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92 Ein Kommentar zu Goethe's Faust. „Das übermannet mich so sehr, Daß, wo er nur mag zu unS treten, Mein' ich sogar, ich liebte dich nicht mehr. Auch wenn er da ist, könnt' ich nimmer beten, Und das frißt mir inS Herz hinein, Dir, Heinrich, muß es auch so sein." FaustS lahme und halb humoristische Einwendungen: „Es muß auch solche Käuze geben," und: „Du hast nun die Antipathie," tragen das Gepräge ihrer Unaufrichtigleit auf ihrer Stirne, und verrathen überdies sein inneres Un behagen. Er vermag sich nicht deutlich zu erklären und ist daher nur ängstlich bemüht, den Standpunkt des Ge sprächs zu verrücken. Dieses schlichte ungeschulte Mädchen, welches ungrammatikalisch spricht und den Geliebten bittet ihre Hand nicht zu küssen, weil sie „so garstig, so rauh" sei, ist mit den zartesten geistigen Sinnen ausgestattet, welche eS in den Stand setzen, instinktmäßig die moralische At mosphäre jedes Mannes zu fühlen, der sich ihm naht. So ist sie schon damals, als Faust und Mephistopheles zum ersten Male in ihrer Abwesenheit ihr Stübchen be treten haben, bei ihrer Rückkehr sich unmittelbar irgend eines fremden, ihr nicht verwandten Einflusses bewußt. Eine unbeschreibliche plötzliche Angst überkommt sie, sie öffnet das Fenster: — „ES ist so schwül, so dumpfig hi«, Und ist doch eben so warm nicht drauß'. Es wird mir so, ich weiß nicht wie — Ich wollt', die Mutter kam' nach Haus, Mir stillst ein Schauer llborn Leib — Bin doch ein thöricht surchtsam Weibl Jeder sensitiv organistrte Mann oder Frau wird wissen, was es um derartige unwillkürliche Abneigungen ist; und Goethe, dessen Wahrnehmungsvermögen ein ausnehmend zartes war, ging sogar so weit, daß er an „das Borhan- densein einer geistigen nur» (Ausdünstung) glaubte, durch