrlmg kann man zuweilen seine Seele retten. Amen." Das Leichentuch, eine Erzählung. „ES war einmal in PloucScat ein junges Mädchen, Namens Rosa-le-Für, schön wie der junge Tag und so geschcidt wie ein Fräulein, das eben ans dem Kloster kommt. Aber schlcchtcr Ralh hatte sie verführt. Rosa war leichtsinnig wie Hafcrstrob geworden uiid flatterte, vom Winde Les Vergnügens fortgcwcht, überall um her. Sie dachte an nichts, als a» dic Schmeicheleien der jungen Burschen und an schönen Putz, um Andercii Hcrzweh zu machen. Man sah sie weder in der Kirche noch im Beichtstuhl, und während dcr Vesper schlenderte sie mit ihrem Liebhaber umher; ja sogar am Allerheiligen - Tage hatte sic das Grab ihrer Mittler nicht besucht, nm darauf zu beten." „Gott straft die bösen Kinder; höret die Geschichte Rosas!" „Eines Abends, schon sehr spät, machte sic einen weite» Weg, um ei» Kränzchen zu besuchen, wo inan an dem Heerde saß und Lieder sang. Sie kcbrlc allein zurück und summlc ein Liedchen, wel ches sie von einem jungen Mamie aus Roseou gelernt hatte. Sie kam an den Kirchhof und hüpfte dic Slnsc» hinan, so munter wie cm Vogel im Mai. Als sic gerade hinaussticg, schlug cs zwölf; aber das junge Mädchen dachte nur an den hübschen Burschen, dcr sie das Liedchen gelehrt halte. Sie schlug kein Kreuz und lhat kein Gebet fü- diejenigen, Lie hier ruhlcn, sondern schritt, keck wie eine Ungläubige, über dcn heilige» Orr. Scho» war sie dcr Kirchtbüre gegenüber, als sie umbrrsab »»d bemerkte, daß auf jedem Grabe rin weiße« Tuch lag, welches an dcn Zipfeln von vier schwarzen Steinen