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VOkL . ..» Hu me/rL /" ^1— po/^l» sIrbsborrecbtscbut^: künk lürms-Verlsg, ssslle (8»alv). Nachdruck verboten. Scheu blickte sie sich um und zuckte bei irgendeinem leisen Geräusch schreckhaft zusammen, dann faltete sie die mageren Händchen und betete leise: „Lieber Gott! Ich bitte dich von ganzem Herzen, mache doch, daß ich schön singen kann, und daß mir die Leute ein bißchen Geld geben, damit ich nicht wieder so furchtbar hungern muß, weil das doch so sehr weh tut. Bitte, lieber Gott, hilf mir!" Nachdem das Hanneli sich auf diese Weise ein wenig Mut erdetet hatte, zupfte sie an ihrem dünnen Mäntel chen, strich unwillkürlich noch einmal glättend über die blonden Haare und öffnete dann die Tür zu dem fremden Hof, die schrecklich knarrte. Es war kein Mensch aus dem großen Hof. Nur ein paar Sperlinge balgten sich in der Nähe einer Futterkiste um die besten Happen, und dem Hanneli ging es durch den Sinn, daß sogar diese Tierchen es besser halten als sie. Dann stellte sie sich hin, und während ihr Herzchen zum Zerspringen klopfte, begann sie leise einen. Choral zu singen. Aber — das Lied verklang, und kein Fenster öffnete sich. Sie hatte viel zu leise gesungen. Wieder be gann sie und sang jetzt viel lauter und mutiger. Und da geschah es, wie es dem Hanneli immer beim Singen er ging, daß sie alles um sich vergaß und nicht hörte, wie ein Fenster nach dem andern sich öffnete, und wie Geldstücke, in Papier eingewickelt, herunterflogen. Wie Glockenton schwebte ihr Lied und stahl sich in die Herzen. Ein Liedchen nach dem andern sang das Hanneli, und dann sang sie auch das Lied, das die tote Mutter in ihrer letzten Stunde gesungen hatte: „Und wenn ich einst tot bin. Sollst du denken an mich: Auch am Abend, eh' du einschläfst, Aber — weinen darfst du nicht!" Aber da überlief das Hanneli plötzlich ein Zittern. Sie brach mitten in dem Liedchen ab; die Tränen liefen ihr übers Gesicht, und mit einem Male schluchzte si'e bitter lich... Sie hatte vergessen, daß sie mitten auf einem fremden Hof stand und weinte. Das Hanneli dachte nur an die Mutter, die sie auf Gottes weiter Welt so unendlich allein gelassen hatte; um so mehr fuhr sie auf, als eine fremde Stimme neben ihr erklang: „Warum weinst du denn so, Kleine? Du hast doch so hübsch gesungen. Geh, nimm dir das Geld auf, das die Leute herumergeworsen haben!" sagte ein freundliches Fräulein. Hanneli bückte sich gehorsam und hielt bald darauf sechs mehr oder weniger große Päckchen in den Händen, die kleine Geldmünzen enthielten. Dann stand sie wieder vor dem Fräulein, das sie aus guten Augen anblickte. „Hör' mal, Kleine, es hat unserer Vera so gut gefallen, daß du so schöne Lieder gesungen hast. Sie sagt, du möchtest doch einmal zu ihr heraufkommen und oben noch weiter singen. Sie kann nicht gehen. Ihre Füße sind zu schwach. Man muß sie immer im Wagen fahren." Hanneli schaute das fremde Fräulein erstaunt an. Sie konnte in dessen Worten beim besten Willen keinen Zu sammenhang finden. Ein Mädchen, das Vera hieß und schwache Füße hatte und vor dem sie singen sollte... Das alles ging bei ihr ein bißchen durcheinander. „Ach, Verzeihung! Ich kann leider nicht mit Ihnen gehen, denn ich muß weiter!" stammelte das Hanneli. „Nun, du sollst es nicht umsonst tun. Pera wird dir gern das geben, was du auf anderen Höfen noch zu sammengesungen hättest!" überredete das Fräulein die Kleine. „Nein, darum nicht!" sagte scheu das Hanneli und wischte mit der Hand Uber die großen, braunen Augen, in denen noch immer blanke Tränen standen. „Ich mutz Zeit schriften austragen — nachher!" „Nun, ich will dich nicht drängen, mein Kind. Aber wenn du einmal ein Stündchen Zeit hast, so komm mal und singe der Vera ettse? r^r. Sie hörte so gern diese schönen frommen Lieder, Äe du gesungen hast, und sie hat sonst so wenig Freude, obgleich sie reich ist, denn sie ist doch krank." Da überwog mit einem Male das Mitleid in Hanneli, denn es dachte an die Mutter, die auch krank gewesen und so plötzlich gestorben war; und das Kind dachte weiter, daß man der Pera keinen Wunsch abschlagen dürfe, wenn sie doch krank sei. Und da war es plötzlich bereit, für ein kurzes Weilchen mit zu ihr hinaufzugehen. Mit Pera erschloß sich für Hanne Mertens eine neue Welt, aber weder Veras Erzieherin noch eines der Mäd chen ahnten auch nur im geringsten, daß das zufällige Kennenlernen für Hanneli von großer Bedeutung werden sollte. Scheu betrat Hanneli die große vornehme Etagen wohnung, die Peras Pater, Professor Reinhardt, in dem herrschaftlichen Mieihaus bewohnte. Peras Augen strahlten ihrer Pflegerin und Erzieherin entgegen, als sie ihren Wunsch erfüllt sah, und noch viel später erinnerten sich die beiden Mädchen so gern, daß sie sich vom ersten Augenblick an gefallen hatten. Für Hanneli war alles hier neu und ungewohnt. Zum Singen kam es nicht mehr. Hanneli wurde hin und her gefragt, und sie antwortete fein und bescheiden. Und ob gleich sie nicht gleich mit vielen Worten ihr ganzes schweres Kinderleid vor den Fremden ausschüttete, sah die ältere Erzieherin in den großen, traurigen Augen Hannelis viel mehr, als sie hätte aussprechen können. Sie ahnte viel und hatte schnell erfaßt, was Hanneli zu verschweigen suchte. Tiefes, Heißes Mitleid mit dem fremden Kinde erwachte in ihr. Pera machte es unendliche Freude, zu sehen, wie Hanneli auf ihr inständiges Drängen hin viel schöne Milch trank und von dem feinen Kuchen ein Stück nach dem andern verzehrte. Das reiche Kind wußte nicht, was Hunger war, und es war gut für Vera, att Hanne Mertens zu erkennen, daß es noch andere Arten von Leid auf dieser Welt gab als ihre Krankheit. Als im Zimmer eine feine Uhr fünf silberhelle Schläge erklingen ließ, sprang Hanneli auf. „Oh, jetzt mutz ich aber fort!" sagte sie hastig. „Aber du kommst wieder, Hanneli?! Nicht wahr, wir dürfen dich doch auch Hanneli heißen, wie dein Mütterchen dich genannt hat? Siehst du, ich habe auch keine Mutter wie du, aber ich habe einen Vater, der herzensgut zu mir ist, und dann hab ich mein liebes Fräulein Luise, die so lieb und geduldig mit mir ist!" sagte Vera Reinhardt, und ließ sich von Hanneli in die Hand versprechen, daß sie wiederkommen würde. Hanneli nickte glücklich. „Wenn ich darß... Ich hab ja heute gerade das erste Mal auf einem Hof gesungen, das allererste Mal gerade hier..." „Und das letzte Mal, Hanneli, denn nun kommst du immer zu mir!" sagte Vera, fröhlich über die neue Freund schaft. Fräulein Luise aber war hinausgegangen in die Küche, und als sie Hanneli an die Tür brachte, drückte sie ihr ein Päckchen in die Hand. „Dein Abendbrot, mein armes Kindchen. Und komm nur jeden Tag. Die Vera ist ein kleiner schlechter Esser, der wird es in Gesellschaft besser schmecken!" Hannelis Herz war so voll von dem Erlebten, daß sie am liebsten ganz langsam und träumend gegangen wäre; aber im Zeitschriftenvertrieb wartete man auf sie. So mutzte sie all das Schöne jetzt zurückdrängen und es sich für den Abend aufheben, wenn sie in ihrem schmalen Betlchen lag und nicht gleich einschlief. Ach, wie schön war das! Die freundlichen, guten Menschen! So kräftig fühlte sie sich nach den guten Speisen, daß sie hurtig die Treppen hinauf und herunter sprang, wie niemals je zuvor. Von diesem Tage an machte es Hanneli oft möglich, am Nachmittag vor dem Zeitschriftenaustragen ein oder zwei Stunden bei Vera zu verbringen. Aber eines Tages begann die Stiefmutter Verdacht zu schöpfen, und zwar um so mehr, als sie sah, daß Hanneli trotz der schlechten Kost etwas aufzublühen begann und ihre Augen manchmal einen recht frohen Glanz hatten, den sie früher nie an ihnen gesehen. Und da, als Hanneli mittags, bald nachdem sie ihre Aufgaben erledigt hatte, wieder unter dem Vorwand, dem Herrn Lehrer zu helfen, aus dem Hause ging, schlich sie dem Kind nach und war Hannelis Geheimnis bald auf der Spur. Das war schlimm. Drittes Kapitel. Hanneli Mertens war seit einigen Tagen in der Schule auffallend zerstreut und unaufmerksam, so daß sie, die sonst eine der allerbesten Schülerinnen war, dem Lehrer sogar Grund zu leisem Tadel gab. Aber dessen hätte es eigentlich kaum bedurft, denn Hanneli litt selber am allermeisten unter ihrer Zerstreut heit, die allein aus dem tiefen inneren Zwiespalt kam, in den die Lüge sie gestürzt hatte, mit der sie die wenigen glücklichen Stunden bei Vera Reinhardt erkaufen mußte. Heute schrieben die Mädchen einen Klassenaufsatz. Mit glühendem Eifer waren die blonden und schwarzen und braunen Köpfe über die Hefte gebeugt, und hastig kratzten die Federn über das Papier. Lehrer Braunsdorf ging beobachtend zwischen den Reihen hindurch und setzte sich dann wieder an sein Pult,' um nach etwa zehn Minuten seinen Gang von neuem auf zunehmen. Es entging seinen Blicken nicht, daß Hanne Mertens mit ihrer Arbeit anscheinend gar nicht vorwärts kam. Ihre Augen gingen manchmal sekundenlang gedanken verloren in die Ferne, und als sie einmal durch Zufall den seinen begegneten, verwirrten sie sich hilflos und ängstlich, und in das Gesicht des Kindes trat ein gequälter Aus druck. Plötzlich klopfte es. Augenblicklich zuckten alle die Mädchenköpfe auf. Der Lehrer ging hinaus, und während die Tür für kurze Zeit einen Spalt breit offen stand, drangen Laute einer Frauenstimme ins Klassenzimmer. Luc Atuorneu wanoien NW wteoer tyrer Arbeit zu, eines aber saß totenbleich da — Hanneli Mertens. „Jetzt kommt es! Jetzt kommt es!" klopfte Hannelis Herz wild und in maßloser Angst. „Jetzt kommt sie selbe, hierher, und sie fragt ihn. Und er — er sagt, daß es nicht wahr ist, daß icv ihm nicht helfen brauchte —, daß — daß ich — gelogen habe..." Eine Ewigkeit schien es Hanneli, die der Lehrer draußen im Gespräch verbrachte. Ach, nun kam alles ans Licht! Und wirklich, draußen stand vor dem Lehrer Brauns dorf Frau Olly Mertens und war fast außer Atem bei ihren Worten: „Ich wußte mir keinen Rat, Herr Lehrer! Finde ich da heute morgen in ihrer Büchertasche zweiunddreitzig Pfennig... Ich wußte ja schon, daß sie mich immer be logen und betrogen hat, aber sagen Sie mir doch selber, Herr Lehrer — ist es wahr, daß sie seit einiger Zeit jeden Tag nach dem Mittagessen zu Ihnen geht und Bücher sortieren hilft?" „Nein, nein!" Lehrer Braunsdorf schüttelte traurig und verständnislos mit dem Kopfe. „So! Na, da haben wir's ja! Das wollte ich ja bloß wissen!" Frau Mertens Stimme wurde triumphierend. „Ich habe mir das alles lange und geduldig mit an gesehen, denn — sagt man ein Wort, so heißt es: .Freilich, die Stiefmutter!' So, nun möchte ich nur wissen, wo sie da hingeht. Wahrscheinlich ist sie so schamlos und gehl betteln. Woher hat sie sonst das Geld? Ich war ja schlau, habe gar nichts gesagt, sondern es ruhig wieder in ihre Tasche hineingelegt. Ich denke, Sie werden sich qm besten selbst überzeugen. Nein, so eine Schande! Als ob sie bei mir nicht satt zu essen hätte!" Lehrer Braunsdorf erwiderte der erregten Frau nicht viel. Daß mit der Hanne Mertens seit einiget Zeit etwas nicht stimmte, war ihm ja inzwischen selber ausgefallen. Er versprach, die Sache zu untersuchen. „Ja, ja..., untersuchen! Das ist ja alles ganz schön und gut. Aber was macht man mit so einem nichts nutzigen Ding? So ein verstocktes Geschöpf! Da ist ja im Guten wie im Bösen nichts zu wollen. Vielleicht könnte sich der Herr Lehrer dafür verwenden, daß man die Hanne in die Fürsorgeanstalt bringt. Ich sehe schon, ich mit meiner Güte komme da nicht durch!" wühlte Frau Mertens. „Ich verspreche Ihnen, die Sache in die Hand zu nehmen, Frau Mertens. So schwarz wie Sie sehe ich zwar noch nicht gleich, denn Hanne ist seit Jahren meine Schülerin, und schließlich kennt man sich doch da in den Kinderseelen aus. Aber mit dem Lügen, das ist freilich schlimm. Von der Seite kenne ich das Mädel noch gar nicht." Das war wieder Wasser auf Frau Ollys Mühle. „Das ist es ja! Das ist es ja! Ich habe mich am An fang auch täuschen lassen von dem unschuldigen Gesicht. Was war ich gut zu dem Mädel... Aber was ist der Dank? Ich bin eben die Stiefmutter, die man ärgert, wo man kann, und schlecht macht und belügt. Ich sage Ihnen, Herr Lehrer, greifen Sie hier endlich mal ganz barbarisch durch, sonst kann man an dem Mädel mal noch was er leben!" Als Frau Olly Mertens die Treppe des Schulhauscs hinunterstieg, war sie doch befriedigt. Sie hatte durchaus das Gefühl, daß der Lehrer am Schluß ihrer Unterredung ziemlich überzeugt war, daß die Hanne in ihrer stillen Art alle täuschte und sich dahinter ein ganz heimtückisches und schlechtes Wesen verbarg, das nur in einer strengen Korrek tionsanstall gebessert werden tonnte. „Oh, wenn mir das gelingen würde, das Mädel fort zubringen, dann hätte ich ja mit den Möbeln freie Hand, nnd kein Hahn krähte mehr danach. Der Junge ist über alle Berge, und Mertens denkt gar nicht daran, ihn wieder zuholen. Die Verwandten können ihn ruhig behalten. Die haben sowieso keine Kinder!" Als der Lehrer wieder das Klassenzimmer betrat, tat er, als ob nichts geschehen sei. Mit scheinbar größter Ruhe nahm er seinen Spaziergang zwischen den Bänken wieder auf, und Hanne Mertens fühlte, wie ihr Herz ein wenig ruhiger wurde. Sollte es doch nicht die Stimme der Stiefmutter ge wesen sein, die sie gehört zu haben glaubte? Halte sie sich in ihrer Angst getäuscht? Endlich war die Schulstunde zu Ende. Die Pesperglocke läutete grell durch das Schulhaus, und die Kinder stürmten in die kurze Freiheit der Pause. „Hanne Mertens!" Die Stimme des Lehrers ries Hanneli, die froh mit den anderen auf den Hof hinauslaufen wollte, zurück. Das Kind blieb wie angewurzelt stehen. „Bleib hier! Ich habe mit dir zu reden!" Hanne stand blaß und zitternd da und nickte. „Hole deine Büchertasche hierher!" kam wieder ein kurzer, strenger Befehl. Es kam alles, wie es kommen mutzte. Es dauerte nicht lange, bis Lehrer Braunsdorf die zweiunddreißig Pfennige im Schieferkasten entdeckt hatte. „Nanu, Hanne Mertens! Trägst du immer so viel Geld mit dir herum? Wolltest du dafür Besorgungen machen?" Hanneli schwieg. Sie brachte kein Wort der Aufklärung oder der Entschuldigung über die bleichen Lippen. Lehrer Braunsdorf geriet in Zweifel. Sollte Frau Mertens schließlich recht haben mit ihren Anklagen? War das Mädel wirklich störrisch und heimtückisch? Seine Stimme wurde schärfer. „Ich frage dich, woher du das Geld hast, und wozu du es brauchst?" „Ich... ich hab'... es bekommen...", kam endlich von Hanneli eine Antwort. „So? Ist das auch wahr, oder — lügst du?" „Ich lüge nicht!" kam es wieder wie ein Hauch. (Fortsetzung folgt.l