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MOW der ReilhsregiMg W Oll MMmg. Berlin, 14. Juni. Anläßlich der Verkündung der ersten Notverordnung erläßt die Reichsregierung folgenden Auf ruf: Die Reichsregierung hat bei ihrem Amtsantritt den Willen bekundet, die soziale, finanzielle und wirtschaftliche Not Deutschlands durch organische, neuaufbauends Maß nahmen ,zu bekämpfen. Die Bilanz, die die Regierung vorgefunden hat, zwingt sie, als ersten Schritt vor der Inangriffnahme ihres eigent- lichen-Programms die Kassenlage von Reich, Ländern und Gemeinden vorläufig zu sichern und die Sozialversicherung vor dem tatsächlich drohenden Zusammenbruch zu retten. Werden diese notwendigen und unaufschiebbaren Voraus setzungen nicht erfüllt, so sind alle weiteren Maßregeln von Anfang an in Frage gestellt. Für die ersten Notmahnahmen hat die Regierung an Vorbereitungen anknüpfen müssen, die schon das vorige Kabinett getroffen hatte. Da diese Mahnahmen jedoch nicht ausreichten, um Kassen und Finanzen zu sichern, ist die Reichsregierung genötigt, über sie hinauszugehen. Es sind infolgedessen weitere Abstriche am Reichshaushalt, sowie an allen Ausgaben der öffentlichen Hand beschlossen wor den. Es muß von der Ausgabenseite her versucht werden, eine Gesundung der Kassen- und Finanzlage herbeizuführen. Denn die Erfahrungen der letzten Monate haben gezeigt, daß Steuererhöhungen nicht mehr zu einer Verbesserung, sondern nur noch zu einer Verschlechterung der Einnahmen führen. Es bleibt also eine der wichtigsten Aufgaben, den ge samten Berwaltungsapparat Deutschlands weiter zu verbilligen. Das bringt zwangsläufig auch scharfe Einschrän kungen auf dem Gebiete der Sozialver sicherungen mit, deren Existenz jetzt auf dem Spiele steht.. Es ist eine schicksalhafte Entwicklung, daß es heute nach einem halben Jahrhundert des Bestehens der Sozialgesetz gebung nicht mehr um die Höhe der Leistungen geht, son dern umihreErhaltungüberhaupt. Die Reichs regierung, deren soziale Gesinnung in der von ihr vertre tenen Weltanschauung begründet ist, würdigt in ihrer gan zen entscheidenden Bedeutung die mit der Schöpfung des ersten Kanzlers des Deutschen Reiches begonnenen sozialen Einrichtungen, zu deren Erhaltung in dieser Stunde äußer ster Not an das Gemeinschaftsgefühl aller Deutschen neue harte Anforderungen gestellt werden müssen. Wenn die Reichsregierung heute zunächst den dringend sten Erfordernissen der Stunde nachkommt, so betont sie be sonders, daß sie nicht die Absicht hat, den Weg der Erschließung neuer Einnahmequellen in Zukunft weiter zu beschreiten. Ihr Ziel ist, die deutsche Wirtschaft vernunftgemäß unter Ausschaltung künstlischer Experimente neu zu befruchten. Sie wird deshalb mit den auswärtigen Regierungen nach einer Lösung der Weltwirtschaftskrise suchen. Darüber hin aus hält es die Neichsregierung angesichts der ungeheuren Wirtschaftsnot für ihre unabstreitbare Pflicht, die Wirt schaftsenergien des eigenen Landes zu mobilisieren und in erhöhtem Maße für die Verwertung der brachliegenden Arbeitskräfte nutzbar zu machen. Die Regierung wird alles daransetzen, um neben der Pflege des Güteraustausches der Länder untereinander durch eine zielbewußte Bin nenmarktpolitik, insbesondere unter Zuhilfe nahme des Arbeitsdienstes, durch geeignete Maßnahmen auf dem Gebietder Siedlung und der bäuerlichen Veredelungswirtschaft die deutsche Wirtschaft einer allmählichen Gesundung entgegenzuführen. Der Wille des deutschen Volkes, von der Geißel der Arbeitslosigkeit erlöst zu werden, und der Hoffnung der jungen Generation, neue Grundlagen zu finden, werden von der Regierung als eine für die Zukunft der Station entscheidende Ausgabe mit allen Mitteln unterstützt wer den. Der Inhalt -er Verordnung. Berlin, 14. Juni. Die neue Notverordnung enthält im wesentlichen folgende Bestimmungen: 1. Eine Kürzung der Renten aus der Invaliden--, An gestellten- und Knappschastspensionsversicherung, der Wit wen- und Waisenrenten. 2. Die Einführung einer Gesamthaftung der Jnvali- denversicherungsträger gegenüber der Reichspost sowie der Länder gegenüber der landwirtschaftlichen Unfallversiche rung. 3. Eine Ermächtigung an die Reichsregierung, durch besondere Maßnahmen, Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit, Vereinfachung und Verbilligung in der Sozialversicherung zu erzielen. Auf Grund dieser Ermächtigung wird in den nächsten Tagen eine Ausführungsverordnung ergehen, die die angekündigten Kürzungen der Bezüge aus der Arbeits losenversicherung und der Krisenfürsorge und der Erwerbs- loienfürsorge enthält. 4. Eine Kürzung der kinderlosen Leichtbeschädigten so wie Einstellung der Kinderzulagen und Waisenrenten nach Vollendung des 15. Lebensjahres. 5. Einen neuen Plan für die Arbeitslosenhilfe. Der Gesamtzuschutz für die Gemeinden wird auf 872 Millionen beschränkt. Ferner wird die Wohlfahrtshilfe des Reiches für. die Gemeinden neu geregelt, unter anderem durch Neu regelung des Begriffes der Wohlfahrtserwerbslosen und durch Einführung einer Art Haushaltszwanges für die Ge meinden. Die Gemeinden sollen die Wohlfahrtshilfe von einem bestimmten Stichtag ab nur erhalten, wenn sie be stimmten in der Notverordnung ausgefllhrten haushalts rechtlichen Bestimmungen entsprochen haben. Um das zu ermöglichen, wird eine Aenderung des Finanzausgleichs zu ungunsten der Gemeinden durch die Länder verboten. End lich wird hier die Schlüsselung der Wohlsahrtshilse für die Gemeinden neu geregelt. 6. Es wird eine Abgabe zur Arbeitslosenhilfe ab I.Juli eingesührt, die 114 v. H. für alle Lohn- und Gehaltsemp fänger beträgt. Die Abgabe steigert sich bei den höheren Einkommen bis auf 6,5 v. H. Dafür fällt die Krisenlohn steuer fort. 7. Bei der Umsatzsteuer fällt die Freigrenze, die bis jetzt 5000 RM. betrügt, fort. 8. Es wird eine Salzsteuer von 12 Pfg. pro Kilo ein geführt. Die Krisensteuer von den Veranlagten wird je doch noch einmal im Januar 1933 erhoben. 9 Die Höhe der Aufbringungsumlage der Industrie- firmen wird für 1932 auf die Hälfte herabgesetzt. 10. Die Kirchensteuer wird unbeschränkt pfändbar ge macht. 11. In der Frage der Arbeitsbeschaffung werden Er mächtigungen für Förderung des Straßenbaues, des Was serbaues und landwirtschaftliche Bodenverbesserungen ge geben. Der freiwillige Arbeitsdienst soll ausgebaut wer den. Für Darlehen, die für Jnstandsetzungsarbeiten an Wohnungen und die Teilung von Wohnungen bestimmt sind, werden Zuschüsse gegeben sowie Zinsbürgschaften. 12. Ferner wird eine ganze Reihe von Maßnahmen auf dem Gebiete der Justiz und der Verwaltung vorgesehen, die eine Verbilligung des Verfahrens darstellen. Außerdem wird eine Reihe von Maßnahmen über die Verlängerung der Schutzmaßnahmen bezüglich der Zwangsvollstreckung ge troffen. Kane WjjMmg der BilWstem. Berlin, 14. Juni. Wie von zuständiger Stelle mit geteilt wird, wird die Bürger st euer, deren letzte Rate Ende Juni fällig ist, nicht verlängert. Die Gemein den hatten die Reichsregierung um die Ermächtigung ge beten, die Viirgersteuer in der bisherigen Form weitere sechs Monate lang zu erheben. Die Reichsregierung hat sich jedoch aus den Standpunkt gestellt, daß die Gemeinden durch den ihnen gemäß der nuen Notverordnung vom Reich zu- flietzenden Betrag von 670 Millionen Mark statt 236 Mil lionen Mark im Vorjahre in ihren Wohlsahrtsleistungen eine derartige Entlastung erfahren, daß sie ohne Bürger steuer auskommen müssen. Die Notverordnung unterzeichnet. Berlin, 14. Juni. Der Reichspräsident von Hin denburg hat am Dienstag nachmittag die erste Not verordnung der Regierung von Papen unterzeichnet. Veröffentlichung der politischen Not verordnung erst am Donnerstag. Wie. von zuständiger Stelle mitgeteilt wird, wird die politische Notverordnung Uber Aufhebung des SA.-Ver- bots, Neuregelung der llniformfrage usw. erst am Donners tag herausgebracht werden können, da es infolge von Arbeitsüberlastung nicht möglich war, diese zweite Not verordnung früher fertigzustellen. Neichsgesetzblatt bringt Abdruck der beiden Notver ordnungen. Berlin, 15. Juni. Das Reichsgesetzblatt Nr. 35 vom 15. Juni bringt die beiden Verordnungen des Reichspräsidenten über Arbeitslosenhilfe usw. und über die Maßnahmen auf dem Gebiete der Rechtspflege und Verwaltung. Der Deutsche Stadtetag und der Neichsstädtetag zur neuen Notverordnung. Berlin, 15. Juni. Der Deutsche Städtetag weist im Hinblick auf die neue Notverordnung darauf hin, daß der Fehlbetrag der deutschen Stäbte- haushalte für das Jahr 1933 die Summe von 750 Millionen Reichsmark erreichen würde. Die Erhöhung der Reichshilfe von 230 Millionen auf 680 Mil lionen, also um 450 Millionen, bringe zwar eine fühlbare Erleichterung, jedoch verblieben von dem genannten Fehl betrag immer noch 300 Millionen Reichs mark, die durch Einsparungen an den Ausgaben nicht aufgebracht werden könnten. Auch die Erhöhung der Ein nahmen sei durch die Realsteuersperre nur in beschränktem Matze möglich, so datz auf die Bürger st euer wohl nicht verzichtet, werden könne. * Wahl des preußischen Ministerpräsidenten am 22. Juni. Berlin, 15. Juni. Der Aeltestenrat des preußischen Landtages beschloß heute vor Beginn der Vollsitzung, die Aussprache über die Anträge auf Aufhebung der preußischen Notverordnung und über die nationalsozialistischen Am- nestiegesetzentwürfe am Donnerstag nachmittag zu Ende zu führen und im Anschluß daran die Abstimmung vorzu nehmen. An der Aussprache über die Notverordnung wird sich auch der geschäftsführende Finanzminister Klepper be teiligen. Im übrigen wurde beschlossen, datz der Landtag zum s Mittwoch, dem 22. Juni, wieder einberufen werden soll zur ! Vornahme der Wahl des Ministerpräsidenten. Verhand lungen zwischen den Nationalsozialisten und dem Zentrum haben in dieser Frage auch jetzt noch nicht stattgefunden. MWnlM des mm RWMilSMWs. Berlin, 14. Juni. Zu der bereits angekündigten Rund funkrede des neuen Reichsarbeitsministers teilt der Dra- dag mit: In der für die Reichsregierung vorbehalteneu Rundfunkstunde spricht am Mittwoch um 19 Uhr Reichs innenminister Frhr. v. Gayl einführende Worte, wor auf Arbeitsminister Hugo Schäffer über den sozial politischen Inhalt der neuen Notverordnung sprechen wird- Beide Gespräche werden von sämtlichen deutschen Rund funk-Gesellschaften übertragen. UI—/ »»»m« mi»» ii — . — W UMW des MWis iM die MWß Meie» siir WWiMM. Berlin, 15. Juni. Der Erlaß des Reich sinneii- ministers v. Gayl über den Gebrauch des Rundfunks durch die politischen Parteien wird im Lause des heutigen Tages veröffentlicht. Er sieht eine Regelung für die letzte Woche vor den Wahlen vor. SämtlW Reichstagsparteien, von den Nationalsozialisten bis zu Len Sozialdemokraten, dürfen in der letzten Wahlwoche de» 7j- (Nachdruck verboten.) Sein ungläubiger Blick nötigt ihr ein Lächeln ab. „Ich werde morgen vormittag Erkundigungen ein ziehen, wieviel so eine Reise nach Kanada kostet. Ich habe einige Ersparnisse gemacht, ich besitze vielleicht auch ein wenig Kredit/ Ein Zucken läuft über das Gesicht des Mannes. Mein, Fräulein Liane/ Niemals, niemals." „Es gibt einen anderen Weg. Denken Sie sich, Sie sind auf einer eiixsamen Insel. Wollen Sie das Schiff davonfahren lassen, das Sie retten könnte?" Sie steht neben ihm und streicht in scheuer Liebkosung über seine Schulter. Wellenkamp greift nach ihrer Hand und hält sie fest. „Sie sind ein Rätsel, kleine Liane. Warum tun Sie mir: das alles? Warum nehmen Sie so vieles auf sich, um mich zu retten?" Sie sieht ihn nicht an. „Ich mutz Sie retten," flüstert sie mit zitternden Lippen. „Es ist mein Schicksal, daß Sie vor meine Tür geschleudert wurden." Etwa eine Viertelstunde nach Einbruch der Dunkel heit treten ein Mann und ein junges Mädchen aus einer Haustür. Sie flüstern miteinander und gehen Arm in Arm wie ein Liebespaar. Das Mädchen trägt einen nicht mehr ganz modernen, dunkelblauen Mantel. Ein schlichtes, schwarzes Bäskenmützchen ist tief in ihre Stirn gezogen. ^Der Mann hält in der Linken einen Geigenkasten m^d scheint ein Musiker zu sein. Er hinkt ein wenig, und da?'Mädchen muß ihn beim Gehen stützen. Der Polizei beamte, der die Straße noch immer beobachtet, steht, daß der Mann ziemlich langes, schwarzes Haar hat, das in straffen Strähnen über den Mantelkragen fällt. Die Gläser einer schwarzgeränderten Brille funkeln unter dem breiten Schlapphut. Der Beatnte' weiß, daß in dem Hause Nr. 22 der kriegsbeschädigte Geiger Bernhard Weinholt wohnt und polizeilich gemeldet ist. Er läßt das Pärchen vorbeigehen, ohne im mindesten Verdacht zu schöpfen Das junge Mädchen im blauen Mantel kehrt nach anderthalb Stunden zurück. Es halt ein verschnürtes Paket im Arm, an dem es ziemlich schwer zu tragen scheint. Der Beamte von vorhin ist inzwischen abgelöst worden. Liane Deventer stößt im Hausflur auf einen unter setzten, breitschultrigen Mann, der wie ein Polizist in Zivil aussieht und sie unangenehm scharf fixiert. Sie er blaßt und fährt zusammen. Der Mann geht ohne Gruß an ihr vorüber. Er verläßt das Haus jedoch nicht, wie Er bleibt im Flur stehen und zählt die Stufen, die Liane zurücklegt. es ursprünglich seine Absicht gewesen ist. Er bleibt im Flur stehen, zählt die Stufen, die Liane zurücklegt. „Dritter Stock," flüstert er halblaut vor sich hin, als er ihren Schlüssel im Schloß schnappen hört. „Dritter Stock links." Erst jetzt tritt er auf die Straße, wartet, bis er im dritten Stock zwei Fenster hell erleuchtet sieht. Gleich darauf erhellen sich zwei weitere Fenster. Ein schmaler Schatten huscht aufgeregt hin und her. Nach einer Weile erlischt das Licht der beiden rechts gelegenen Fenster. Nun scheint auch der Schatten endlich zur Ruhe gekommen zu sein. Der Mann geht mit schweren Schritten vor dem Hause auf und nieder. Es ereignet sich nichts, oas die Bezeich nung des Außergewöhnlichen verdiente. TaS einzige wäre wohl, daß gegen 9 Uhr eine beleibte, etwa fünfzigjährige Frau und ein junger, schwarzhaariger Mensch auf die Haustür zusteuern. Die beiden Fenster rechts erhellen sich zum zweite» Male. „Sie war also allein in der Wohnung," denkt der Be obachter auf der Straße, während oben Frau Weinholt Liane Deventer von einem mißglückten Ausflug und einet» umgekniäten Fuß erzählt, der schuld daran war, daß für die Heimfahrt schon der frühere Zug benutzt werde» mußte. Liane steht in der Weinholtschen Wohnstube. Etwas in ihr zittert unaufhörlich, obwohl nicht der geringste Grund dafür vorhanden ist. Alle Sachen sind wieder an ihrem Platze; der Schrank ist abgeschlossen; der Schlüssel hängt am Schlüsselbrett. „Sie sind ja so blaß, Fräulein Liane," sagt die dicke, gutmütige Frau Weinholt. „Was haben Sie denn an- gestellt? Haben Sie den ganzen Tag hier oben in Ihrer Stube gehockt?" „Nein, ich bin ein Stündchen spazieren gewesen. Ich hatte Kopfschmerzen. Vielleicht habe ich mich erkältet- Mir ist auch jetzt noch nicht ganz gut." Liane spricht hastig und nervös. Bernhard WeiNholl hat den Kops erhoben und sieht sie an. Er sagt kein Wort, aber er schein« dem nachschwingenden Klang ihrer Stimme zu lauschen. Er hat ein weißes, durchsichtiges Gesicht seine Augen sind ganz dunkel. Es steht aus einmal ei» ganz sonderbares Grübeln in diesen Augen „Sie ist heute anders als sonst," sag« Bernhard Wein- Holt leise, nachdem die Tür sich hinter Liane geschlossen hat. „Vielleicht ist sie wirklich krank." Er steh« schwerfällig aus; er gehl langsam u»v schleifend durch den Korridor; er zögert dabei und streicht noch einmal leise und zärtlich über die weiße Tür, die Lianes Ziminer verschließt. (Fortsetzung folgt.)