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Frankreichs Kalkung bleibt dieselbe. 23. Mai 1928 Obgleich die neue deutsche Regierung noch nicht gebildet worden ist, hält der „Temps" es bereits jetzt für notwendig, zum Ausdruck zu bringen, daß die fran zösische Politik in allen Fragen, die den Deutschen be sonders am Herzen liegen, sich nicht ändern wird. Das Blatt schreibt weiter: Man hätte zu einer deutschen Regierung, die von einer Majorität gestützt gewesen sei, die die Stresemannpolitik offen bekämpfte, kein Ver trauen haben können. Wohl würde bei den Verhand lungen mit einer linksgerichteten Reichsregierung der Geist ein anderer sein, hoffentlich auch die Methoden. Es wäre durchaus klar, daß alle Deutschen, seien sie politisch rechts oder links gerichtet, fortfahren würden, die vorzeitige Räumung des Rheinlandes zu verlangen und die Revision des Dawesplanes, daß sie fortfahren würden, bei jeder Gelegenheit gegen die Ostgrenzen des Reiches, die in den Frisdensverträgen festgelegt wurden, zu protestieren und den Anschluß Oesterreichs an Deutschland zu empfehlen. Die Alliierten würden sich gegen derartige Forderungen zu ver teidigen wissen. Aehnlich gibt der „Jntransi- geant" der Meinung Ausdruck, Außenminister Stresemann könne auch in einem Linkskabinett ein Programm der Verständigung nur verteidigen, wenn dieses Programm Deutschland merkliche Befrie digungen gebe, deren erste die vorzeitige Rheinland räumung sein werde. Frankreich sei einer vorzeitigen Befreiung des Nheinlandes nicht abgeneigt, aber unter der ausdrücklichen Bedingung, daß dieses Zugeständnis und dieser Verzicht auf die letzte positive Garantie durch deutsche Zugeständnisse erkauft werden. Auch „La Preß" warnt davor, sich Germania an den Hals zu werfen, bevor man nicht sichere Anzeichen der Entspan nung und unzweideutige Bekundungen des deutschen Versöhnungswillens habe. Auch Paul Bvncour spricht von Kom pensationen und Garantien Paul Voncour erklärte gegenüber den Vertretern des „Eaulois" zu den deutschen Reichstagswahlen, die Eindrücke, die sich auf Grund der Zahlen ergeben, seien für die Erhaltung des Friedens zweifellos günstig. Die Sozialdemokraten aber seien auch Patrioten. Er selbst sei einige Male ihren An griffen ausgesetzt gewesen, da sie wissen, daß auch er die Räumung des Nheinlandes nicht in Betracht ziehen lasse, ohne berechtigte Kompensationen und Garantien für die Sicherheit zu erhalten. Die Negierungen wür den sich in Deutschland und auch in Frankreich veränder ten Positionen gegenübersehen. Die Atmosphäre der Entspannung würde sicherlich die Lösung der schweben den Fragen günstig beeinflussen und auf alle Fülle bei den Verhandlungspartnern den Witten, zu einem Er gebnis zu gelangen, kräftigen. Man müsse den Aus gang der deutschen Reichstagswahlen mit der Absicht > begrüßen, aus ihnen alle Vorteile für Europa und die > Welt zu ziehen. Ohne ihre außerordentliche Bedeutung und die Wohltaten, die sie bringen können, verringern ! zu wollen, sollte man doch nicht vergessen, daß bedeu- - tende Schwierigkeiten weiterbestehen und größte Vor- j sicht im Interesse beider Länder notwendig sei. De Monzie über Europas Kampf gegen den Kommunismus. 23. Mai 1928 De Monzie veröffentlicht in der „Täglichen Rund schau" einen Artikel „Der Kampf ganz Europas gegen den Kommunismus". Ausgehend von der Verhaftung Bela Khuns in Wien und dem Wahlerfolg der Kom munisten bei den deutschen Wahlen sieht er die große Schwierigkeit im Kampfe gegen die bolschewistische Propaganda darin, daß man zwar aus Gründen der j Realpolitik ein verträgliches Verhältnis zu Sowjetruß- i land wünsche, den Kommunismus aber im eigenen ! Lande bekämpfen müsse. Alle mit Rußland abgeschlos- ! senen Nichteinmischungsverträge ständen nur auf dem > Papier. Nur die Türkei und Italien kümmerten sich j nicht um den Zusammenhang der kommunistischen Agi- . tation mit Sowjetrußland. Gerade das Wiederauf- ! tauchen Bela Khuns in Wien mache den Abwehrkampf i wieder sehr zeitgemäß. Deshalb müsse die Frage des z Verhältnisses Westeuropas zu Rußland und zum Kom munismus jetzt unbedingt geklärt werden. De Monzie fordert deshalb mit Nachdruck die Einberufung der Ju risten Westeuropas, um mit Rußland über die Defi nition der Nichteinmischung zu verhandeln. Ere Nouvette für Rheinlan-rüumung. Die „Ere Nouvelle" hält jetzt die Stunde für gekommen, daß das Rheinland zu räu men sei. Mit der gegenwärtigen Reichstagsmehrheit hätten die Franzosen die besten Aussichten, vernünf tige Garantien für seine Sicherheit zu erhalten. Niemand würde es in Frankreich ver stehen, wenn Frankreich jetzt nicht einen Pakt mit Deutschland schließen würde. Die „Volonte" erklärt, daß die Niederlage der Deutschnationalen die Möglich keit biete, die Bestrebungen Mussolinis zu unterbinden, den französischen Einfluß in Mitteleuropa und auf dem Balkan durch ein italienisch-deutsches Zusammengehen einzukreisen. Die Partei des Grafen Westarp wäre für diesen Plan sicherlich zu haben gewesen, wenn sie ans Ruder gekommen wäre. Nachdem aber die Sozial demokraten in Deutschland gesiegt haben, eröffne sich eine neue Etappe der deutsch-französischen Annäherung, und die Beteiligung Deutschlands an den Völkerbunds arbeiten werde in ein lebhafteres Stadium eintreten. Der „Avenir" redet Briand zu, die französisch englische Entente zu pflegen und sich von ihr nicht durch die deutschen Sozialdemokraten Braun und Müller ab lenken zu lassen. Sie Hütten Jaures 1914 irre geführt. Die chinesischen Wirren. 23. Mai 1928 Spannung zwischen Japan und Amerika. Wie aus Tokio gemeldet wird, hat sich auch gestern wieder das japanische Kabinett mit den chinesischen Wirren beschäftigt, wobei festgestellt wurde, daß Tschangtsolin die japanische Note über das Fern halten des Bürgerkrieges von der Mandschurei noch nicht beantwortet hat. Tschangtsolin will scheinbar erst die Antwort der chinesischen Südregierung auf die japa nische Note abwarten. Aus dem chinesischen Kriegsgebiet sind wieder Mel dungen eingetrosfen, nach denen auf beiden Seiten viele Hinrichtungen politischer Gegner stattgefunden haben. Auch wird von einer Plünderung der Stadt Kalgan berichtet, lieber das Gebiet von Tientsin und Peking ist ein Notkommandant in der Person des Ge nerals Tschangtso eingesetzt worden. Zwischen Südchina und Japan macht die Entspannung weitere Fortschritte. Die in Tsi- nanfu gefangen genommenen Südchinesen sind samt ihren Waffen wieder entlassen worden. Die Erklärung Kelloggs, daß Japan in der Mand schurei Sonderinteressen verfolge, hat in der japanischen Oeffentlichkeit ein lebhaftes Echo heroorgerufen. Die „Tokioter Zeitung" erklärt, Japan tue in der Mandschu rei nichts anderes, als Amerika in Nicaragua. Japan wünsche nichts weiter, als die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Wahrung seiner Interessen. Letztere seien wohl noch von größerer Bedeutung als Amerikas Interessen in Nicaragua. Weitere Zuspitzung der russisch-japanischen Beziehungen? Wie aus Moskau gemeldet wird, mißt man der Erklärung Tschitscherins über die japanische Ch-ina- politik in politischen Kreisen die größte Bedeutung bei. Die Erklärungen dokumentierten die Ablehnung der ja panischen Politik in China und zeigten gleichzeitig Sympathie für Tschangtsolin und für die Nanking regierung. Es verlautet, daß die Sowjetregierung bereit sei, die Nankingregierung anzuerkennen, wenn diese die Ermordung des Generalkonsuls Hacis regele. In Anbetracht dessen, daß Japan wohl kaum dieses Interview ohne Entgegnung lassen werde, erwartet man eine Zuspitzung der Beziehungen. Tschanglsolin entscheidend geschlagen Die Siidarmee auf dem Marsch nach Peking. Die letzten japanischen Militärteleqramme besagen, daß die Südtruppen die Entscheidungsschlacht südlich von Peking auf der Linie Pauting—Tschangtschau ge wonnen haben und ihren Vormarsch auf Peking— Tientsin fortsetzen. Man erwartet einen erneuten Widerstandsversuch Tschangtsolins vor der Stadtmauer Pekings. Die japanischen Frauen und Kinder haben Peking verlassen. General Tschiangkaischek, Feng und Penhsihsen befinden sich vor Pauting, um gemeinsam in Peking einzuziehen In der Stadt selbst ist es ruhig. Das Gesandschaftsviertel ist in Verteidigungszustand gesetzt. Die Japaner beabsichtigen, Tschangtsolin nach seinem Zusammenbruch nicht nach der Mandschurei zu rückzulassen, sondern die gesamte Mukden-Armee an der Grenze der Mandschurei zu entwaffnen. Der sü-chinesifche Autzenminister zurüekgelreten. Nach einer Meldung aus Schanghai trat der Mi nister des Aeußeren, Huangfu, von seinem Posten zurück, weil die Kuomintang behauptete, er habe bei der Rege lung des Zwischensalles von Nanking zu viel Konzes sionen gemacht und er sei gegenüber den Japanern zu versöhnlich gewesen. Giftgase über einer Wellfta-t. Was den Großstädten in einen« Znknnftskrieg bevorsteht. . . Giftgase über Hamburg! Dieser Schreckensruf ver breitete sich mit Blitzesschnelle in der Millionenstadt. Aber schon hatte die furchtbare unheimliche Macht, die man moderne Giftgase nennt, sich langsam und unwider stehlich über den Hamburger Hafen und die Elbinsel Wilhelmsburg herangewülzt, Tod und Verderben ver breitend. Ahnungslose Passanten wurden von dem Phosgengas, dem gefährlichsten aller Giftgase, über rascht und im Nu waren sie die Opfer dieser unheim lichen Eiftwolke. 12 Todesopfer sind bereits zu bekla gen und mehr als 90 Menschen liegen unter schweren Vergiftungserscheinungen darnieder. Es muß als ein seltenes Glück im Unglücke bezeichnet werden, daß zu der Zeit der Explosion, die die Giftgase zum Entweichen brachte, Regen einsetzte, durch den die verheerende Wir kung stark abgeschwächt wurde. Denn Feuchtigkeit jeder Art, nicht nur Regen, bildet den besten Schutz gegen Phosgenvergistungen. Auch die Windrichtung, durch die die Eiftgaswolken nach der Lüneburger Heide ge trieben wurden, verhinderte weiteres Unglück. Die Schuldsrage wird erst noch genau zu prüsen sein. Ver schiedene, sehr dunkle Dinge werden da ihre Aufklärung finden müssen. Woher stammt das gefährliche Phosgen gas? Ist es noch ein Restbestand aus der Kriegszeit oder hat es die Firma Dr. Hugo Stolzenberg, die sich in Konkurs befindet, und bei der der Easkessel explo diert ist, sich auf ungesetzlichem Wege in den Besitz dieses gefährlichsten aller Gifte gesetzt? Sind alle Vorschrifts maßnahmen, die für die Aufbewahrung und Fabrika tion von Gift- und Explosivstoffen gesetzlich gelten, ge troffen worden? Und schließlich, was wird man tun müssen, um für die Zukunft ein ähnliches Unglück zu vermeiden? Vielleicht sind die Opfer nicht umsonst gestorben! Mit unheimlicher Eindeutigkeit hat das Hamburger Unglück die Schrecken eines zukünftigen Krieges uns vor Augen geführt. Es gibt keinen Militärsachverstän digen von Rang, der nicht offen eingestehen würde, daß der künftige Krieg mit chemischen Mitteln, d. h. also, mit Giftgasen, ausgekämpft wird. Flugzeugge schwader können wehrlose Städte überfallen und in dem Bruchteil einer Sekunde Tod und Verderben bringen. Es gibt keinen wirklichen Schutz gegen Giftgase. Äuch Gasmasken sind ungenügend. Denn die moderne chemi sche Wissenschast ist in einem unaufhaltsamen Sieges zuge begriffen und in ihren Laboratorien werden täglich neue Erfindungen gemacht, die jeden Schutz wieder illu sorisch machen. Auch ist es unmöglich, alle Einwohner eines Landes mit so kostspieligen Schutzmaßnahmen, wie es Gasmasken sind, zu versorgen. Verderblich wäre es, auf irgendwelche internationale Abmachungen zu hoffen. Das beste Beispiel bietet der Weltkrieg, in dein trotz der Genfer Konvention Giftgase verwandt wurden. Auch vor der Zivilbevölkerung wird man in einem zu künftigen Krieg nicht Halt machen. Die einzige Hoff nung bleibt, daß die Furchtbarkeit der modernen und zukünftigen Kriegsführung den Krieg als Mittel zur Austragung von Streitigkeiten zwischen den Völkern unmöglich macht. Das Hamburger Unglück, das ver ursacht wurde durch ein paar Kilogramm Phosgen, das durch eine Explosion ausströmen konnte, möge ein War nungszeichen sein. Was ist Phosgengas? Es ist eine Phosphorver bindung, die in ihrer Wirkung zu den furchtbarsten Ver bindungen gehört, die die chemische Wissenschaft bisher gefunden hat. Ein halbes Gramm Phosgen genügt, um pro Kubikmeter Luft einen Menschen, der diese Mischung nur eine Minute einatmet, unfehlbar zu töten. Die Menschen sterben unter schweren Erstickungs- und Vergistungssymptomen. Im Kriege wurde Phos gengas neben dem berüchtigten Gelbkreuz- und Blau kreuzgeschossen verwandt. Heute ist Phosgen noch für gewisse chemische Farbverbindungen unentbehrlich, aber es wird nur in ganz minimalen Mengen aufgespeichert und verwandt und unter Einhaltung aller nur erdenk lichen Vorsichtsmaßregeln aufbewahrt. Auf jeden Fall ist es nun Aufgabe der Behörden, die Schuldfrage ein gehend zu prüfen. Bedeutende Berliner Chemiker sind nach Hamburg gefahren, um den Sachverhalt zu unter suchen und um die Gefahren abzuschwächen. Daß sich der Bevölkerung begreiflicherweise eine große Be unruhigung bemächtigt hat, ist nicht wunderzunehmen, aber gleichzeitig kann mit aller Entschiedenheit behaup tet werden, daß dieser Fall einzig dastehend ist und daß ein Grund zur Beunruhigung nicht vorliegt. Die Giftgase sind in ihrer Wirkung verschieden. Zu den erstickenden Gasen gehören Chlor, das die Schleim häute heftig angreift, es ist zweieinhalbmal schwerer als die Luft und hält sich am Boden. Schwefeldioxyd erkennt man daran, daß es bei Gegenwart von Wasser die Pflanzenstofse entfärbt (daher erhält bei einem mit ihm ausgeführten Gasangriff die gesamte Vegetation ein geisterbleiches Aussehen). Erstickend und tränen erzeugend wirken Phosgen und Ammoniak, ferner Chlorkohlensäuremethyläther, eine scharfriechende Flüs sigkeit, die Chlor abgibt. Stark giftig ist in seiner Wirkung ferner gasförmiger Phosphorwasserstofs (Phosphin). In den letzten Kriegsjahren wurde auf beiden Seiten besonders Senfgas verschossen und die furchtbar giftige Blausäure. Die Opfer der Hamburger Katastrophe. Von den durch das Explosionsunglück Erkrankte» haben sich im Laufe des gestrigen Tages weitere 49 Personen in die staatlichen Krankenhäuser begeben. Die meisten von ihnen konnten nach der Untersuchung wie der entlassen werden. Insgesamt befanden sich heute vormittag in den Krankenhäusern zur Beobachtung 12 Kranke, ferner 85 Leichterkrankte, 39 Mittelschmer Er krankte, 6 Schwererkrankte, 27 in ambulanter Behand lung. Ein Erkrankter befindet sich in einem Privat krankenhaus. Von den Schwererkrankten ist in der ver gangenen Nacht einer gestorben, so daß sich die Gesamt zahl Ler Toten in Hamburg allein auf sechs erhöht, wozu noch drei Tote in Wilhelmsburg und eine Tote in Altona kommen. Bei drei weiteren Schwererkranr- ten ist der Befund zur Zeit noch zweifelhaft. Alle übrigen Kranken sind außer Lebensgefahr. Die Be stünde der Nahrungsmittellüden in dem betroffenen Gebiet sind von amtlichen Sachverständigen untersucht worden. Polnische TenöenzmelÄnngen über die Hamburger GKskniMrophe. 23. Mai !9 8 Ueber die Hamburger Gaskatastrophe werden von einer Anzahl polnischer Blätter teilweise irreführende Nachrichten verbreitet. Eine Zeitung berichtet, daß Gelbkreuzgranaten in Hamburg explodiert seien. Der Berliner Korrespondent des „Kurier Czerwony" berich tet über den Vorfall, als ob es sich um geheime deutsche Easkriegsvorbereitungen handelt und erklärt in einem Telegramm, daß Deutschland in einem Kriege oer mittels Flugzeugen und Zeppelinen ganze Millionen städte vergasen könne. Eine vernünftige französische Stimme zum Hamümgrr Eistgasunglück. In wohltuendem Gegensatz zu den gehässigen Ver dächtigungen der französischen Presse aus Anlaß des Hamburger Giftgasunglücks stehen die Ausführungen die der Leiter des französischen Gaskrieges, Proß Maureu, dem „Jntransigeant" gegenüber machte. Tas Phosgen, so erklärte der Gelehrte u. a., dient in der Tat zur Herstellung von Farbstoffen, Medikament» und selbst Explosivstoffen, die in Friedenszeiten für die Ausbeutung von Steinbrüchen, Gruben usw. notwendig sind. Der Unfall will also nicht besagen, daß Deutsch land heimlich Giftgas herstelle.