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Das zwiespältige Frankreich. Von Zeit zu Zeit flammt in Frankreich die Empö rung gegen Amerika auf. Meistens geschieht es, wenn es gilt, dem allmächtigen Dollar eine neue Huldigung darzubringen. Dann findet Frankreich plötzlich, daß es angenehmer ist, fremde Tribute einzukassieren, als eigene Schulden zu bezahlen. Die Franzosen finden es ganz natürlich, das; sie von Deutschland Geld einzu kassieren haben. Sie finden es weniger natürlich, daß sie selbst das Geld an Amerika abliefern müssen. Der Katzenjammer ist jetzt in Frankreich groß. Wie kann man sich vor Amerika retten? Ein großes Pariser Blatt schreibt u. a.: Um nicht dem amerikanischen Joch hilflos ausgeliefert zu sein, wollen wir Europa bilde n!" Das ist ein Verzweiflungsschrei nach den Vereinigten Staaten von Europa als Mittel zur Abwehr der Ansprüche Amerikas. Der Grundgedanke, der dabei zur Geltung kommt, ist der, daß die Verminderung der Kriegsschuld nur durch vereinigte Bemühungen sämtlicher europäischer Schuldner- staaten möglich ist. Der zweite Grundgedanke ist aber, daß das Schicksal Frankreichs eng an das Schicksal Deutschlands gebunden ist, und daß Frankreich gegenüber Amerika sich in einer keineswegs besseren Lage befindet, als Deutschland. Eine deutsch-französische Schicksalsgemeinschaft? Aber wie steht es mit dem Versailler Vertrag, der zwischen Deutschland und Frankreich eine tiefe Kluft verewigt hat? Man kommt auf seltsame Gedanken, wenn man in höchster Not ist. Da entdeckt man bei sich Wunden, die man einem anderen nicht zutraut. Da nimmt man auch eine Gerechtigkeit in An spruch, die man dem anderen versagt hat. Eine gute Lehre — wenn sie nur nicht allzuschnell vergessen wird. Schuldenabkommen und Voungplan. Paris, 3. Juli. Die Beratungen des Auswärtigen und des Finanzausschusses am Dienstag verstärkten die Gewißheit, daß Frankreich die Schuldenab- kommen mit Washington und London r a - tifizieren wird. Der Streit geht in der Haupt sache nur noch um die Vorbehalte und die Frage, ob diese in das Gesetz selbst ausgenommen werden oder den Gegenstand einer Zusatzbestimmung bilden sollen. Während der Kammerausschuß für auswärtige Ange legenheiten zu einer klaren Stellungnahme kommen konnte, boten die Verhandlungen des Finanzausschusses das Bild größter Zerfahrenheit und Unbestimmtheit. Der amtliche Sitzungsbericht ist auch, gewollt oder un gewollt, so unklar gehalten, daß es besonderer Deutungs- kllnste bedarf, um die eigentliche Haltung des Aus schusses aus ihm herauslesen zu können. Nur die Tat sache, daß der Ausschußbcschluß dahin geht, die Ratifi zierungsgesetze der Regierung in Erwägung zu ziehen und als Berichterstatter den ratifizierungsfreundlichen Abgeordneten und Mitarbeiter Caillaux', Pietri zu er nennen, läßt klarer erkennen, daß auch der Finanzaus ¬ schuß in seiner Mehrheit die Ratifizierung für unum gänglich hält. Als Eesamteindruck kann festgehalten werden: Die Regierung ist weiterhin der Ansicht, daß die Ratifizie rung durch Regierungsverordnung die empfehlens werteste Lösung sei, wobei es den Kammern offen bleiben solle, unabhängig ihre Vorbehalte zu formu lieren. Poincare wandte sich allerdings gegen die Aufnahme der Vorbehalte in den Gesetzestext, da Prä sident Hoover in diesem Falle nicht nur die Entgegen nahme der Ratifizierungsverordnung Poincares, son dern auch des von der Kammer angenommenen Ratifi zierungsgesetzes ablehnen würde. Eine Reihe von Aus schußmitgliedern betonte, es habe auf sie großen Ein druck gemacht, daß Außenminister Briand wiederholt den ausnahmsweise ernsten Charakter der bevorstehenden Regierungsver handlungen unterstrichen habe. Der „Petit Pa- risien" dürfte wohl ziemlich richtig den Erundton der Vriand'schen Ausführungen oder zumindesten der Auf fassung eines großen Teiles der Ausschußmitglieder wiedergeben, wenn er schreibt, die Annahme des Poung- planes ist nicht nur die Ersetzung eines Reparations- zahlnngssqstems durch ein anderes, sie bedeutet auch die Eröffnung einer neuen Aera: Deutschland, von jedem Zwange befreit, wird nur noch durch seine Verpflich tungen gebunden sein. Die juristische Möglichkeit für Deutschland, nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages das linke Rheinufer wiederzu erhalten, kann nicht als eine wün schenswerte Aussicht betrachtet werden. Eine Einmischung in die innerdeutsche Politik bedeutet es aber, wenn das Blatt auf Grund der Vriand'schen Ausführungen vor dem Finanzausschuß weiterhin schreibt: Es müßte die Aufrichtigkeit Deutsch lands außer Frage stehen. Ferner müßten alle Kund gebungen der letzten Woche von den verantwortlichen Ländern des deutschen Volkes desavouiert und verurteilt werden und dies müßte in eindeutigen Handlungen einen Niederschlag finden. Der Poungplan müßte nicht nur, bevor Frankreich ihm zustimme und ihn anwende, ausdrücklich vom Reichskanzler ratifiziert sein, sondern der Reichstag werde — diese Bemerkung stammt von Briand! — eine bestimmte Zahl von Gesetzesentwürfen annehmen müssen, die in die Reichsfinanzen Ordnung zu bringen hätten, eine Notwendigkeit, die der Repara- tionsagent Parker Gilbert dargetan habe. Es handele sich für die französischen Unterhändler um nichts weniger als darum, von Deutschland die Gewißheit zu erhalten, daß es aufrichtig und guten Willens sei. Die Rede Stresemanns über die Gebrechlichkeit des Poung- planes biete nicht die von Frankreich gesuchte Sicher heit, daß Deutschland seiner Unterschrift 62 Jahre lang Ehre machen werde. Man sieht, dies geht auf einen neuen Versuch hinaus, die Abneigung Frankreichs, das Rheinland vorzeitig zu räumen, durch den schlechten Willen Deutschlands zu bemänteln. Es hat aber einen gewissen Nachgeschmack, wenn in diesem Zusammenhang der „Petit Parisien" bemerkt, Frankreich seinerseits sei geneigt, seiner Unterschrift gegenüber Amerika und Eng- lang Ehre zu machen. Nachklänge zur englischen Thronrede Zustimmung in England. London, 3. Juli. Die Thronrede und die er gänzende Rede des Ministerpräsidenten Macdonald im Unterhaus fanden in den englischen Blättern eine günstige Aufnahme. Der arbeiterparteiliche „Daily Herald" legt als Regierungsblatt besonderen Nachdruck auf die Dringlichkeit aller in der Thronrede berührten Fragen und meint, daß kaum eine Regierung so unter dem Druck der Zeit gestanden habe wie die jetzige. Was die neue Regierung immer tun werde, e s werde ein Kampf gegen die Zeit sein. — Die „Morningpost" erwartet Widerstünde der Domi nions bei Wiederaufnahme der Beziehungen zu Sowjet- lußland, legt aber das Hauptgewicht auf die inner politischen Fragen, insbesondere auf die Gewerkschafts vorlage und auf die angekllndigte Möglichkeit einer Aufhebung der Schutzmaßnahmen für die Industrie. Un mittelbare Besorgnisse in dieser Hinsicht werden aber auf konservativer Seite nicht gehegt. — Die „Times" meint, die Rede des Ministerpräsidenten dürfte als ein Hinweis aufgefaßt werden, daß die Schutzmaßnahmen für die Industrie bis zum nächsten Haushalt kaum irgend welchen Veränderungen unterzogen werden dürften. Die „Times" spricht von einem sehr ruhigen Beginn der Arbeiten des neuen Parlaments, während die „Daily Mail" von einem ehrgeizigen aber vorsich tigen Beginn der zweiten arbeiterparteilichen Regie rung spricht. Im gleichen Sinn äußern sich auch die übrigen Morgenblütter, von denen die Liberalen sich sachlich starke Zurückhaltung auferlegen, gegen die einzelnen Punkte der Thronrede aber keine Einwände zu machen haben. Französisches Unbehagen. Paris, 3. Juli. Die Pariser Blätter geben die englische Thronrede ausführlich wieder. Aus ihrer Stellungnahme geht Enttäuschung, besonders über die außenpolitischen Ausführungen hervor. So erklärt das „Echo de Paris", die Ankündigungen der Thronrede über die vorzeitige Rheinlandräumung bestätigen, daß London an der Seite Berlins gegen Frankreich sein werde. Der Verzicht auf das Rheinland sei ein außer- ordenilich ernster Augenblick in der europäischen Ge schichte, da er bedeute, daß Deutschland an den Ost grenzen seine Handlungsfreiheit wiedererlange Der „Figaro" meint, Frankreich werde die schlimmen Folgen der Einstellung des neuen englischen Kabinetts tragen ! müssen. Deutschland werde jetzt alles tun, um sich der Ueberbleibsel des Versailler Vertrages zu entledigen. * j Mißstimmung wegen der amerikanischen Zollpolitik im britischen Weltreich. London, 4. Juli. Die amerikanische Zolltarif-Eesetz- ! gebung wird in allen Teilen des englischen Weltreiches ! außerordentlich schwer kritisiert und wirkt sich mehr und > mehr zu einem Hindemis für die englisch-amerikanische Verständigung aus, das an Bedeutung nicht unterschätzt werden kann. Der australische Ministerpräsident Bruce wandte sich am Dienstag in einer Rede mit Nachdruck gegen.die amerikanische Tarifpolllik und verlangte Ge genmaßnahmen innerhalb des britischen Weltreiches. Macdonalds Start. Die Parlamentseröffnung in England. Die Feier der Parlamentseröffnung gehört zu den bedeutendsten und volkstümlichsten Ereignissen im staatspolitischen Leben Englands. In dem Zeremoniell dieser Feier spiegelt sich die jahrhundertelange Geschichte des ältesten Parlaments der zivilisiertenWelt von heute An diesem Zeremoniell hat auch die jetzt herrschende reformlustige Arbeiterpartei nicht zu rütteln gewagt. Der Eröffnungstag des englischen Parlamentes sieht die Mitglieder des Oberhauses und des Parla mentes in einem Raum versammelt, was sonst nie im Laufe der parlamentarischen Arbeit geschieht. Das Unterhaus (House of Commons) ist bekanntlich durch die Abspaltung der Abgesandten aus dem niedrigen Adel und der Bürgerschaft von dem eigentlichen eng lischen Parlament, dem Oberhaus (House of Lords) ent standen. Im Laufe von Jahrhunderten waren die Ab geordneten des Unterhauses einflußlose, stumme Per sonen, denen der Eintritt in das Parlament verwehrt war und die ihre Wünsche durch einen von ihnen ge wählten Vertreter, den Sprecher (Speaker) vortragen ließen. Heute übt das Unterhaus, das auf allgemeinem Wahlrecht basiert, die eigentliche parlamentarische Ge walt in England aus, während das standesmäßige aristokratische Oberhaus ein Scheindasein führt, das nur durch die Tradition aufrechterhalten wird. Nur an einem einzigen Tage, am Eröffnungstage des Parla ments, gewinnt das Oberhaus seine alte Bedeutung, während das Unterhaus zur alten Einflußlosigkeit sinkt. Während die Königsfamilie auf ihren Thron sesseln, der Lordkanzler (der Vorsitzende des Oberhauses) auf seinem symbolischen Wollsack, und die Peers Eng lands samt Erzbischöfen, Bischöfen und den Richtern des höchsten Gerichtshofes auf ihren rotgepolsterten Bänken sitzen, steht der „Speaker" des Unterhauses mit den Unterhausmitgliedern bescheiden hinter der Bar riere im Sitzungssaal der Lords, um der Thronrede er geben und stumm zu lauschen. Nachdem die Thronrede verlesen ist, zieht sich der Speaker mit den Unterhaus abgeordneten durch eine schmale Hintertür zurück in die eigenen Räume des Unterhauses, und erst hier wächst das House of Commons zu seiner wirklichen Bedeutung heran. Denn nun beginnt die Aussprache über die Thronrede, eine Aussprache, von der das Schicksal der Regierung abhängt, die ja für die Thronrede verant wortlich ist. Im kleinen rechteckigen Saale des Unterhauses sitzen die Abgeordneten auf den mit schwarzem Leder gepolsterten Bänken, auf der einen Seite die Regierung und die Regierungspartei, auf der anderen Seite — die Opposition. Zwischen den Bänken der Regierung und der Opposition befindet sich der Mittelgang, und am einen Ende des Mittelganges sitzt auf einem Stuhl der Speaker, und zwar so, daß rechts von ihm der Führer der Regierung und links von ihm der Führer der Oppo sition Platz haben. Die Abgeordneten sprechen von ihrem Platz aus. Eine Rednertribüne fehlt. Die Ab geordneten sitzen der Regel nach mit Hut, nur der Redner nimmt seinen Hut ab. Im übrigen hält man im Unterhause keine langschweifigen Reden, sondern man „spricht", man berät. Lange Reden werden in Eng land nur in öffentlichen politischen Versammlungen ge halten, nicht aber im Unterhaus, dessen Beratungen einen streng privaten Charakter haben. Die Beratungen des Unterhauses sind offiziell nicht öffentlich. Es gibt zwar Zuhörer, die an den halb verborgenen Galerien des Unterhaussaales hoch oben auf schmalen Bänken hocken, aber die Abgeordneten nehmen von diesen „Neu gierigen", zu denen immer viele Diplomaten und Jour nalisten gehören, gar keine Notiz. Im neuen englischen Unterhaus hat nunmehr die frühere Regierungspartei ihre Plätze mit der Opposi tionspartei vertauscht. Heute sitzt Mr. Baldwin links vor dem Speaker, während Mr. Macdonald nach der rechten Seite gewandert ist. Die erste Session des neuen Parlaments beginnt. Sie verspricht bewegt und be deutungsvoll zu sein. Das ncugewählte Unterhaus ist auf den Kampf eingestellt. Die jetzige Regierungs partei verfügt über keine absolute Mehrheit, und sie" darf sich den Luxus nicht erlauben, auf die Opposition keine Rücksicht zu nehmen, während die Opposition ihrerseits angriffslustig geworden ist, weil sie weiß, daß von ihr vieles abhängt. Mit der Parlamentseröff nung tritt die Labour-Regierung Macdonalds erst richtig in Aktion. Das Regierungsprogramm steht nun endgültig fest. Von diesem Programm und von seiner Durchführung hängt vieles ab, nicht nur für England, sondern auch für die übrige Welt. Die Debatte über die englische Thronrede. Aus der Adreßdebatte, die sich nach der Thronrede im Unterhaus entsponnen hat, ist bemerkenswert, daß durch Baldwin eine sachliche und durchaus loyale Opposition der Konservativen ange- kllndigt worden ist. Baldwin betonte selbst, daß das britische Parlament im nächsten Jahre recht schwierige Aufgaben zu erledigen habe, so daß die Konservativen keine kleinliche Opposition machen wollten, sondern gewillt sind, ernsthafte Mitarbeit zu leisten. Macdonald erwiderte auf diese Anfrage, und es ist bemerkenswert, daß verschiedentlich das ganze Haus ihm Beifall zollte. Er beschäftigte sich vor allem mit der Friedenspolitik nach außen und nach innen. Schließlich erklärte er: „Wir haben unsereFlagge an denMast der konstitutionellen Monarchie ge nagelt. Wir halten sie für die beste Regierungsform und werden alles tun, um sie lebensfähig zu erhalten und ohne Ueberspannung der Parteiherrschaft zugunsten des ganzen Volkes ausüben." Diese Aeußerungen riefen eine beinahe stürmische Begeisterung im ganzen Hause hervor, zumal Macdonald kurz vor her erklärt hatte, daß er gewillt sei, rücksichtslos nur die Interessen Englands zur Gel tung zu bringen und daher um ein einiges, gewisser maßen parteiloses Parlament gebeten hatte. Von Interesse waren noch die Ausführungen des Abgeordneten der Arbeiterpartei Snell, der u. a. sagte: Zu großer Genugtuung gereicht es uns, daß sich die Möglichkeit zeigt, die englischen Truppen im Rheinland zurückzu rufen und einem Volk, mit dem wir seit mehr als zehn Jahren im Frie den leben, die heißgeliebte Gegend zurück zu g e b e n , die mit so vielen glanzvollen und roman tischen Erinnerungen der deutschen Geschichte verknüpft ist. Wenn dieses Ideal in Erfüllung gehen würde, so würde das hier wohl mit fast derselben Zufriedenheit begrüßt werden, wie in Deutschland. Furchtbare Vrandkatastrophe bei San Franzisko. Tokio, 3. Juli. Nach einem Funkspruch aus San Franzisko ist in Mill Valley in der Nähe der Stadt ein Brand ausgebrochen, der sich mit ungewöhnlicher Schnelligkeit ausbreitete. 90 Häuser sind den Flammen bereits zum Opfer gefallen. Das Feuer dehnt sich immer weiter aus, und man befürchtet, daß der Ort, der Sitz der amerikanischen Finanzaristokratie ist, völlig vernichtet wird. 41 Personen werden vermißt. Neben zahlreichen Feuer wehren und Truppen beteiligten sich auch die Besatzungen amerikanischer Kriegsschiffe an der Bekämpfung des Rie senbrandes.