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11 M W W s bildung der Melodik wie der Lehre vom freien Satz sich vollständig der neueren Tonkunst anpatzt, so wird damit noch lange nicht zugegeben, datz an den vorbereitenden Disziplinen alles in bester Ordnung, eine Wendung zum Besseren nicht möglich sei. Mit lebhafter Freude würde man es allseitig begrüßen, wenn die Lehre von der Melodie wieder mehr Beachtung fände, die Jugend sich mit grötzerer Begeisterung dem Studium der Sätze hingeben wollte. Wie soll es aber möglich sein, mit Erfolg Neubildungen entstehen zu lassen, wenn die Vorbereitung zur Komposition, die Abhandlung über Harmonielehre und Kontrapunkt, nicht in Übereinstimmung mit dem heutigen Stand, der Musik geschieht? Wird doch ein Schüler schwerlich in das richtige Verhältnis zur fortschrittlichen Harmonie treten, wenn er aus einem Buch, welches vollständig autzer Verbindung mit der neueren Musik steht, seine Kenntnisse gezogen hat. Solange nicht die Ton arten mit all den Freiheiten, die ihnen jetzt zuteil werden, zur Erklärung kommen, wird es auch nicht möglich sein, ihnen die für die Neuzeit charakteristischen weitherzigen Kadenzen zu entlocken. Was soll uns heute noch die falsche Behauptung, datz der k-Moll-Mkord, der ki-Moll- Akkord oder der ck-Dur-Akkord und 38-Dur-Akkord innerhalb einer a-Dur- Kadenz eine Modulation bedeute? Wozu die widersinnige Lehre von den Klängen der Molltonart, die Angabe, datz der Akkord der dritten Stufe zunächst ein übermäßiger Dreiklang sei? Oder haben wir wirk lich die Kenntnis von den Kirchentonarten, welche viele Lehrbücher mit Stillschweigen übergehen, nicht nötig? Der Fehler so mancher „praktischen Harmonielehre" ist es, datz in ihr eine Musik, die außer Zusammenhang mit der Praxis sich befindet, gemacht wird. Hochwillkommen sind alle Schriften, in denen Analysen gegeben werden, deren Aufgaben zur Stärkung des melodischen Emp findens beitragen. Beini Studium des Kontrapunkts ist es gleicherweise sehr lästig, nach einem Buch zu arbeiten, in dem vom Rhythmus und seinen Eigenarten nicht gesprochen wird, das aber dafür nur hemmende Be stimmungen über verdeckte Quinten und Oktaven, denen die Praxis keine Beachtung schenkt, zur Sprache bringt. Zum Glück beginnt sich eine neuere Richtung in allen Ländern gegen so veraltete Lehrmethoden auszulehnen. „Es ist zeitgemäß und zweckmäßig, den Schüler nach Möglichkeit fernzuhalten von der Ge wöhnung an die Starrheit und Einförmigkeit des alten kontrapunktischen