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Die „Gttendorfer Zeitung" erscheint Dienstag, Donners tag und Sonnabend abends. Bezugspreis vierteljährlich I Mark. Durch die Post bezogen ,,20 Mark. Druck und Lokalzeitung für die Ortschaften Ottendorf-Okrilla mit Moritzdorf und Umgegend. Mit wöchentlich erscheinender Sonntagsbeilage „Illustriertes Unterhaltungsblatt", sowie der abwechselnd erscheinenden Beilagen „Handel und Wandel", „Feld und Garten", „Spiel und Sport" und „Deutsche Mode". Annahme von Inseraten bis vormittag w Uhr. Inserate werden mit za Pf. sfür die Spaltzeile berechnet. Tabellarischer Satz nach be sonderem Tarif. Verlag von Hermann Rühle in Groß-Gkrilla. Für die Redaktion verantwortlich Hermann Rühle in Groß-Gkrilla. Nr. 144. Mlitwoch, den 2. Dezember 1903. 2. Jahrgang. Oertliches nnd Sächsisches. Dttendorf-Vkrilla, l. Dezember 1903. -ä. Schön wars doch! so werden alle diejenigen sagen, welche an dem, vom hiesigen OrlSverein am Sonntag im Gasthof „Zum Hirsch" veranstalteten Jahrmarktsfest, verbunden mit Theater, humoristischen Vorträgen und Ball, teilgenommen baden. Groß nnd Klein, von denen den meisten ein solches Fest noch etwas Unbekanntes war, hatten sich eingefunden. Ein buntes, lustiges Durcheinander bot sich dem Auge des Eintretenden. Hier und da wandelte» Damen wie Herren, die Hände voll von Ge winnen, fröhlich einher, dieselben an sicheren Ort bringend, um von neuem das oft holde Glück am Glücksrad oder beim Würfelspiel zu versuchen. Gesangs-, wie humoristische Vor träge wechselten fortgesetzt ab und hielten die Versammelten in heiterer, lustiger Stimmung. Neichen Beifall erntete die Aufführung des Theaterstückes „Irren ist menschlich", wie auch alle übrigen Vorführungen. Den Schluß des Programmes bildete ein kleiner Ball, an welchem sich, trotz des durch die aufgestellten Jahrmarkts buden etwas klein zugeschnittenen Tanzterrains alt und jung zahlreich beteiligten und dieselben noch bis spät in die Nacht hinein in heiterer Stimmung beisammen hielt. — Tie kalten Tage kommen! Gefrorner Schnee bedeckt die Erde, und Ne gefiederten Sänger in Wald und Flur leiden bittere Not. Da ist es Pflicht aller Tierfreunde, der Mahn ung: Gedenket der darbenden Vögel! nachzu kommen. Der Haushalt bietet ja so viele Abfälle, die in der Regel achtlos beiseite ge worfen werden und mit denen wir den hungernden Vögeln über die härtesten Winters zeiten hinweghelfen können. — Die neuen Fünfzigpfennigstücke, deren Prägung bevorsteht, sollen etwas lleiner, aber dicker als die bisherigen werden, so daß eine Verwechslung mit den Zehnpfennigstücken nicht mehr stattfinden kann; auch besitzen sie eine stärkere Legierung. Außerdem ist für die nächsten zwei Jahre die P'ägung von fünfzehn Millionen Stück Nickelmünzen und 65 Mill. Mark Silbermünzen vorausgesehen. — Weitaus die höchsten indirekten Steuern finden wir im Reiche selbst, 18,71 Mark pro Kopf. Es folgen in der Höhe der Belastung Elsaß - Lothringen, Baden und Bayern. Die niedrigste Belastung au indirekten Steuern weist nach einer Reihe von Kleinstaaten Preußen auf. ES folgt als dritter Haupieinnahmeposten der Slaatcn, mehr oder minder mit dem Charakter der Ergänzung, die für den Steuer zahler am meisten fühlbare direkte Besteuerung. Der niedngsten direkten Steuern erfolgt sich infolge seiner hohen Domanialeinkünfte Mecklen burg-Strelitz (4,33 Mark pro Kopf). Auch Preußen und Bayern zeichnen sich durch nied rige Kopfqaoten auf dem Gebiete der direkten Besteuerung aus. Sehr hoch sind die direkten Steuern in Hessen und Oldenburg, am höchsten in Sachsen. Dresden. In der vorvergangenen Nacht langte hier die Prinzessin Alice von Sckönburg- Waldenburg an und nahm in einem kleinen Orte der Umg bung auf 10—12 Tage Wohn ung. Montag vormittag begannen die Verhand lungen in ihrem Ehescheidungsprozesse. Sie wird in demselben durch den Rechtsanwalt Dr. jur. Helm vertreten, während Dr. Eibe ihren Gatten, den Prinzen Schönburg-Waldenburg vertritt. — Ein recht unliebsames gerichtliches Nach spiel dürfte das ungehörige Verhalten einer Anzahl Stutiercnder der hiesigen Hochschule haben. Eines Nachmittags kehrten zirka zwölf Studenten im „Residenz - Automat" auf der Scestraße ein, zechten tüchtig und machten aber auch recht erheblichen Radau, sodaß die Gäste belästigt wurden und sich der Besitzer veranlaßt sah, gegen die Siörenfriede einzuschreiten. Ob schon ihnen in aller Ruhe die Türe gewiesen wurde, kamen sie der Weisung nicht nach, sondern skandalierten weiter, so daß sich der Besitzer veranlaßt sah, sie mit Gewalt hinaus- zubcfördcrn. Da kam er gerade richtig an; die Studenten schlugen mit den Stöcken auf den Besitzer ein und brachten ihm Verletzungen bei. Erst mittels polizeilicher Hilfe gelang es, die Radaubrüder an die Luft zu setzen und fest zunehmen. Es sollen Russen und Tschechen sein. — Am Freitag wurde in Cotta ein fünf- ähriger Knabe von einem rücksichtslos im cbärfsten Tempo fahrenden Radfahrer umge rissen und nicht unbedeutend verletzt. Radeburg. In Bieberach vergnügte» ich Sonntag nachmittag mehrere junge Leitte mit Schießen, wobei dem einen, namens Gräbchen, in die Hand geschossen wurde. Ob wohl ärztliche Hilfe zur Stelle geschafft wurde, mußte Gräbchen noch spät abends in die Wohnung des Herrn Dr. Arnold nach Großen hain zur Entfernung des Geschosses gebracht werden. Eisenberg-Moritzburg. Hier wird am Mittwoch, den 9. Dezember, Roß-, Vieh- und Krammarkt abgehalien. Meißen. Ein mit 10 000 Zentner Zucker beladener Kahn der Oesterreichischen Nordwest- Dampfschiffahrtsgesellschaft ist hier an der alten Brücke festgefahren. Das Fahrzeug wurde von der starken Strömung verdrückt und wurde leck, so daß es umgeladen werden muß. Weinböhla. Der 40 Jahre alte Arbeiter Hempel von hier wurde am Sonnabend in einem Teiche oberhalb der Leipzig-Dresdner Eisenbahn ertrunken aufgefunden. Der Mann wurde schon seit dem 9. November vermißt. Großröhrsdorf bei Pulsnitz. Dem jiesigen Kirchenvorstande hat Frau Amalie Auguste verw. Fabrikbesitzer Boden 15000 Mk. zur Anschaffung einer dringend nötigen neuen Orgel für die hiesige Kirche überreichen lasten. Bischofswerda. Sonntag vormittag trafen, von Dresden kommend, der Staats- und Kriegsminister, General der Infanterie Freiherr v. Hausen, in Begleitung des Herrn Generalmajors Bartky nebst zwei Stabsoffi zieren zur Besichtigung der Tuchfabrik von F. G. Herrmann L Sohn hier ein. Die Herren folgten mit Interesse der Führung durch )ie einzelnen Betriebe und Se. Exzellenz sprach ich sehr befriedigt über das Gesehene aus. Mit dem Zuge 1 Uhr 36 Minuten reisteu die Herren zur Besichtigung der Königl. Pulver fabrik Gnaschwitz nach Bautzen weiter. Bautzen. Vom hiesigen Schwurgericht wurde der 28jährige Zimmermann Robert Max Philipp aus Obersteina wegen versuchten Mordes in zwei Fällen, sowie versuchter Ab treibung zu 15 Jahren Zuchthaus, 10 Jahren Ehrverlust und Tragung der Kosten verurteilt. Er hatte seine zwei unehelichen Kinder mittelst Schwefelsäure getötet. Rochsburg. Herr Pfarrer Hofprediger Hoffmann hier beging sein 40jährigcs Amts jubiläum. Im Auftrage des Kirchenvorstandes wurde dem Jubilar die Urkunde zu einer Stiftung zum Besten würdiger Konfirmanden überreicht. Chemnitz. In Cranzahl ist Montag früh die Frau des Spielwarenhändlers Adolf Börner, die in das vom Feirer ergriffene Wohnhaus zurückgeeilt war, um Wertsachen zu retten, in den Flammen umgekommen. Das zweistöckige massire Gebäude brannte völlig nieder. Crimmitschau. Von den hiesigen Arbeitswilligen sind einige infolge der ihnen zugesicherten erhöhten Streikunterstützung wieder in das Lager der Ausständigen zurückgekehrt, jedoch werden in den nächsten Tagen auswärtige Arbeitswillige erwartet. Der Notstand, der unter den Streikenden Platz gegriffen, ist durch Erhöhung der Unterstützungsgeldcr etwas be hoben. Viele Arbeiter waren gezwungen, Haushaltungsgegenstände zu verkaufen, um nur die Wohnungsmiete bezahlen zu können. Einzelne Hausbesitzer hatten den Ausständigen die Wohn ungen gekündigt. Zwickau. Das hiesige Schwurgericht ver urteilte am Freitag den 53jährigen ledigen Weber Franz August Lehnert aus Hirschfeld )ei Kirchberg, der am 5. Oktober in Hirschfeld gelegentlich eines Wirtshausstreites den Weber Carl Friedrich Titel erstochen hat, zu fünf Jahren Zuchthaus und zehn Jahren Ehren rechtsverlust. Annaberg. Schlitten durchsausten Sonn tag früh unsere Straßen. Während der ver gangenen Nacht hatte sich eine ganz ansehnliche Schneedecke gebildet, die sich für Schlittenfahrt tragfähig erwies. In höher gelegenen Gebieten, Oberwiesental, Gottesgab usw. kann man sich Hon seit längerer Zeit den Winterfreuden singeben. Schneeschuh und Rennwolf, zu denen ich jetzt noch der Hörnerschlitten gesellt hat, werden fleißig benützt. P l a u e n i- V. Die Sozialdemokraten des 22. Wahlkreises proklamierten den Schriftsteller Hoffmann-Berlin als Kandidaten des Reichstags ür die Ersatzwahl. Nus der Woche. Sensationslust und Skandalsucht haben in der abgelaufenen Woche die vollste Befriedigung gefunden; sie wußten manchmal gar nicht, an welcher der übervollen Tafeln sie sich zuerst uiederlassen sollten. Da war zuerst der Prozeß Ries-Ruhstrat in Oldenburg, dann die Nachricht von einer neuen Eheirrung und endlich die Fortsetzung und der Schluß des Kwielecka- ProzeffcS. Wo ihrs packt, da ists „inter essant", aber leider, leider nur im Sinne der Hintertreppenromane. Es ist nicht gut, wenn man Einzelfälle verallgemeinert und aus ihnen Schlüffe für den Gesamtstand der Moral zieht. Wenn aber die Einzelfälle sich häufen und gewissermaßen einen vollen Akkord geben, )ann wird es Zeit sich aufzuraffen zu einem "ehr ernstlichen: So darf es nicht weitergehen! Aber mit den energischen Bcfferungsbestrebungen muß dann ein jeder... bei sich anfangen. Nichts zu viel! Nicht jeder wird sich von der Sünd haftigkeit eines Unterhaltungsspieles überzeugen lassen und es soll sogar Leute geben, die ihren Pfennigskat mit Verve spielen, ohne daß man sie „Spieler" im anrüchigen Sinne des Wortes nennen könnte. Ganz anders steht es schon mit den „reinen" Glücksspielen, mit dem vom Gesetz; verbotenen Hozard. Und noch ganz anders, wenn ein hervorragend berufener Ver treter des Gesetzes, ein Oberstaatsanwalt, die Nächte am Spieltisch und in einer Gesellschaft von noch nicht voll für das Leben reifen Referendaren und jungen Offizieren verbringt, wo gesetztes Silbergeld verächtlich für das Dienstpersonal auf dis Erde geworfen wird und man sich mit Anreden wie „Oberschaf" und „Hornvieh" regaliert. Die vorgebrachte Ausrede „In Berlin wird auch geschimpft!" kann man nicht gelten lassen; kein Mensch wird behaupten wollen, daß Berlin für den Kasernen hofton verantwortlich sei oder dessen Ueberführung in das bürgerliche Leben befördert zu sehen wünscht. Der Oberlehrer Ries hat ja seine sechs Monat Knast weg, aber aus dem Ruh- strat dürfte auch ein Ruhstand werden als Folge des Prozesses. Die Aufregung über die Vorgänge in Oldenburg hatte noch keine Zeit gehabt, zu ebben, als aus Dresden die Nach richt kam. die Prinzessin von Schönburg- Waldenburg wäre mit ihrem schönen Kutscher durchgegangen. Nach und nach wurde in diesen scharfgewürzten Trunk immer mehr Wasser getröpfelt. Jetzt heißt es nur noch, daß die Prinzessin sich schon vor Monaten von ihrem Gatten getrennt habe und gegenwärtig mr ihrem Söhnchen in einer Stadt Jtaleins lebe. Sie soll allerdings die Ehescheidungsklage ein gereicht haben, wozu aber wieder schlecht die beigefügte Meldung stimmt, daß ein schöner Offizier, der Grund ihrer „Eheirrung", dauernd in ihrer Umgebung sei. Die Prinzessin ist be kanntlich eine Tochter des spanischen Thron prätendenten Don Karlos, in dessen Famile der Skandal chronisch zu sein scheint; denn eine andere Tochter hat sich wegen Untreue ihres Mannes in den Tiber gestürzt, aus dem ihr kostbares Leben indessen gerettet wurde, sodaß sie sich mit dem ungetreuen Gatten wieder aussöhnen konnte; und die älteste Tochter ist vor einer Reihe von Jahren mit dem Maler Folchi durchgebrannt und lebt mit diesem, von ihrem Vater verstoßen, in Mailand. — Die dritte Sensation der Woche war die Beendigung des Kwielecka-Prozeffcs. Die Freisprechung war zwar vorauszusehen, aber sie löste doch endlich den Bann, der auf Hunderttausenden lag. Der, der Herzen und Nieren prüft, weiß allein, wie viele Meineide in diesem und dem damit im Zusammenhänge stehenden Zivilprozeß in Posen geschworen worden sind. Aber nicht das rein Tatsächliche, die angebliche Kindesunterschiebung, machte den Prozeß so interessant, sondern das Milieu, das die ganze Zeugenschar dem Gerichts- jofe, den Geschworenen und dem Publikum darbst und das Verhalten des Gerichts und der Staatsanwaltschaft. Die Hauptzeugen, nämlich die alte Andruszewska, die das Kind aus Krakau herbeigeschafft haben sollte, und die Hebamme Cwell, die bei der Geburt des Majoratserben funktioniert hatte, sind ja tot; die Aussagen einer Tochter der Andruszewska und des Agenten Hechelski fielen aber scheinbar schwer gegen die Angeklagten ins Gewicht. Zum Glück für die letzteren mußten die Zeugen persönlich vor den Schranken des Gerichts er- cheinen. Der vielgeschäftige Hechelski, der nur aus idealen Gründen der Sache nachgeforscht hat — lumpige 8000 Mark will er von den Agnaten erhalten haben — und die hysterische verbitterte Andruszewska, die das „Geständnis ihrer Mutter auf dem Sterbebette" nieder» geschrieben hatte, um cS nicht zu vergessen; auch die alte Ossowska, die in Posen für ihre Herrschaft günstig ausgesagt hatte, jetzt aber vor Verlangen brannte, wegen Meineids ins Zuchthaus zu kommen, während Graf Hektor Kwielecka für ihre Angehörigen sorgen würde... das alles war für die Geschworenen nicht über zeugend, ebensowenig der Eifer Hektor Kwieleckas, per um des reinen Blutes in seiner Familie willen die Angeklagten ins Zuchthaus bringen, ihren Sohn ins Elend stoßen und doch selber auf das Majorat verzichten wollte. Die An druszewska hatte die Fäden des Gewebes auf gezogen, den Einschlag bildeten die „Ermittel ungen" Hechelskis in Krakau. Aber die Andruszewska war erst nach Jahren mit ihrem Geheimnis" hervorgetreten und spekulierte halb auf Befriedigung des Haffes, halb auf das Geld des Grafen Hektor, und Hechelski half ihr bei dieser Ausbeutung, wenn er nicht der Anstifter der ganzen Aktion war. Weder die angeklagte Gräfin noch ihr Mitangeklagter Ehemann sind sympathische Erscheinungen; aber während der langen Prozeßverhandlungen, die furchtbare Anforderungen an ihre Nerven stellten, haben sie nie durch einen Blick oder durch eine Bewegung verraten, daß sie sich im geringsten schuldig fühlten; mit unnahbarer, fast königlicher Würde benahm sich die Gräfin während der 20tägigen Verhandlungen und das hat auf die Geschworenen die Wirkung nicht verfehlt; ebensowenig als die etwas zu drastische Art, wie Staatsanwalt Dr. Müller bei seinem Plaidoysr auf die Geschworenen eindrang: „Jeder, der einigermaßen logisch denken kann, muß die Angeklagten verurteilen", und als er die Verurteilung als eine „Kulturtat ersten Ranges" bezeichnete. In dieser Beleuchtung erscheint die zeremoniös-ironische Verbeugung erst in ihrer ganzen Bedeutung, mit der sich die Gräfin nach dem Freispruch von den Herren am Richtertische verabschiedete. „Noch ist Polen nicht verloren ".