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12 Stils, wie ihn die Lehrbücher der großen Meister des Kontrapunkts des 17., 18. und 19. Jahrhunderts uns hinterlassen haben, deren Bei spiele bei weitem nicht immer einwandfrei, wohl aber in manchen Fällen recht anfechtbar sind, und kaum dazu dienen dürften, dem Schüler den vollen Glauben an deren strengen Stil und reinen Satz, sowie an deren gewissenhafte Befolgung der ihren Beispielen vorangehenden strengen Gebote und Verbote beizubringen und zu erhalten. Es muß dem Schüler der Übergang von dem Zwangverfahren für die Erlernung des strengen Kontrapunkts nach altem Muster zur Erwerbung und Anwendung eines freieren Kontrapunkts, wie er in der heutigen Instru mental- und Vokalmusik gebräuchlich ist, erleichtert und geebnet werden." So äußert sich Julius Johannsen in der Vorrede zu seinem strengen Kontrapunkt. Und in gleicher Weise fordert Felir Dräseke, daß die polyphone Schreibweise nicht hinter der Entwicklung der gesamten Kunst zurückbleibe, sondern mit dieser Entwicklung im Einklang fort schreite und sich selber entfalte und vervollkommene. „Anschauungen, nach welchen der Kontrapunkt nur in einer gewissen streng bestimmten Weise auszuführen wäre, ein unveränderliches Ansehen behalten müsse und die Verehrung einer alten wohlkonservierten Mumie in Anspruch zu nehmen habe. — Anschauungen, die nicht allein geäußert, sondern auch mit großer Hartnäckigkeit verteidigt worden sind, werden der be lebenden Luft der Gegenwart nicht Trotz zu bieten vermögen, vielmehr rettungslos von derselben fortgeweht werden (der gebundene Stil)." Leider ist die Zahl derjenigen, welche mit Zähigkeit an den alten Ideen festhalten, immer noch sehr groß. Sucht man doch alle natürliche Be weglichkeit, welche die Musik unterhaltend macht, ihr Abwechslung gibt, vom Kontrapunkt fernzuhalten. Was nützt dem Schüler die Fertigkeit in einer sogenannten kontrapunktischen Schreibweise, wenn er, durch lauter Regeln beengt, dieselbe bei seinen Kompositionsversuchen nicht in Anwendung bringen kann? Muß nicht da auch er zu der Überzeugung kommen, daß man Kontrapunkt höchstens einmal bei Vokalmusik, einem kirchlichen Werke berücksichtigt, sonst aber außer Betracht läßt, daß es sich dabei um eine Geheimkunst handelt, die das Licht scheut und außer Beziehung mit dem natürlichen Leben einer vernünftigen Komposition stehen will. Mit Lächeln und Rührung gedenkt man der Zeiten, in denen einzelne Meister beim Vortrag ihrer Lehre das Zimmer ver dunkeln ließen und nur in einem Winkel ein rosafarbenes Licht duldeten, um in diesem Zwielicht die Weisheit von der Stimmführung zu offen-