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Der Reichstag aufgelöst! Schicksalswende -es Parlamentarismus. — Trostlose Finanzlage. Berlin, 18. Juli. Im Reichstage wurde heute über den sozialdemokra tischen Antrag aus Aushebung der Notverordnungen entschieden. Die Absicht der Regierungsparteien, zuerst über die Mißtrauensanträge zu entscheiden, scheiterte daran, daß, nachdem mit Hilfe der Deutschnationalen ein entsprechender Beschluß zustandegekommen war, die Mißtrauensanträge der Linken aus taktischen Gründen zurückgezogen wurden. Für den Aushebungsantrag stimmten Sozialdemokraten, Kommunisten, Na tionalsozialisten und der größte Teil der Deutschnationalen. Die Abstimmung hatte folgendes Ergebnis: Der Aufhebungsantrag wurde mit 236 gegen 221 Stimmen angenommen. Reichskanzler Brüning gab darauf die Erklärung ab, daß der Reichstag damit aufgelöst sei. Die Neuwahlen zum Reichstag finden voraussichtlich am 14. September statt. Vergebliche Redeschlachten im Reichstag. Wir sind jetzt an einem kritischen Punkt an gekommen. Es ist der Kampf um die Sozialversicherung. Finanziell geht es dann nicht mehr höher. Einschränkung ist notwen dig. In diesem Augenblick müssen wir endlich han deln. Man macht uns den Vorwurf, das; wir diese Steuerfragen mit dem Artikel 48 erledigen. Wer aber das Chaos im Steuerausschutz mit erlebt hat, der wird uns das nicht übelnehmen. Die Sozialdemokraten sollten im übrigen einmal daran denken, was seit zehn Zähren in Preutzen alles auf Grund des Artikels 55 der preutzischen Verfassung geschieht. Die Schwierigkeiten wachsen. Das Volk wird nachher nicht fragen, warum sie entstanden sind, sondern warum sie nicht beseitigt worden sind. Es wird sich ans Sie Seite derjenigen stellen, die sie beseitigen. Die Zahl derer, die die Politik des Reichstages nicht mehr ver stehen, wächst. Ein Volk, das Milliarde n- werte für Tabak und Vier ausgibt, wird auch dies es Loch im Etat noch stopfen kön nen. Es mutz Schlutz gemacht werden mit der Znteressenpolitik, um Staatspoli tik z u t r ei b e n. Der Präsident eröffnete die heutige Sitzung des Reichstages um 10 Uhr. Haus und Tribünen waren stark besetzt. Am Regierungstisch hatten Reichskanzler Dr. Vrüning und die übrigen Minister Platz genom men. Ueber dem ganzen Hause lag eine grotzeSpan- n u n g. Auf der Tagesordnung stand als erster Punkt die Beratung der Anträge der Sozialdemo - kraten und Kommunisten aufAufhebung der Notverordnungen. Verbunden damit sind die M i tz t r a u c n s a n t r ä g e der glei ¬ chen Parteien. Abg. Landsberg (Soz.) begründete die sozial demokratischen Aufhebungsanträge. Er betonte die Un möglichkeit und Unzulässigkeit dieser Notverordnungen. Ich fürchte mich beinahe, so fuhr er fort, einem einzigen von ihnen die gegenteilige Ueber,zcugung zuzutrauen. Zn juristischen Darlegungen suchte der Redner nachzu weisen, datz A r t i k e l 4 8 n i e m a l s z u r B e g r ü n- vung solcher Verordnungen herangezogen werden könne, wie sie das Kabinett Brüning erlassen habe. Er warf die Frage auf, ob die Wünsche der Deut schen Volkspartei und der Demokraten wirklich so wich tig seien, datz durch ihre Nichterfüllung Ordnung und Sicherheit gefährdet wären. Man könne zwar die Hal tung der Deutschen Volkspartei verstehen, die die Ver süssung abgelehnt habe, aber nicht den Freibrief, den Zentrum und Demokraten als Mitschöpfer der Verfas sung dein Reichskanzler für sein Vorgehen ausgestellt haben. Inzwischen war ein Antrag der Wirt schaftspakte; eingegangen, die Notverord nung über die Schankverzehrsteuer auf - zuhebe n. Reichsinnenminister Dr. Wirth, der nun das Wort nahm, wurde von der Linken mit Zurufen empfangen: „Der Feind steht rechts! — wo steht der Feind? Ein feiner Neichsbanncrkamerad!" Der Minister erklärte, datz er mit dem Abg. Landsberg die Schwere dieser Stunde fühle. Er könne sich aber nicht des Eindrucks erwehren, datz, wenn heute die Sozial demokraten noch in der Regierung wären, Landsberg seine Mahnungen auch an seine Freunde hätte richten müssen. Die Frage einer solchen Notverordnung habe auch das vorige Kabinett mehr als einmal beschäftigt. Die finanzielle Entwicklung sei nach menschlichem Ermessen derart, datz derdemNeichstagvorliegendeHa us- ha ltpl an nach seiner A u s g a b e n sc i t e wahrscheinlkchvomSpätjahrannicht mehr durchführbar i st. Wenn wir uns darüber hinaus in einer Weltwirtschafts krise befinden, so werden uns dadurch Verpflichtungen auferlegt, die man bisher in Deutschland nicht für mög lich gehalten hat. Wenn gesagt worden ist, datz die Ge meindefinanzen eine Notverordnung nicht rechtfertigen, so wissen wir doch, datz eine grotze Zahl von Gemeinden in Kürze nicht mehr in der Lage ist, Wohlfahrtsausgaben zu lei sten. (Stürmische Rufe bei den Sozialdemokraten: Die Regierung hat ja gar keine Vorlage gemacht!» Wir müssen auch mit Rücksicht auf die Außenpolitik handeln, zumal eine Mehrheitsbildung im Reichstage nicht mög lich gewesen ist. (Stürmischer Widerspruch ber den So zialdemokraten.) Stürzen sie (nach links) diese Regie rung oder treiben sie zur Neichstagsauflösung, dann tun sie es mit dem Risiko, vonderKrisedes Parla mentarismus in die Krise des Systems der Demokratie zu gelangen. Wir überneh men die volle Verantwortung für die erlassenen Notver ordnungen und behaupten, datz der in der Verfassung verlangte Notstand vorliegt. (Zischen links, Beifall bei den Regierungsparteien.) Eine deutschnationale Erklärung gab anschließend Abg. Dr. Oberfohre n ab, in der es heitzt: Die Reichsregierung hat der deutschnat. Frak tion eine Fortsetzung der von ihr vorgeschlagenen Ver handlungen unmöglich gemacht. Sie ist über alle un sere Vorschläge und Warnungen in bezug auf dieSteuer- und Wirtschaftspolitik zur Tagesordnung llbergegangen. Aus ihrer Kampfeinstellung gegenüber den Deutsch- nationalen, deren Zerschlagung einer ihrer wesentlich sten Programmpunkte war, hat sie den Artikel 48 in einer Frage in Anwendung gebracht, die sie Hütte parla mentarisch erledigen können, wenn sie nicht die Steuern in sozialistischen Eedankengängen machen wollte. (Stür misches Gelächter links.) Die Deutschnationalen lehnen die Aufbürdung neuer, untragbarer Steuerlasten ab, da sie nicht gewillt find, die Kosten einer verfehlten Autzenpolitik und verschwenderischer Innenpolitik zu be zahlen. Der Poungplan wurde dem deutschen Volke durch das Versprechen großer Steuersenkungen schmackhaft g e - m a cht. Seitdem sinddrei grotze neue Steuerwellen über das proletari- sierte Volk hereingebrochen. Unsere Voraussagen sind Wirklichkeit ge worden. Die Agrarhilfe war wirkungslos, da eine grund sätzliche Aenderung der Handelspolitik nicht damit ver bunden war. Die O st h i l f e ist so verwässert, datz man von einer wirklichen Hilfe im Sinne des Reichspräsiden ten nicht mehr reden kann. Die Herrschaft des Marxismus hat den Staat Preutzen einem kaum ! noch verhüllten Kulturbolschewismus aus- > geliefert und findet ihren stärksten Ausdruck in der Dik- s tatur, die die Sozialdemokratie in Preutzen ausübt. Wir haben zur Negierung nicht das Vertrauen, datz sie in der Lage ist, dem deutschen Volke in der kommenden Notzeit Führer zu sein. Aus der Einstellung zur Reichsregierung ergibt sich unsere Haltung zu den von der Regierung be schlossenen Notverordnungen. Abg. Könen (Komm.) nannte die Vollmacht der Reichsregierung den Beweis für die Zerfallserscheinun gen dieses Wirtschaftssystems, die durch Dawesplan und Pou 'ngplan beschleunigt worden seien. Die De mokratie arbeite jetzt mit Diktaturmetho- d e n. Die Sozialdemokratie tue das ja in Preutzen schon seit zehn Jahren. Der Reichsbannerkamerad Wirth sei der Minister des kalten Putsches. Der S ! euerstreik gegen die ungesetzlichen neuen Steuern müsse die Ant- . wort sein. Reichsfinanzminister Dietrich suchte zahlenmätzig nachzuweisen, datz mit den Notver ordnungen gerade der Fehlbetrag gedeckt werde, der durch die Arbeitslosenversicherung entstanden sei. Die Matznahmen der Regierung hätten also den aus gesprochenen Zweck, den Bestand der Arbeitslosenver sicherung zu sichern. (Lärmende Zurufe bei den Kommu nisten.) Die Getränke st euer habe die Regierung eingeführt, weil sie erwarte, datz dann die Kopfsteuer nicht überspannt wird. Später werde die Getränkesteuer in das Finanzprogramm eingebaut und im Zusammen hang mit der Höhe der Nealsteuern geregelt werden. Die öffentliche Sicherheit und Ord nung werde zweifellos in zwei oder drei Monaten erheblich gestört sein, wenn die Dinge so weiter gingen. Wenn dann, so rief der Minister mit erhobe ner Stimme, Unruhen durch die Städte gehen, wird man bereit sein, diese Dtngemitzumachen. Datz die Mittel nicht allein durch die Belastung der höhe ren Einkommen zu beschaffen sind, wird auch von den So zialdemokraten anerkannt. Wir haben deshalb in erster Linie diejenigen belastet, die eine gesicherte Existenz haben, während täglich Tausende auf die Stratze fliegen. Der. Widerstand dagegen ist auf dem Nullpunkt ange kommen weil auch die Beamten die Notwendigkeit ein gesehen haben. Eine andere Lösung gibt es nicht. Die Regierung hat den Mittelweg eingeschlagen. Sie ist ihren Weg gegangen in der Erwartung, datz es noch viele in diesem Hause gibt, die den Verstand auf bringen für die Notwendigkeiten dieser Zeit. (Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien.) Noch ist die Reichskasse in Ordnung und sie wird es auch in den nächsten Monaten noch sein. Wenn aber nichts geschieht, würde das im Herb st nicht mehr dexFall sein. Sollen mir uns dann wieder om die Banken wenden und soll die Gefahr heraufbe schworen werden, datzdic Beamten auf ihr Gehalt warten müssen? Eine Deutschnationale Minderheilen- gruppe gegen Regierungssturz. Abg. Gras v. Westarp gab im Auftrag einer tln zahl bisheriger deutfchnationaler Abgeordneten eine Erklärung ab. in der es unter anderem heisst: Wir stehen der Negierung Brüning auch weiterhin kritisch gegenüber, glauben aber dieser Regierung, die auf vie len Gebieten mit Reformarbeiten begonnen hat. noch eine Frist zur Ucberwindung der in kurzer Zeit über haupt nicht zu behebenden wirtschaftlichen Nöte, insbe sondere auf landwirtschaftlichem Gebiete, einränmcn M müssen. Die wirtschaftliche Not erfordert eine stabile Regierung und verträgt keine weiteren Erschütterungen durch Regierungskrisen und Wahlkampfe. Abg. Dr. Schol z (D. Vp.) begrüßte die Erklärung' des Grafen Westarp. Mit Recht könne man sagen, dasi wir in einem außerordentlich kritischen Augen blick für den Parlamentarismus leben. Das Parlament halte vorgestern eine grotze Chance und habe heute noch einmal die Möglichkeit, sich einzuschal ten. Der Redner wandte sich dann an die Deutschnatio nalen und erklärte, diese Partei habe allen Anlatz, die Regierung Brüning zu unterstützen, da ihre Politik mit den Grundsätzen der Deutschnationalen übereinstimmc. Abg. Meyer- Berlin (Dem.), von den National sozialisten mit dem Ruf empfangen: „Keine Feier ohne Meyer!", betonte, datz seine Partei alles getan habe, um die Möglichkeiten einer parlamentarischen Erb'di- gung auszuschöpfen. Sie habe' starte Bedenken gegen die Anwendung des Artikels 48 und begrüße es, datz jetzt der Reichstag die Möglichkeit habe, einen Mehrheitsbeschluss zu fassen und das Ver gehen der Negierung nachträglich zu billigen. Keines wegs könne er sich der Auffassung des Abg. Dr. Scholz ansthlictzen. datz diese Regierung deutschnationale Auf fassungen vertrete. Seine Partei werde die Aus Hebungsanträge oblehnen und beantragen, die Verord nung über die Eemeindegctrünkesteuer an den Ausichntz § zu verweisen. Nach weiterer Aussprache, an der sich Abg. Keudell und Abg. Landsberg beteiligten, wurden die Abstim mungen vorgenommen, die, wie eingangs berichtet, nach ! Ablehnung der Notverordnungen zur Auflösung des ^Reichstages führten. Die MWmtimM W ein MM Weier. Schlechte Aussichten für die Regierungsbildung in Sachfen. Dresden, 18. Juli. Wie wir erfahren, haben der deutschnationale Landesparteiausschutz und die Land- , tagsfraktion am Donnerstag beschlossen, angesichts der unbedingten Notwendigkeit der Bildung einer marxiftenfrejen Regierung in Sachsen alle Wün sche zurückzustellen und im Interesse der Bildung einer solchen Regierung nach dem Scheitern der Kandidatur Krug o. Niddas auf diesen zu verzichten. Die Deutschnato , nalen haben weiter beschlossen, ein Kabinett unter der Führung des ehemaligen Finanzministers Dr. Weber z» unterstützen unter der Voraussetzung, datz Weber vor seiner Wahl Fühlung mit den Deutschnationalen wegen der Besetzung der einzelnen Ministerien nimmt und un ter der weiteren Voraussetzung, datz seinem Kabinett kein Marxist angehöre. Da inzwischen, wie aus parlamentarischen Kreisen verlautet, die Nationalsozialisten erklärt haben, datz sie ein Kabinett Weber nach dem Must e r des Kabinetts Bünger weder direkt noch indirekt unterstützen würden, sondern maß gebenden Einfluß, d. h. das Innenministerium in dem Kabinett Weber verlangen, ist auch das Kabinett Weber schon erledigt, bevor es überhaupt den ersten Schritt ge tan hat, da unter diesen Umstünden die Demokraten und Volksnationalen ihm ihre Unterstützung versagen wür den. „Graf Zeppelin" über der Biskaya. Hamburg, 18. Juli. Wie die Hamburg-Amerika- Linie mitteilt, befand sich das Luftschiff „Graf Zeppelin heute um 6 Uhr (M. E. Z.) über der Biskaya und nahm Kurs auf die Loire-Mündung.