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15 Ist es ein Wunder, wenn bei unserer Jugend das oberflächliche Aburteilen zur Gewohnheit wird? Tagtäglich wird diese Manier des Verunglimpfens, des Todredens betrieben. Eine schlechte Wirkung da von kann schwerlich ausbleiben. Zu welchem Zwecke müssen die Be sprechungen über Konzerte schon am Morgen nach der Aufführung in der Zeitung zu lesen sein? Dem Kritiker sollte Zeit gelassen werden, mindestens eine Nacht müßte vorübergehen, ehe einem armen Musikanten das Urteil geschrieben wird. Am andern Tag würde er, der am Abend vielleicht verärgert war, milder und gerechter urteilen und sich sagen: wenn du in deiner erregten, nervösen Stimmung gestern Abend hättest spielen müssen, so würde auch nicht die beste Leistung herausgekommen sein. Gerade beim Kompositionsunterricht ist so passende Gelegenheit, richtige Kritik zu üben. Geben wir der Hoffnung Raum, daß auch in dieser Beziehung manch gutes Resultat erzielt werden möge, daß der Schüler es sich zur Pflicht mache strenge, aber gerechte Urteile zu fällen. Wir befinden uns zurzeit in einem Getriebe eigenster Art. Der Kampf für freiere Anschauungen tobt mächtig auch in unserer Musik. Und gefährlich sind die Stürmer, welche ohne jede Rücksicht, ohne jede Pietät aller Tradition den Tod geschworen haben und alte, ehrwürdige Säulen, Träger eines künstlerischen Prachtbaues, stürzen wollen. Was soll dann aber an die Stelle der Werke, welche selbst erst nach heißem Ringen geschaffen wurden und an denen sich Gene rationen erfreuten, treten? Wie wird ein Fortkommen möglich sein, wenn der Weg mit Trümmern bedeckt ist? Sehen wir daher dem Treiben dieser Leute nicht müßig Zu. Ob sie selbst in ihrem tollen Tanze zugrunde gehen, das braucht uns nicht zu kümmern. Die Freude soll ihnen aber nicht werden, daß sie die Jugend täuschen, irreführen und verderben können. Sorgsam müssen wir darauf bedacht sein, das Gute und Schöne, was geschaffen worden ist, zu pflegen und zu bewahren; doch dürfen wir uns auch nicht ernsten wirklich guten neueren Bestrebungen verschließen. Nur diejenige Lehr methode, welche festgegründet auf einer großen Tradition sich ohne Unterlaß, indem sie aus jedem vernünftigen Fortschritt Nutzen zieht, erweitert und vervollkommnet, wird Aussicht auf dauernden Erfolg haben. Möge uns zu diesem Zweck die Art, in der I. S. Bach seine Schüler leitete, vorbildlich sein. Nach dem Bericht I. N. Forkels ge stattete er bei aller Strenge dennoch seinen Schülern große Freiheiten. Sie