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Ottendorfer Zeitung : 14.08.1904
- Erscheinungsdatum
- 1904-08-14
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Privatperson
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1811457398-190408148
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1811457398-19040814
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1811457398-19040814
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Ottendorfer Zeitung
-
Jahr
1904
-
Monat
1904-08
- Tag 1904-08-14
-
Monat
1904-08
-
Jahr
1904
- Titel
- Ottendorfer Zeitung : 14.08.1904
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politische Kuncilckau. Ter russisch-japanische Krieg. *Der Petersburger Berichterstatter des .Daily Expreß' erfährt, die verzweifelte Lage Kuropatkins verursache die größte Besorgnis. In den amtlichen Kreisen Peters burgs werde anerkannt, daß die Japaner in strategisch unantastbarer Stellung seien und der russischeVorstoß schließlich unglücklich endigen müsse. Ein neuer Feldzugs plan sei fast be endet und werde Kuropatkin in wenigen Tagen drahtlich übermittelt werden. Kuropatkin werde darin angewiesen, die gegenwärtige Stellung so lange wie möglich zu halten, sich allmählich nach den Winterquartieren von Charbin zurück zuziehen und Port Arthur seinem Schick sale zu überlassen. Der neue Feldzug werde in Charbin organisiert werden. * Am 4. August soll ein zweiter umfassender Angriff der Japaner auf Port Arthur staltgefunden haben; der Kampf soll der blutigste des ganzen bisherigen Feldzuges gewesen und für die Japaner erfolglos geblieben sein; aus Japan oder aus der Lügenfabrik Tschifu (bei Wei-Hai-Wei) wird darüber nichts gemeldet. Alle sonstigen Nachrichten über Port Arthur be ziehen sich noch auf die Kämpfe am Ende vorigen Monats. Sie find aber widersprechend und tragen zur Klärung der wirklichen Sachlage so gut wie nichts bei. * Kurokis Armee soll gegenwärtig 400000 Mann betragen; Kuropatkin hat vom Norden her 150 000 Mann Verstärkungen er halten, ist aber immer noch schwächer, als die ihm gegenüberstehenden Japaner. *Die russische Ostseeslotte soll am 16. d. ihre Ausreise nach Ostasien antreten. Die Dauer der Fahrt ist auf 60 Tage be rechnet. Die Flotte besteht aus 60 Schiffen: 8 Panzerschiffe, 9 Panzerkreuzer, ferner Kreuzer 2. Klasse, Minenboole, Torpedoboote usw. * * * Deutschland. *Der Kaiser ist Mittwoch abend aus Swinemünde-Steitin in Berlin eingeüoffen, um am Donnerstag mittag nach Wilhelms höhe, wo sich zurzeit die kaiserliche Familie aufhält, weiterzufahren. *über den Zeitpunkt, zu dem die Handels- Vertrags - Verhandlungen mit Osterreich- Ungarn wieder ausgenommen werden könnten, steht noch nichts fest, da die Unterhandlungen zwischen Österreich-Ungarn und Italien sich länger ausdehnen, als anfangs angenommen wurde. Es ist möglich, daß durch diese Ar beiten die österreichisch-ungarischen Kommissare noch für einen Teil des Monats September in Anspruch genommen werden. Vielleicht kann inzwischen die Wiederaufnahme der deutschen Verhandlungen mit der Schweiz ins Auge gefaßt werden. *über die künftigen Marinesorde rungen schreibt die ,Nattonallib. Korresp.': Ob dem Reichstag bereits in seinem nächsten Tagungsabschnitt Anträge zur Förderung der Wehrkraft Deutschlands zur See gemacht werden, steht aus zwei Gründen zurzeit noch nicht fest. Zunächst läßt sich noch nicht voll ständig übersehen, welchen Umfang die Forde rungen für die Verstärkung der Wehr zu Lande gewinnen werden; außerdem aber wird für die Art der Geltendmachung weiterer Forderungen auf dem Gebiete der Ausgestaltung unsrer Wehr zur See bis zu einem gewissen Grade maßgebend sein, inwieweit die einzelnen Nationen aus den neuesten Kriegsvorgängen Erfahrungen zu ziehen für richtig halten. * Der Bedarf der in S üd w e st a frik a im Felde stehenden Truppen an Pferden, sowie an Zug- und Schlachtvieh ist zum Teil auch durch Beschaffungen aus der benach barten Kapkolonie gedeckt worden. Wie die ,Nat.-Ztg.' erfährt, waren bis ungefähr zur Mitte des vorigen Monats von Kapland zur Verschiffung»ach Südwestafüka gebracht worden: 1310 Pferde, 420 Maultiere, 1400 Zugochsen und 70 Ochsenwagen. *Die Einkreisung der Hereros am Waterberg ist jetzt auch im Westen und Norden enger geworden. Frankreich. * Waldeck-Rousseau, der frühere französische Ministerpräsident, ist am Mittwoch nachmittag an den Folgen einer neuen Operation der Leber, die zwei Stunden dauerte, ge storben. Waldeck-Rousseau hat ein Alter von 58 Jahren erreicht. Er wurde zuerst im Jahre 1881 als Mitglied der republikanischen Union in die Deputiertenkammer gewählt und hatte vom 14. November 1881 bis zum 26. Januar 1882 im Ministerium Gambetta das Portefeuille des Innern inne, das ihm in dem von Jules Ferry gebildeten Kabinett im- Februar 1883 von neuem zufiel. Im Oktober 1894 wurde er in den Senat gewählt. Bei der Wahl eines Präsidenten Waldeck-Rousseau der Republik nach dem Rücktritt Casimir Pöriers erhielt Waldeck-Rousseau im Januar 1895 im ersten Wahlgang 184 Stimmen, worauf er zugunsten Faures zurücktrat. Am 22. Juni übernahm er als Ministerpräsident und Minister des Innern die Leitung der Regierung und brachte wieder Ordnung in die durch die Dreyfus-Affäre zerrütteten Verhältnisse. Am 28. Mai 1902 nach den Neuwahlen zur Deputiertenkammer trat Waldeck-Rousseau mit seinem ganzen Kabinett zurück. Sein Nach folger wurde der gegenwärtige Minister präsident Combes. Rußland. * Ein Manifest der russischen Revo lutionäre, worin die Gründe der Er mordung Plehwes auseinandergesetzt waren, soll, wie über Wien gemeldet wird, der Z ar in seinem Arbeitszimmer im Palais zu Peterhof vorgefunden haben, als er von der Beerdigung Plehwes zurückkehrte. Darin sei gleichzeitig erklärt worden, daß die Terroristen partei in Ausführung des Beschlusses ihres Aktionskomitees forifahren werde, alle Hinder nisse und Personen zu beseitigen, die der Be freiung des russischen Volkes von der Despotie im Wege stehen. Der Zar übergab das Doku ment dem Justizminister Murawiew und beauf tragte ihn, die Untersuchung selbst zu führen. Der Palaiskommandant General Hesse soll seines Amtes enthoben werden. Balkanstaate«. * Die Durchfahrt durch die Dardanellen für Schiffe der Freiwilligen--Flotte hat die Pforte bewilligt, nachdem seitens der russischen Regierung eine Zusicherung bezüglich der Beibehaltung der Handelsflagge ab gegeben worden ist. * Der serbische Ministerrat beschloß, trotz der Agitation im ganzen Lande die Krönung König Peters so einfach wie möglich am 21. September in Belgrad zu vollziehen. Afrika. *Die finanzielle Notlage Ma ro k k o s ist — wenigstens für den Augenblick — behoben. Wie aus Tanger gemeldet wird, teilen die Beamten der Pariser Bank mit, daß sie nunmehr überall 60 Prozent der Zollge bühren zurückbehalten. Der marokkanischen Regierung wird damit ermöglicht, 15 Millionen, die in vierzehn Tagen in Tanger eintreffen, abzuheben. Alton Brooks Parker, Präsident Roosevelts Ronkurrent. b. Wer ist „Oberrichter Parker?" So hat wohl mancher gefragt, als die Nachricht übers Meer kam, daß dieser Mann von den Demo kraten in der bevorstehenden heißen Wahlschlacht um den Sitz des Präsidenten einem Roosevelt gegenübergestellt worden ist. Bei dem allge meinen Interesse, das dieses Ringen in der nächsten Zeit in Anspruch nehmen wird, ge winnt ein fesselndes Charakterbild dieses eigen artigen Mannes, das M. G. Cunniff in ,The Worlds Work' veröffentlicht, eine besondere Bedeutung; im folgenden seien einige Züge daraus wiedergegeben. Jeden Morgen um 10 Uhr, wenn sich die sieben Mitglieder des höchsten Gerichtshofes im Staat New Jork in ihrem hohen, rot ausgeschlagenen Saale ver sammeln, sitzt auf dem Präsidentenplatze im eichenen Stuhle ein kräftiger, breitschultriger Mann; das ist Alton Brooks Parker. Sein Schnurrbart ist braun mit einer leise rötlichen Färbung; sein Haar, durch das sich schon graue Fäden ziehen, ist dunkelbraun; hellbraun ist sein lebhaft leuchtendes Auge. Manch Bad im Hudson, manch Ritt aus bloßem Pferderücken durch fegenden Wintersturm und die August sonne, die auf den Feldern brütet, hat diesen athletischen Körper gestählt, sein blühendes Antlitz kündet von einer unerschöpflichen Lebens kraft und Frische und zugleich auch von einem starken Intellekt und einer eisernen Energie. Wenn er redet, so dringen scharfe durchbohrende Blicke aus den Winkeln seiner kleinen Augen und seinem wohllautenden Organ geben die energischen Bewegungen seines markanten Kinns einen bedeutsamen Akzent. Eine feier liche und doch elegante Würde geht von ihm aus, eine ernste Entschlossenheit paart sich mit einem in den lächelnden Mundwinkeln und den hochgezogenen Augenbrauen lauernden freund lichen Humor. Parker wurde 1851 auf einer Farm in Cortland, New Jork, geboren. Als er noch ein kleiner Bube war, nahm ihn sein Vater mit nach dem Gericht, und das machte solchen Eindruck auf Alton, daß er durchaus Advokat werden wollte. Nachdem er die Schule durch gemacht hatte, suchte er sich zunächst eine Stellung als Lehrer und fand schließlich eine bei der kleinen Stadtschule zu Virgil. Das er zählte er seinem Vater. „Was?" sagte der, „ich habe eben ein besseres Anerbieten für dich erhalten." — „Nun, dann will ich die Stelle in Virgil aufgeben," antwortete der Sohn. Doch der Vater erklärte: „Nein, du hast dich einmal dort verpflichtet und mußt dein Versprechen halten." Diese ehrenhaften Gesinnungen des alten Parker fielen bei dem Sohne auf frucht baren Boden und haben die schönsten Früchte getragen. Als Lehrer verheiratete er sich und erwarb sich soviel Geld, um sich dem Studium des Rechts widmen zu können. Für seine ge waltigen Körperkräfte, die ihm auch beim Ver prügeln manches ungebärdigen Schuljungen gute Dienste leisteten, fand er Tätigkeit in harter Arbeit auf der Farm seines Vaters während der Sommermonate. Nach dem er seine juristischen Examina be standen und eine einträgliche Stellung als Nachlaßrichter erlangt hatte, begann er auch seine Laufbahn als Politiker und stand in manchen Kämpfen wacker seinen Mann, bis ihn schließlich Präsident Cleveland nach Washington berief, um ihm die Stelle des „First Assistant Poftmaster General" anzubieten. Parker lehnte aber dieses Anerbieten höflich, doch ent schieden ab. Während er und Cleveland noch verhandelten, trat der Oberpostmeister Vilas mit dem von ihm vorgeschlageuen Kandidaten Stevenson ein. „Parker will die Stellung nicht annehmen," sagte Cleveland. Vilas sah sich den jungen Mann erstaunt an. „Darf ich fragen, warum, Mr. Parker?" „Ich kann nicht eine Stellung mit einem jährlichen Gehalt von 20 000 Nik. aufgeben," entgegnete Parker, „gegen eine, die 12 000 Mk. bringt." „Aber ich gab eine Stellung von 40 000 Mk. auf, um diese für 32 000 Mk. anzunehmen," wandte Vilas ein, worauf Parker entgegnete: „Wenn ich auch zehn oder zwölf Jahre lang 40 000 Mark jährlich gehabt hätte, dann könnte ich auch diese Stellung annehmen. So nicht." So ward schon 1885 der dreiunddreißig jährige Mann bekannt, der eine solche Stellung ausgeschlagen und die demokratische Partei New Jorks zum Siege geführt hatte. Doch der Sinn Parkers stand nach Höherem; sein Ziel war das New Iorker Obergericht. Und schon mit 34 Jahren wurde er als der jüngste Mann, der je in diese hohe Stellung eingerückt war, Mitglied des „Suprem Court". Parker ist das Ideal eines guten Richters. Ein tieier Sinn für Verantwortlichkeit, eine enthusiastische Begeisterung für seinen hohen Beruf, ein feines und seelenvolles Mitfühlen und Verstehen lebt in ihm. Für ihn ist Gerechtigkeit das Welt prinzip, das er verehrt, wie für den Künstler die Schönheit, für den Gläubigen die Religion. Im Jahre 1897 wurde Parker zum Vorsitzenden des Appellationsgerichtes gewählt, obwohl das Jahr vorher die völlige Niederlage der Demo kraten bei der Wahl Mac Kinleys zum Präsi denten besiegelt worden war und eigentlich an zunehmen war, daß kein Demokrat einen so hohen Staatsposten erhalten konnte. Trotzdem wurde Parker mit einer Majorität von 60 000 Stimmen gewählt. Seine unerschütterliche Ehrlichkeit und Energie bewies er auch als Auffichtsrat einer großen Bank in Kingston; als diese durch die Unehrlich keit zweier Angestellten in Zahlungsschwierig keiten geriet, revete er der Auszahlung fordernden Menge zu und durch sein Auftreten gewann er das Vertrauen wieder, so daß alle ihre Depo siten der Bank beließen, und dann setzte Parker seine Kraft darein, das Institut zu rehabili tieren. Sein ganzes Leben ist seiner Richter tätigkeit gewidmet und — seiner Farm. Zu Esopns, zehn englische Meilen unterhalb Kingston, hat er sich ein Gut gekauft und hier sät er und erntet er, besichtigt sorgsam sein Vieh und freut sich an jedem Stück von guter Rasse. Jeden Morgen steht er um V26 Uhr auf und reitet dann eine Stunde auf seinem Lieblingspferd Tom durch die Vorstädte von Albany. Dann verbringt er den Tag in angestrengter Arbeit,, aber Freitag abend fährt er nach seiner Farm und verbringt hier zwei Tage in einer Idylle des Landlebens, sich kräftigend in der freien Natur und neue Frische schöpfend aus dem reichen Schatze seiner Bibliothek. Seine ganze Weltanschauung ist gegründet auf einen heiligen Glauben an das Volk und an seine Kraft. „Wo immer ein Eingreifen der Regierung in das Leben der einzelnen oder der Gesamtheit von nöten ist," sagt er, „da muß dies von den Vertretern des Volkes autorisiert werden, die wieder in kurzen Zwischenräumen dem Volke selbst Rechenschaft ablegen müssen." Von unä fern. „Eine vierte Instanz in Rechtssachen" wird am 1. September ins Leben treten und zwar in Gestalt eines Monatsblattes für Kritik der Rechtssprechung und Gesetzgebung, das den Titel ,Die vierte Instanz' führen soll und von Dr. Ed. Löwenthal (Berlin-Tegel), unter Mit wirkung hervorragender Juristen herausgegeben wird. Der Herausgeber geht davon aus, daß die Herrschaft des Rechtes die erste Voraus setzung für die Erreichung der geistigen und ethischen Ziele der Menschheit ist, daß aber unsre Gesetze an großen Mängeln leiden und daß auch die Richter an sich nicht unfehlbar find. Eine, wenn auch nur theoretische Kritik der Rechtsprechung und Gesetzgebung dürfte daher jedenfalls geeignet sein, einen heilsamen und segensreichen Einfluß auf unsre Rechts verhältnisse auszuüben. (Wenn das Blatt ruhig und rein sachlich gehalten wird, kann es sehr segensreich wirken. Unzweifelhaft haben sich die Fälle von Rechtsprechung stark gemehrt, in denen das richterliche Urteil mit dem Volks empfinden nicht im Einklang steht. Darauf aber gerade beruht das Vertrauen des Volkes in die Rechtsprechung: Gerechtigkeit erhöhet ein Volk.) U Oer sauberer von Paris. 17) Roman von S. I. Weymann. isscrlietzMa.l Aber dieser Wunsch blieb unerfüllt. Die Fremden, die lange genug auf dem Hofe gewartet hatten, sahen ihre Neugierde reichlich belohnt. Es war eine traurige Pro zession, die von dem Palais Vidoche aus sich durch die schweigsamen Straßen wand. Ein paar Fackelträger beleuchteten den Weg, dann folgte eine zahlreiche Schar bewaffneter Knechte, die zwei Tragbahren umringten. Als die schweren Schritte durch die finstere Nacht hallten, flohen die obdachlosen Wichte, wie gehetzte Rehe vor den Hunden. Ja, sie waren arm und elend, kaum fähig, sich vor dem Erfrieren und Verhungern zu schützen, — doch es gab noch Schrecklicheres als den Tod, der sich unter dem eisigen Hauche des Frostes einstellt — weit Schrecklicheres sogar als den Tod, der den erschöpften Körper von qualvollem Hunger be freit: Und darum flohen die obdachlosen Schelme und die nächtlichen Strolche vor dem grellen Fackellichte der Prozession. Sie segneten ihre Lumpen, sie waren ausgesöhnt mit ihrem Geschick und bemitleideten vom Grunde ihrer Seele den Gefangenen des Königs dort, dort hinter den Fackelträgern. 8. Neue Bekannte und ein alter. Das volle Verständnis für die Absichten des Herrn von Vidoche war dem Knaben nur all mählich in seinem Versteck gekommen. In dem ¬ selben Augenblick jedoch war auch schon der Entschluß in ihm reif, die Pläne des Edel mannes zu vereiteln. Ohne weiteres Nach denken schritt er zur Tat. Er vergaß alle Vorsicht; in seiner Angst, daß er vielleicht zu spät kommen könne, stürzte er auf die Straße, ohne sich darum zu kümmern, ob seine hastigen Tritte dem Meister die Flucht verraten würden. Galt es doch, das einzige Wesen zu retten, das jemals freundlich mit ihm gesprochen. Er hatte niemals die gütigen Worte der Edelfrau im Gasthause vergessen und das Bewußtsein, daß sie Gefallen an ihm gefunden habe, — sie, die gute, vornehme, schöne Frau — hatte ihm als einziger Lichtstrahl in dem finsteren Hause des Zauberers geleuchtet! . . . Und jetzt ging dieselbe Frau ahnungslos in das Netz hinein, das ihr der Meister mit teuflischer Tücke gelegt hatte. Wehe dem Manne, der nicht als Knabe ritterliche Instinkte besitzt! Diese Instinkte waren zum erstenmal in Jehann erwacht und je länger sie untätig geschlafen hatten, desto stärker erfaßten sie jetzt das ganze Wesen des zwölfjährigen Burschen. Jehann hatte zuerst nur die Absicht, Frau von Vidoche von dem Gespräche zu benach richtigen, dem er gelauscht hatte. Er wollte sie nur warnen; dann konnte sie nach eigenem Gutdünken ihre Maßregeln treffen. Ihn plagte jedoch der Gedanke, daß seine Warnung zu spät kommen könnte. Er stürzte in fiebernder Hast auf die Gasse und suchte die Dunkelheit mit seinen Blicken zu durchbohren. Wo waren die beiden Frauen geblieben? Würde ihre Gestalt nicht endlich aus der Nacht austauchen? O, daß der Mond doch schiene! Jehann stolperte über einen Eckstein — er raffte sich auf und stürzte weiter — vorwärts, immer vorwärts. Sollte er rufen? Sollte er in die Nacht hinausschreien? Er sehnte sich danach, nach einem einzigen langen, langen Schrei. Doch nein! Die Wache würde herbei eilen und dann wäre alles, alles verloren! Da plötzlich hoben sich die Umrisse zweier Frauen gegen eine hohe Mauer ab und in demselben Augenblicke schoß dem Knaben ein Gedanke durch den Kopf, der ihm bisher völlig fremd gewesen. Wer vermöchte die Ursache einer plötzlichen Eingebung wie dieser zu er gründen? War es die erbarmungslose Schule der Schurkerei, die er bei dem Trommler und dem Astrologen durchgemacht, oder der Instinkt der Rache, oder eine natürliche Anlage, Unheil zu stiften? Vielleicht wirkten alle diese Gründe zusammen. Tatsache war, daß ein neuer Plan dem Knaben plötzlich vor Augen stand — fertig, vollkommen in allen Teilen. Nur wenige Augenblicke waren ihm ver gönnt, seine Gedanken zu sammeln, bis er an Madames Seite stand. Er benutzte diesen kurzen Zeitraum nicht, um etwas zu dem Plane hinzu zufügen, sondern nur, um das fertige Bild mit kühnem Auge zu betrachten und triumphierend sich an demselben zu ergötzen. Rachel Mit einem Male winkte sie ihm, die längst ersehnte Rache sür all die Mißhandlungen und Grausam keiten, die er erduldet hatte vom ersten Augen blicke, an den er nur zurückdenken konnte. Rache an dem Trommler für jeden Schlag und jeden Stoß! Rache an dem verhaßten Meister! O, wie war das Gefühl so süß, daß er dem bösen M^nne einen Streich spielen, daß er die Lüge seiner Allwissenheit entlarven und zu gleicher Zeit das einzige Wesen retten konnte, das er je geliebt — außer Taras, dem Affen. Ein Bedenken gegen sein Vorhaben kam ihm nicht in den Sinn und als der Augenblick sich eingestellt hatte, seine Rolle zu spielen, führte Jehann dieselbe erbarmungslos bis in die kleinsten Einzelheiten durch. Dann folgte er Madame in das Haus. Er spürte keine Gewissensbisse; er war nur neu gierig, wie sich jetzt alles gestalten würde. Und als Herr von Vidoche den Becher leerte, triumphierte Jehann in seinem Herzen. Aber dann? . . . . O! Alster von seinem Verstecke aus alles gesehen hatte — als er sich bei jedem Schrei aus dem Munde des sterbenden Mannes gekrümmt hatte, wie wenn das Gift in seinem eigenen Körper brenne, — als er dann die Verzweiflung derselben Frau mit an gesehen, der er eine Wohltat erweisen wollte — als er vergebens versucht hatte, ihren Schrei mit seinem eigenen Lechzen zu übertönen, da wußte er alles, alles. Er schlich die Treppe hinab, gebrochen an Geist und Körper, todesmüde, sich selbst und die Welt verabscheuend. Die finstere Nacht war ihm willkommen und sogar der eisige Frost: konnte er nur dem Hause entfliehen und diesem Schrei, diesem entsetzlichen Schrei! Aber so schnell er auch eilte, der Schrei folgte ihm überall. Er jagte durch die Straßen und Gassen, über Brücken und Plätze, vorbei
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