Sechstes Kapitel. Der Dichter und sein Werk. Gewaltig ist die Masse des Schönen aus der Poesie ver gangener Völker und Zeiten, zuletzt aus dem Jahrhundert un serer großen Dichter, welche dem Schaffenden das Urtheil bildet und die Einbildungskraft aufregt. Dieser fast unüber sehbare Reichthum an Kunstgebilden wird vielleicht der größte Segen für eine Zukunft, in welcher die Volkskraft besonders kräftig arbeitet, das Verwandte aufnehmend, das Widerstre bende wegwerfend. Aber während einer Zeit schwacher Ruhe des Volksthums war er ein Nachtheil für die schöpferische Thätigkeit der Dichter, weil er die Stillosigkeit begünstigte. Es war noch vor wenig Jahren in Deutschland fast zufällig, ob ein Athener oder Römer, Calderon oder Shakespeare, ob Goethe oder Schiller, Scribe oder Dumas die Seele des jungen Dichters in den Bannkreis ihres Stils und ihrer Formen zogen. Der Dichter der Gegenwart beginnt ferner als ein Ge nießender, der die schöne Kunst Anderer reichlich aufnimmt und dadurch zu eigenem Schaffen angeregt wird. Er hat gewöhnlich keinen Lebensberuf, welcher ihn einem bestimmten Gebiete der Poesie verpflichtet, es ist wieder fast zufällig, welche Gattung der poetischen Darstellung ihn gerade anzieht; er mag als Lyriker seine Empfindungen ausklingen lassen, er