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Programm der neuen Reichsregierung In der gestrigen Sitzung des Reichstages verlas Reichskanzler Müller folgende Regierungs erklärung: Der Wahlkampf hat der Welt bewiesen, daß das Deutsche Reich nach den schweren Nachkriegsjahren in eine Periode ruhiger und steter Ent wicklung getreten ist. Die Fundamente des neuen Staates der deutschen Republik stehen sicher und uner schütterlich. Das Kabinett wird seine kommende poli tische Arbeit nach dem folgenden Programm gestalten: In -er Auswärtigen Politik ist der Weg, den die Reichsregierung gehen wird, klar vorgezeichnet. Die deutsche Außenpolitik verfolgt ihre Ziele in dem Willen zur friedlichen Verständigung und unter Verzicht aus den Gedanken der Revanche. An dieser Grundlage werden wir festhalten. Ernste und wichtige Fragen harren der Lösung. Ich nenne zunächst die Frage der Befreiung der noch besetzten Gebiete am Rhein und des Saarlandes. Zn Uebereinstimmung mit dem ganzen deutschen Volke ist die Neichsreqie- rung von unserem wohlbegründeten Anspruch auf die sofortige Befreiung dieser Gebiete überzeugt. Wir müssen jedoch feststellen, daß die Besatzungs- Mächte aus der politischen Entwicklung der letzten Jahre die gegebenen Schlußfolgerungen noch immer nicht gezogen haben, und daß es aus diesem Grunde bisher nicht gelungen ist, in den wechselvollen Er örterungen über die Räumungsfrage ein praktisches Ergebnis zu erzielen. Nur noch anderthalb Jahr trennen uns von dem für die Räumung der zweiten Zone vorgesehenen letzten Vertragstermin. Wir wissen alle, daß es eines Appells an die Treue und Geduld der Bevölkerung der besetzten Gebiete selbst dann nicht bedürfen würde, wenn es not wendig wäre, bis zu den letzten Vertragsterminen aus zuharren. Käme es aber wirklich dahin, daß die Räu mungsfrage einfach dem Zeitablauf überlassen bliebe, so wäre damit eine bedeutsame Gelegenheit versäumt, die Politik der Verständigung in die Tat umzusetzen, ob wohl alle Voraussetzungen dafür gegeben waren. Für uns ist in dieser Frage neben dem selbstverständlichen Wunsch nach freier Ausübung der deutschen Souve ränität im Rheinlande und nach Befreiung der Be völkerung von den Lasten der Besetzung vor allem der Gesichtspunkt maßgebend, daß es sich darum handelt, endlich diese noch aus der Kriegszeit dastehende Schranke niederzulegen, die der Begründung eines wirklichen Ver trauensverhältnisses zwischen den Völkern im Wege steht Wir erwarten auf das Bestimmteste, daß dieser Gesichtspunkt im gleichen Maße nunmehr auch von den an der Besetzung beteiligten fremden Regie rungen gewürdigt wird. Wir erwarten auch, daß bei ihnen jeder von anderer Seite unternommene Versuch, den Sachverhalt durch das unberechtigte Hinein ziehen anderer Probleme zu verwirren, vergeblich bleiben wird. Das RSumungsproblem ifl einfach und klar Es bedarf nur des guten Willens, um es zu lösen. Die Reichsregierung ist sich der schweren wirtschaftlichen Not lage bewußt, die dort infolge der Besetzung einen hohen Grad erreicht hat und durch die Grenzverhältnisse noch verschärft wird. Wir werden dieser Wirtschaftsnot unsere besondere Aufmerksamkeit widmen. Mit der Grund linie unserer Außenpolitik hängt unsere Betätigung im Völkerbünde aufs engste zusammen. Wir sehen im Völkerbund einen der wichtigsten Faktoren des inter nationalen Lebens und damit auch die Förderung der nationalen Interessen. Wir sind entschlossen, an allen Aufgaben, die in Genf zu lösen sind, loyal mitzuarbeiten. Von den allgemeinen Völkerbundsproblemen steht jetzt im Vordergrund des Interesses die Frage -er allgemeinen Abrüstung. Die Entwaffnung Deutschlands ist bis zum letzten Ende durchgeführt, und kein Staat hat so viel für die allge meine Sicherheit getan wie Deutschland. Das beweisen die Verträge von Locarno, unsere zahlreichen Schieds verträge die Annahme der Fakultativklausel des Welt gerichtshofes und unsere aktive Mitarbeit im Genfer Sicherheitskomitee. Deutschland ist der erste Staat ge wesen, der dem neuerdings von den Vereinigten Staaten von Amerika vorgelegten allgemeinen Pakte zur Aech- tung des Krieges ohne Vorbehalt zugestimmt hat. Alles das gibt uns das Recht und die Pflicht, mit allem Nachdruck die Forderung zu erheben, daß jetzt endlich mit der Durchführung der allgemeinen Ab rüstung ernst gemacht und so der sehnlichste Wunsch der Völker, die durch den furchtbaren Krieg gegangen sind, erfüllt wird. Die Welt muß sich darüber klar werden, daß es auf die Dauer ein unmöglicher Zustand ist, daß ein großes Land wie Deutschland, einseitig abgerllstet, sich inmitten von Ländern befindet, die bis an die Zähne bewaffnet sind. Vor eine weittragende Aufgabe wird uns die kommende Entwicklung in -er Reparalionsfrage stellen. Durch den Sachverständigenplan und die Lon doner Abmachungen vom Jahre 1924 ist es gelungen, das Reparationsproblem des politischen Charakters zu entkleiden und aus ihnen eine finanzielle und wirt schaftliche Frage zu machen. Die Sachverständigen selbst haben ihren Plan indes nur als eine vorläu fige Regelung bezeichnet und es als notwendig hinge stellt, diese vorläufige Regelung durch eine endgültige zu ersetzen, sobald die Verhältnisse es ermöglichen. Mag der Zeitpunkt für die Inangriffnahme der Endlösung sich auch heute noch nicht genau übersehen lassen, so ist doch die Entwicklung weit genug fortgeschritten, um in allen beteiligten Kreisen Raum für die Ueberzeugung zu schaffen, daß die baldige Herbeiführung dieser End- kösung nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich ist. Deutschland wird es seinerseits nicht an der loyalen Mitwirkung fehlen lassen, um eine Frage endgültig zum Abschluß zu bringen, die sowohl für die deutsche Wirt schaft als auch für die Weltwirtschaft von der größten Bedeutung ist. Fragen Ser Innenpolitik. Die deutsche Wirtschaft bedarf zu ihrer vollen Entfal tung der Entwicklung und Vertiefung ihrer weltpoli tischen Beziehungen. Infolgedessen wird die Reichs regierung ihre Kraft daran setzen, durch Pflege und Er weiterung der weltwirtschaftlichen Betätigung der deutschen Wirtschaftskräfte zu stärken. Die neue Reichs regierung wird sich insbesondere an den Arbeiten zur Senkung der nach dem Kriege fast überall erhöhten Zoll tarife durch internationale Vereinbarungen tatkräftig beteiligen. Neben den Genfer Arbeiten, die auf Sen kung der Zölle Hinzielen, sind nach wie vor Handels verträge das vornehmste Mittel zur Beseitigung von Hindernissen im Austausch der einzelnen Volkswirt schaften. Wichtig für die Gestaltung der Ausfuhr sowohl wie für die Sicherung eines angemessenen realen Lohnes der werktätigen Bevölkerung ist die Preisgestaltung auf dem deutschen inneren Markt. Zu ihrer Beeinflussung dient neben einer auf die Er haltung der Wettbewerbsfähigkeit zielenden Handels politik vor allem auch die richtige Einstellung des Staates zu den großen in Kartell-, Trust- und ähnlichen Formen unser Wirtschaftsleben beein flussenden monopolistischen Organisationen. Dadurch kann die Anwendung gesetzlicher Maßnahmen gegen den Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen auf das un bedingt erforderliche Maß beschränkt werden. Die Reichsregierung wird an der bisherigen Ver kehrspolitikfe st halten und bestrebt sein, durch organische Weiterentwicklung der verschiedenen Ver kehrsmittel die günstigsten Bedingungen zur Hebung des Absatzes zu schaffen. Den mittelständischen Kreisen Schutz und Förderung angedeihen zu lassen und einer durch die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht gebotenen Ausdehnung der Be tätigung der öffentlichen Hand angemessene Grenzen zu setzen, wird sich die Reichsregierung besonders an gelegen sein lassen. Dem Handwerk gegenüber soll durch alsbaldige Vorlage und Verabschiedung der Hand werkernovelle das gegebene Versprechen der Regelung einiger wichtiger Organisationsfragen eingelöst werden. Der Artikel 165 der Neichsverfassung sieht die gleichberechtigte Mitwirkung der Arbeitnehmer in der Wirtschasts- und Sozialpolitik vor. Seiner weiteren Verwirklichung dient der Gesetzentwurf über den end gültigen Reichswirtschaftsrat, der in nächster Zukunft den Reichstag beschäftigen wird. Die Notlage der deutschen Landwirtschaft hält unvermindert an. Die Wiederherstellung der Rentabilität der landwirtschaft lich e n B e t r i e b e ist die Voraussetzung ihrer Erhal tung des deutschen Landvolkes dessen das Deutsche Reich im Interesse seiner Wirtschaft und eines gesunden Auf baues des deutschen Volkes so unumgänglich bedarf. Zur Bekämpfung der Notlage der Landwirtschaft sollen die Maßnahmen des Reiches zur Förderung der Boden verbesserung und zur Hebung der technischen Grundlagen der landwirtschaftlichen Erzeugung fortgeführt werden. Die Reichsregierung wird die landwirtschaftliche Siede- lung nachdrücklichst mit dem Ziele fördern, eine gesunde Verteilung der Bevölkerung und ihrer einzelnen Grup pen zwischen Stadt und Land zu erwirken. Die Reichsregierung beabsichtigt, die Ratifizierung der Washingtoner Abkommens über den Achtstundentag. Sie wird den bereits vom Reichsrat verabschiedeten Entwurf eines Arbeitsschutzgesetzes dem Reichstage alsbald vorlegen. Ebenso auch den zu seiner Ergänzung erforderlichen Entwurf eines Bergar- b e i t e r g e se tz e s. Im Rahmen der allgemeinen Sparmaßnahmen wird zu erwägen sein, wie die Reichs versicherung einfacher, wirtschaftlicher und infolgedessen ertragsfähiger gemacht werden kann. Das Los der Kriegsbeschädigten und Kriegerhinter bliebenen zu bessern, entspricht dem einmütigen Emp finden des deutschen Volkes. In gleicher Weise wird die Regierung bestrebt sein, die öffentliche Wohlfahrts pflege zum Segen der Notleidenden aufs beste auszu bauen. Die Wohnungsnot beeinträchtigt nach wie vor die Gesundung unseres Volkslebens. Der Erhaltung des Altwohnraumes und dem Bau neuer Wohnungen. wird die Regierung ihre besondere Sorge zuwenden und dabei dem Bedürfnis der unbemittelten und minderbemittelten wohnungslosen Volkskreise Rech nung tragen. Eine fruchtbare Arbeit auf dem Gebiete der Außen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik ist nur möglich auf dem Fundament eines festen Staatsgefllges, dessen Grund lage unsere Weimarer Verfassung ist. Es ist die vor nehmste Aufgabe der Reichsregierung aus dieser Grund lage unser Staatswesen in demokratischem Sinne aus zubauen und für die Ehrung und Achtung der Repu blik und ihrer Symbole einzutreten. Sie wird die vom Reichsrat beschlossene Jnitiativvorlage über den Ver - fassungstag unverzüglich beim Reichstag ein bringen. Ihre besondere Aufmerksamkeit wird die Re gierung einer Regelung der Rechtsverhältnisse der Minister und der Schaffung eines neuen Neichsbeamten- rechts zuwenden in das auch die im vorigen Reichstag unerledigt gebliebene Dienststrafordnung einzugliedern sein wird. Die Wahlreform wird die Reichsregierung erneut in Angriff nehmen. Die Reichsregierung wird bestrebt sein,das öffentliche Schulwesen organisch und sozial auszugestalten. Dabei ist die Stellung der Schule als eines der Staatshoheit unterstehenden Organismus, das Recht der Religionsgesellschaften bezüglich des Religionsunterrichts und die verfassungsmäßig gewähr leistete Gewissensfreiheit unter Berücksichtigung der Elternrechte zu wahren. Die Wehrmacht -er -eulfchen Republik wird ihre Aufgabe, Schutz der Greinzen und Aufrecht- erhaltung der Ruhe und Ordnung im Innern, nur dann wirksam erfüllen können, wenn sie im Volke wurzelt und vom Vertrauen aller Bevölkerungsschichten getragen wird. Dieses Vertrauen wird sie sich am besten durch pflicht treue Arbeit und eine rein vaterländische und überpartei liche Einstellung erwerben und erhalten. Die Regierung, die von der Wehrmacht verlangt, daß sie eine treue und unbedingt zuverlässige Stütze der Republik ist, wird ihrerseits dafür sorgen, daß die Wehrmacht im Rahmen ihrer Ausgaben, der bestehenden Verträge und nach Maß gabe der finanziellen Kräfte mit allen für ihre Auf gaben notwendigen Mitteln ausgestattet wird. Das große Gesetzgebungswerk der Strafrechts reform hat der Reichstag in der vorigen Wahlperiode nicht mehr zum Abschluß bringen können. Namentlich wird die Frage der Beseitigung der Todesstrafe zu ent scheiden sein. Schon jetzt aber wird die Reichsregierung bei den Landesregierungen anregen, bis dahin das Be gnadigungsrecht gegenüber Todesurteilen anzuwenden. Dem hohen Hause liegen mehrere Initiativanträge vor, die sich mit der Frage einer Amnestie für politische Straftaten befassen. Auf -em Gebiete -er Steuerpolitik wird die Reichsregierung ihr Augenmerk der Frage zuwenden, inwieweit die drückende Steuerlast, di« insbe sondere auf den mittleren und unteren Schichten der Be völkerung liegt, eine Erleichterung erfahren kann. Erst im Herbst wird die Möglichkeit sein, sich ein Urteil hier über zu bilden. Vordringlich erscheint die Frage, wie weit bei den Einkommen bis zu 8000 Reichsmark, sei es, daß sie dem Lohnabzug unterliegen, sei es, daß sie veranlagt werden, eine Erleichterung angestrebt werden soll angesichts der Tatsache, daß das Einkommen an Lohn steuer in den vergangenen Monaten des Rechnungsjahres Beträge erreicht hat, die eine Ueberschreitung der gesetzlich festgesetzten Höchstsumme erwarten lassen. Es scheint ferner geboten, nunmehr das gesetzlich gegebene Ver sprechen einzulösen, den Teil der Vermögenssteuer nachzuerheben, der in Höhe von 40 Millionen Reichsmark gegenüber dem Etatsoll des Rechnungsjahres 1926 ausgefallen ist. Besondere Aufmerksamkeit wird dem finanziellen Verhältnis zwischen Reich, Ländern und Gemeinden zuzuwenden sein. Die Reichsregierung stimmt mit der Länderkonferenz und der Gesamtheit des Volkes darin überein, daß die gegenwärtige Regelung des Verhältnisses zwischen Reich und Ländern unbefriedigend ist und einer grundlegenden Reform bedarf. Sie wird bestrebt sein, eine befriedigende Lösung der Reichsreform in enger Zusammenarbeit mit den Ländern herdeizuführen. Die Schaffung eines Reichsverwattungsgerichts wird als näch ster Schritt zur Vereinfachung nachdrücklich gefördert werden. Die Ihnen unterbreitete Regierungserklärung des neuen Reichskabinetts zeigt Ihnen, daß wir den ernsten und aufrichtigen Willen haben, mit allen uns gegebenen Kräften die uns übertragene schwere Aufgabe zu lösen. Die Regierung nimmt für sich die Führung auf dem Wege des Wiederaufbaues in Anspruch und vertrant darauf, daß die Mehrheit dieses hohen Hauses hinter dem Programm der Reichsregierung steht. * Am Schluß der einstündigen Rede des Reichskanz lers kamen von den Sozialdemokraten und den Mittel parteien lebhafte Beifallskundgebungen. Auf Vorschlag des Präsidenten vertagte der Reichstag um 1/45 Uhr die Aussprache über die Regierungserklärung auf Mittwoäi 2 Uhr. Kurze Mitteilungen. 4. Juli 19L8 Unter großem Pomp fand am Dienstag zu Ehre" des Staatspräsidenten von le Havre die erste große Flottenparade der Franzosen nach dem Kriege statt. 84 Kriegsschiffe, begleitet von 54 Flugzeugen, zogen an dem Flaggschiff des Präsidenten vorüber. Uebel die Hälfte der Kriegsschiffe sind erst in den letzten Jahre" im Serienbau hergestellt worden. Das trifft vor alle'" für die 8000—10 000-Tonnenkreuzer und die 1400- Tonnen-Unterseeboote zu. Wie aus Athen gemeldet wird, sind alle griechi schen Schiffe in Pyräus infolge des unerwartete" Ausbruchs eines Teilstreiks der Heizer und Ingenieure am Auslaufen verhindert. Die Seemanns- und Heize"' union hat den Generalstreik erklärt und alle Schiff arbeiten sind eingestellt. Infolge Eehaltsdifferenzen mit der polnischen Lust verkehrsgesellschaft haben die polnischen Pilote" am Dienstag vormittag um 10 Uhr einen dreitägige" Streik ausgerufen. Damit ist der gesamte Luftverkehr in Polen stillgelegt worden. Die Piloten hatten sich- einer 35prozentigen Gehaltserhöhung nur eine Zprozentig" bewilligt erhalten. Einer Meldung des „Petit Parisien" ausSchaNgs Hai zufolge, hat die Kuomintang zum 15. Juli ihr" Hauptversammlung einberufen, die über den geeignete" Weg zur inneren Einigung Chinas beraten sob' Wie eine Pariser Nachrichtenagentur aus Madru meldet, glaubt man dort zu wissen, daß Genera" Primo de Rivera den Vizepräsidenten der A«' tionalversammlung, Graf v. Andes, den Posten de- Außenministers anvertrauen wird, den er selbst inne ha" Die polnischen Flieger Jdzikowski und Kubale habe" die Vorbereitungen zu ihrem Ozeanflug beende und warten nur noch auf günstige Wetterverhältmsst' Der Flug soll von Le Bourget über die Azoren na"t Neuyork gehen.