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9 Berechtigung, solange sie als Präludien, als Vorbereitungen zum nächst folgenden Hauptstück galten. Beethoven hat in der Phantasie Op. 77 ein Werk hinterlassen, bei welchem von einheitlicher Gestaltung, Be ziehung der einzelnen Teile zueinander nicht gesprochen werden kann. Das Klavierstück hebt in 6moll an und klingt in lckckur aus. Es ist wohl sicher, daß dieses Op. 77 von Beethoven verhältnismäßig sehr wenig bekannt ist. Wäre der Schlußteil in lck ckur nicht so einzig schön, dann könnte man dem zerfahrenen, uneinheitlichen Werk wohl nicht viel Geschmack abgewinnen. Diese Art des Phantasierens kann für eine ernsthafte Besprechung nicht in Frage kommen. Sie läßt sich weder lehren noch erlernen, da der Zufall in ihr die Hauptrolle spielt. Die eigentlich künstlerische Art des Stegreifspiels wird als Impro visation bezeichnet. Bei ihr soll wie bei der Phantasie das motivische Material im Augenblick erfunden werden. Nun aber reiht man die Gedanken nicht willkürlich ohne Rücksicht auf Zusammengehörigkeit, auf Gegensätzlichkeit aneinander, sondern entwickelt sie streng und führt sie durch. Gleichgültig, ob der Improvisator feststehende, bekannte Formen nachahmt oder in glücklicher Eingebung reine Grundformen miteinander verbindet, so daß neue Übergangsformen entstehen. Wir wissen, daß fast ausnahmslos unsere großen Meister der Kom position auch Hervorragendes in der Improvisation geleistet haben. Wer noch das Glück hatte, einen Liszt, einen Rubinstein improvisieren zu hören, wird den gewaltigen Eindruck, den die freien Vorträge dieser gottbegnadeten Künstler erzielten, nie vergessen. Aber auch Musiker geringerer Bedeutung waren den Berichten nach in der Improvisation wohl bewandert. Bis in die neuste Zeit hinein ist unsern großen Musikern die Kunst, aus dem Stegreif zu spielen, zu eigen geblieben. In den breiten Schichten der Musikerwelt schwindet leider mehr und mehr diese Fähigkeit. Man hat das Zurückgehen der Kunst, unvor bereitet vorzutragen, in Zusammenhang mit dem Nachlassen des General baßspiels gebracht. Bei letzterem wird ja freilich vom Spieler nicht formelle Gestaltung, sondern nur Satzbeherrschung verlangt. Diese aber bildet auch einen ganz wesentlichen Bestandteil des Spielens aus dem Stegreif, und es ist sicher, daß nur der gut improvisieren wird, der mit dem freien Satz richtig umzugehen weiß. In unserer gesamten Kompositionsweise wird das Streben, strengste und freiste Formen miteinander zu verbinden, immer dringlicher. Wer sich ernstlich mit Komposition beschäftigt, bezeugt, wie unendlich schwer es ist, die von