Suche löschen...
Ottendorfer Zeitung : 31.08.1904
- Erscheinungsdatum
- 1904-08-31
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Privatperson
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1811457398-190408311
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1811457398-19040831
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1811457398-19040831
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Ottendorfer Zeitung
-
Jahr
1904
-
Monat
1904-08
- Tag 1904-08-31
-
Monat
1904-08
-
Jahr
1904
- Titel
- Ottendorfer Zeitung : 31.08.1904
- Autor
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
politische Kuncilckau. Der russisch-japanische Krieg. *Eine Meldung aus Schanghai besagt: Nach japanischen Nachrichten besteht die Absicht, Port Arthur noch in dieser Woche zu bombardieren und nächster Tage mit dem allgemeinen Sturm auf die von den Russen noch besetzten Stellungen zu beginnen, ohne Rücksicht auf Menschenleben, und ein Tele gramm der,Tribuna' in Rom aus Liaujang behauptet, die Japaner würden sofort nach dem Fall von Port Arthur die Insel Sachalin besetzen und sie zur Operationsbafis machen. *Zwei russische Torpedoboots zerstörer stießen nach einer,Reuter'-Meldung aus Tokio am Mittwoch abend beim Eingang zum Hafen von Port Arthur auf Minen; der größere von beiden, der 4 Schornsteine hatte, sank; über die Namen der Schiffe und Ver luste von Menschenleben ist nichts bekannt. * Kuroki hat seinen Vormarsch gegen Liaujang wieder ausgenommen. Man wird indessen aus seinem Plane nicht klug. Erst hat er Stackelberg entweichen lassen, dann schwächt er durch Abkommandierung nach Süden sein Heer, wo er fast schon die Gewißheit hatte, Kuropatkin zu umzingeln, endlich greift er mit seinem geschwächten Heere Kuropatkin von neuem an. Selbstverständlich schreiben sich beide Seiten den Sieg zu. * Der Streit um die in den Hafen von Schanghai eingelaufenen russischen Kriegs schiffe „Askold" und „Grosowa" ist beigelegt. Auf telegraphische Anordnung des Zaren sind die Schiffe entwaffnet worden. Für den jetzigen Krieg sprechen sie also nicht mehr mit. Hoffnungen setzt man in Rußland immer noch aus die beiden übrig gebliebenen Kreuzer des Wladiwostok - Geschwaders; die Führer find von neuem mit Orden und höheren Titeln bedacht worden; das wird aber den Ruffen nichts helfen. * Vor einiger Zeit schon hieß es, daß Schiffe des baltischenGeschwaders nach Ost - asien unterwegs seien. Die Nachricht wurde angezweifelt und schließlich widerrufen. Jetzt stellt sich heraus, daß mehrere russische Kriegs schiffe nach den südafrikanischen Gewässern unterwegs seien. Nachdem nämlich der Suez kanal und das Rote Meer für die Beförderung von Kriegskonterbande von England nach Japan durch die russische Hilsskreuzer-Aktion gefährdet erschien, wählten die englischen Schiffe den Weg um das Kap. In England ist man nun in großer Aufregung, daß dort unten an der Süd spitze Afrikas auch russische Kriegsfahrzeuge auf tauchen. Zwar haben die Engländer ein reines Gewissen — sie würden nie auf Kosten der strengen Neutralität ein Geschäft des Profites wegen machen! — aber die Russen sind zu eng herzig in der Auslegung des Begriffes „Konter bande", und daher die Beklemmung in England, übrigens hat die englische Regierung — gleich falls ein Beweis für ihre Neutralität — die Abgabe von Kohlen an russische Schiffe aus ihren südafrikanischen Häfen verboten. * * Deutschland. *Es scheint sich zu bestätigen, daß im Reichsfchatzamt ein Gesetzentwurf, betreffend Änderung des Brausteuergesetzes vorbereitet wird. Die Vorlage bezweckt eine Entlastung der kleinen und mittleren Brauereien auf Kosten der großen, ohne Mehrerträge in Ausficht zu nehmen; jedoch wird es in Re gierungskreisen nicht als ausgeschlossen be trachtet, daß der Reichstag die neue Grundlage benutzen wird, um der Reichskasse ver mehrte Einnahmen zuzusühren. Der Staatssekretär v. Stengel wird am 1. September aus dem Urlaub zurückkehlen. *Das Gesetz betreffend die Gründung neuer Ansiedelungen in den Pro vinzen Ostpreußen, Westpreußen, Brandenburg, Pommern, Posen, Schlesien, Sachsen und West falen wird in der Gesetzsammlung veröffentlicht. *Wie in Frankfurt a. M., so ist dem österreichischen sozialdemokratischen Abgeordneten Perner st orsser auch von Heisen das Auftreten in einer Versammlung verboten, dagegen in Baden gestattet worden. Osterrrich-Ungarn. *Der Kaiser hat verfügt, daß größere Manöver in Böhmen unterbleiben sollen und die Übungen in den verschiedenen Korpsbereichen mit dem 31. August abzu- schließen seien. *Jn der galizischen Grenzstation Hufiatin wurden auf Ersuchen der russischen Behörden von der österreichischen Polizei zwei Sozialisten namens Krasnow und Woldamie verhaftet und dem Kreisgericht in Tarnopol eingeliefert. Sie hatten versucht, revolutionäre Schriften nach Rußland einzuschmuggcln. (Möglicherweise entspinnt sich daraus ein Prozeß L 1» Königsberg; zwischen Osteneich und Ruß land existiert indessen ein entsprechender Gegen seitigkeitsvertrag.) England. * Die über den Gesundheitszustand des Königs Eduard verbreiteten Gerüchte find — dem ,Neuen Wiener Tagbl.' zufolge — unbegründet. Das Befinden des Königs sei in jeder Beziehung ausgezeichnet. Italien. *Um dem Zeitungsstreit über den Titel eines eventuellen Thronfolgers eiu Ende zu machen, wurde seitens der Regierung bekannt gegeben, daß für den Fall der Geburt eines Thronfolgers dieser den Titel eines Kron prinzen von Italien führen soll. Der Vatikan hatte in seinen Blättern erklären lassen, den Titel „Prinz von Rom" als eine Be leidigung zu betrachten, gegen die er protestieren würde. Schweden-Norwegen. *Die norwegisch-deutsche Staats- bahnen-Frachtenkonferenz trat am Mittwoch vormittag in Christiania zu sammen. Es lag eine Reihe Fragen zur Be ratung vor, u. a. ein Vorschlag der norwegischen Staatsbahnen um Einführung von Ausnahme- srachten für frische Heringe in ganzen Wagen ladungen von Norwegen nach Berlin, Stettin, Rostock und Lübeck. Der Vorschlag wurde nach lebhafter Diskussion angenommen. Es wurde ferner beschlossen, daß ein Komitee am 12. Sep tember d. in München zusammentreten soll, um die begonnene Tarifarbeit zu vollenden. Balkanstaaten. * In Mazedonien veranlaßte dieHäufung blutiger Grenzscharmützel an der bulgarischen Südgrenze die türkische und die bulgarische Regierung zur Schaffung einer neutralen Zone von vier Kilometer Breite, die bereits abgegrenzt wurde. * Die Kundgebungen, die kürzlich auf Kr et a für die Vereinigung der Insel mitGriechen- land stattfanden, waren, wie einem Berichte von dort zu entnehmen ist, sorgfältig vorbereitet. Schon vor Wochen wurde ein von vielen De putierten der Regierungspartei unterzeichneter Ausruf verbreitet, in welchem es heißt: „Anläßlich der Reife unsres geliebten Fürsten nach Europa, die im laufenden Jahre mit dem Ende der zweiten Periode des Oberkommissariats zusammen fällt, hat das kretische Volk die Pflicht, den Mächten das Mißliche seiner Lage unter den gegenwärtigen provisorischen Verhältnissen darzutun und zu be kunden, daß es bereit ist, jedes Opfer zur Ver wirklichung seines nationalen Joeals, der Vereinigung mit dem griechischen Mutterlande zu bringen. Zu diesem Zwecke wurde es für notwendig erachtet, daß das Volk nach Provinzen sich sammle, um die ent sprechenden Beschlüsse zu fassen." Amerika. *Die al l a m e r i k a n i s ch e E i s e n b a h n- gesellschaft, welche in den Vereinigten Staaten mit einem Kapital von 250 Millionen Dollar ins Leben gerufen wurde, veröffentlicht soeben eine Beschreibung der neuen Linie, die stch über eine Länge von 10 000 Meilen er strecken soll. Ihr nördlicher Anfangspunkt wird Porr Nelson in der Hudsonbai sein. Die Linie wird die kanadische Pacificbahn in der Nähe von Winnipeg kreuzen, hierauf Nebraska und das Jndianergebiet durchqueren und dann Galveston erreichen. Danach soll sie Mexiko und Mittelam erika bis Panama durch queren, endlich über Kolumbien, Ecuador, Peru und Argentinien ihren südlichen Endpunkt bei Buenos Aires erreichen. Eine Zweiglinie wird Buenos Aires mit San Jago de Chile und Valparaiso verbinden. Vie kosten äes Mänekt- afrikamleben feläruges. Von kolonialer Seite wird der ,Dtsch. Tagesztg.' geschrieben: Der Aufstand und der Kampf in Südwestafrika soll einmal von seiner finanziellen Seite betrachtet werden. Ohne Zweifel wird der dem Reichstage zugehende Nachtragsetat die Summe von 30 Mill. Mk. überschreiten und die Gesamtkosten sür den Auf stand find mindestens mit 50 Mill, zu beziffern. Eine richtige Schätzung dieser hohen Summe ist nur möglich durch den Vergleich mit den Ausgaben andrer Kolonialstaaten sür ihre Kolonialkriege. Hierfür bietet das dem eng lischen Parlamente zugegangene Material einen reichlichen Stoff. Danach hat z. B. der Feld zug gegen den Mullah im Somalilande 4'/2 Mill. Pfund oder 90 Mill. Mk. gekostet, ohne daß die Rechnung schon ganz abgeschlossen ist. Fast auf das Doppelte der Ausgaben für Südwestafrika kommt man damit. Dabei steht der Wert von Somaliland zweifellos weit hinter dem von Südwestafrika zurück. Auch ist die Sache nicht gründlich erledigt, da der Mullah entflohen ist und leicht zurückkehren kann. In Rhodesia brach nach der Unterwerfung von Lobengula, dem Häuptling der Matabele, ein Aufstand der Eingeborenen aus, der den Eng ländern länger als ein Jahr zu schaffen machte. Er hat eine Ausgabe von 2V- Mill. Pfund verursacht, kommt also darin dem Hereroauf- stande ungefähr gleich. In den meisten afri kanischen Kolonialkriegen kamen viel größere Ausgaben zum Vorschein, als sür Südwestafrika, so z. B. sür die Eroberung von Dahomey durch die Franzosen, die Unterwerfung des Aschanti reiches, gegen das die Engländer zwei Feldzüge unternehmen mußten, zuerst in den 70 er Jahren und dann über 30 Jahre später. Doch waren es nicht allein solche Kämpfe, die dem Mutter lande so hohe Lasten auferlegten, sondern un unterbrochen erhalten die Kolonien für ihre wirtschaftliche Entwickelung von England Zu schüsse. Für Neu-Südwales hat es 10 Mill. Pfund (200 Mill. Nik.) ausgegeben, bis 1882 ein Gleichgewicht in Einnahmen und Ausgaben eintrat. In England rechnet man nicht, wie in Deutschland darauf, daß Kolonien nach einer kurzen Spanne Zeit Überschüsse bringen sollen. Nach langen praktischen Erfahrungen sucht man den Wert von Kolonien auf andern Gebieten. Zu gleichen Schlüssen führt auch die Kolonial politik Frankreichs, dessen Kolonie Algier über ein halbes Jahrhundert Zuschüsse von etwa 7 Milliarden verlangte, ehe man Erträge für daS Mutterland erblicken konnte. Solche Aus gaben schwächen das Mutterland nicht nur nicht, sondern bringen ihm mit der Zeit Stärkung. Von uncl fern. Starke Schneefälle werden von der Balkan halbinsel gemeldet. In Wien herrschte am Donnerstag empfindliche Kälte. Auch in Ober bayern ist ein vollständiger Witterungsumschlag eingetreten. Nach Meldungen aus Berchtesgaden ist das Wetter dort regnerisch und empfindlich kühl. Alle Berge sind mit Neuschnee bedeckt. Für die durch die Feuersbrunst vom 31. März schwer geschädigten Einwohner des Dorfes Poffessern hat der Kaiser eine Summe von 10 000 Mk. aus seinem Despositionsfonds mit der Maßgabe bewilligt, daß die Verteilung der Unterstützungen an die wirtschaftlich Schwächsten unter den Geschädigten durch den Regierungspräsidenten in Gumbinnen zu er folgen hat. Das Endergebnis des großen Prim- kenauer Waldvrandes ist wlgendes: Be troffen wurden 23—25000 Morgen, davon etwa 20000 Morgen herzoglicher Besitz. Der Gesamtschaden beziffert sich auf 2V- bis 3 Mill. Mk., davon auf das abgebrannte Dorf Neuvorwerk etwa 120 000 Mk. Ein Riesenbrand von Petroleumtanks entstand in Antwerpen am Freitag durch die Explosion eines Petroleumbehälters. Das Petroleum lief aus und entzündete eine in der Nähe befindliche Feldschmiede. Nach kurzer Zeit standen 80 Mill. Liter Petroleum in Flammen. Die schwarze Rauchwolke, die über der Stadt lagerte, hüllte die südlichen Stadt teile in Finsternis. Von 90 Arbeitern, die beim Bau neuer Tanks beschäftigt waren, fehlen sechs. Man befürchtet, daß mehrere Arbeiter in dem Flammenmeer umgekommen find. Der Schaden wird auf 10 Mill, geschätzt. Ein scharfer Torpedoschust wurde Mittwoch in der Kieler Außenföhrde von einem Torpedoboote auf ein mächtiges Holzfloß, das auf der Höhe des Bülker Leuchtturmes verankert war, abgegeben. Kurz vor Mittag kam die aus zehn Hochscetor pedo- booten bestehende Torpedobootsflottille in flotter Fahrt aus dem innern Hafen heraus. Sie dampfte zuerst in See, wendete dann und kehrte unter erheb lich gesteigerter Fahrgeschwindigkeit zurück. Eines der Boote feuerte dann den scharfen Torpedo gegen die durch gelbe Flaggen kenntlich gemachte Scheibe ab. ES folgte ein starker Knall, und gleich zeitig hob sich aus der Flut der gewaltige Wasst:- kegel, in dem sich deutlich einzelne Balken und Balkensplitter unterscheiden ließen, bis zur vollen Höhe des Bülker Leuchtturmes empor. Kerzengrade, etwa 30 bis 40 Meter, stieg die mächtige Wasser säule in die Höhe und fiel erst nach einer Reihe von Miauten in sich zusammen. Das Geschoß hatte aut getroffen und seine volle Wirkung getan. Inzwischen hatten die Torpedoboote abgeflaggt, um das Er gebnis der Übung festzustellen. Die Scheibe war schwer beschädigt unb hatte sich ganz übergelcgt. Admiral v. Köster und zahlreiche See-Offiziere wohnten der seltenen Übung bei. Auf einer Löwenjagd verunglückt und gestorben ist der bei der ostafrikanischen Schutz truppe stehende Feldwebel Hubert Gestrich. Sein in Helsa bei Kassel wohnender Bruder erhielt vom Oberkommando der ostafrikanischen Schutztruppe in Berlin diese Mitteilung. Die Mörder des Grenadiers Erben verhaftet. Wie aus Königsberg gemeldet wird, sind zwei an der Ermordung des Grena diers Erben beteiligte junge Leute ermittelt und verhaftet worden. Es sind dies der Kommis Breuksch und der Arbeiter Struwe, beide aus Königsberg. Ein dritter Beteiligter ist flüchtig geworden. Die Verhafteten wurden auf dem Wege nach dem Gerichtsgefängnis vom Publikum mit Schirmen und Stöcken angegriffen, so daß sie von der Polizei geschützt werden mußten. Breuksch und Struwe waren kurz vor dem Attentat auf den Wachtposten am Tatorte ge sehen worden. Bon einem Stier getötet wurde in Bomlitz in der Lüneburger Heide ein Hütejunge. Der Ärmste wurde von dem wütenden Tiere ganz furchtbar zugerichtet. Das Messer. Der Genoarm Meier aus dem Orte Langenberg bei Auerstädt wurde von zwei polnischen Arbeitern durch Messerstiche lebensgefährlich verletzt. Die Täter wurden noch am selben Tage verhaftet. Die Taxameterdrofchke hat ihren Einzug in Paris gehalten. Am Donnerstag wurden dort tausend Droschken mit Fahrpreisanzeiger in Verkehr gesetzt. Die „Wundcrdoktorin." In Versailles Wurde die wohlhabende schwachsinnige Witwe Fleury das Opfer einer schmählichen Ausbeutung durch eine sogenannte Wunderdoktorin namens Christmann. In deren Hause starb an der Wassersucht Anfang August die zwanzigjährige Tochter der Fleury. Seither unterzog die Christmann den Leichnam einem sehr unvollkommenen MumifikationSverfahren und machte Frau Fleury glauben, die Tochter sei zu einem zeitweiligen Besuche gegangen und werde bald mit überraschenden Mitteilungen wiederkehren und die Welt in Erstaunen setzen. Jüngst drang nun eine polizeiliche Kommission in die Wohnung der Christmann ein, und der Arzt konstatierte, daß der Tod des Mädchens schon vor drei Wochen erfolgt sein müßte. Frau Fleury stemmte sich gegen die Türe und rief den Leichen- träzern zu: „Elende, ihr wollt mein armes Kind lebendig begraben l" Die Christmann schrie: „Hört! In diesem Augenblick flüstern mir die Rachegeister zu: „Versailles wird sür diesen Mord durch den Brand des alten Königsschlosses büßen I" Die Affäre ist noch der Ausklärung bedürftig. K 6m famUien-Geheimnis. 1) Kriminalroman von Eberhard Woldenberg.*) 1. Ein mäßig warmer Frühlingsabend. Der wolkenlose Himmel strahlt im reinsten, fast durchsichtigen Blau. Friedlich kräuselt sich derRauchüberdenDachfirstenderReichshauptstadt, wie goldene Wölkchen, die unter dem Kusse der scheinenden Sonne im Azur zerfließen. Die Fassaden der Potsdamerstraße liegen in der zwiefachen Beleuchtung des niedergehenden Tages und der hier und da schon ausblitzenden Gaslaiernen. Nur in den kleinen Vorgärten flimmert eine sanfte bläuliche Dämmerung. Aus einer stillen Querstraße im unteren Schöneberger Viertel bog ein junger Mann, dessen Äußeres den Studenten verriet, in die belebte Verkehrsader ein, welche von dem Herzen der Riesenstadt hinaus nach dem Vorort Schöne berg führt. Er hatte die Mütze ein wenig nach links aufs Ohr gesetzt, was seiner ganzen Er- scheinung etwas Keckes und Selbstbewußtes verlieh, und schien sich überhaupt in einer stark animierten, unternehmungslustigen Stimmung zu befinden. Aus seinem frischen, lebhaft ge röteten Gesicht blitzten herausfordernd die dunklen Augen hinter den Pincenezgläsern und das elegante Bambusrohr in seiner Rechten be schrieb manchmal kühne, für die Vorüber gehenden aber recht gefahrdrohende Kurven in der Luft. *1 Unberechtigter Nachdruck wird verfolgt. Sein Weg führte ihn über die Potsdamer Brücke nach der innern Stadt. Rechts und links tauchten Magazine und Läden in ununter brochener Folge auf. Die Zahl der Fußgänger vermehrte sich, auf dem Damm rollte die Elektrische, kreuzten sich Droschken und Last wagen. Er befand sich bald mitten im Herzen des großstädtischen Verkehrs. Hinter den glän zend erleuchteten Schaufenstern winkten alle Schätze Europas in geschmackvoller Anordnung. Die Scharen der Passanten schoben sich in buntem Gewimmel an den blitzenden Auslagen vorüber. Die ganze Atmosphäre summte und dröhnte von jenem unentwirrbaren Jneinander- klang hundert verschiedener Geräusche, deren Wirkung auf die Nerven des Großstädters wohltuend und anregend ist. Auch der Student fühlte sich in diesem wogenden und brandenden Ozean von Bildern und Stimmungen äußerst behaglich^ zumal sein abendliches Wandern keinen speziellen Zweck hatte, was den eigentlichen Reiz des Bummelns bekanntermaßen erhöht. Erst vorgestern war er aus der — nach seinen Begriffen — etwas zopfigen Universitäts stadt Halle, wo er sich zwei Semester hindurch gelangweilt, nach der heimatlichen Residenz zu rückgekehlt und hatte heute seine Wiederkehr im Freundeskreise in gebührender Weise gefeiert. Der unter diesem Anlaß leicht zu entschuldigende, etwas reichliche Genuß des edlen Gerstensaftes mochte wohl zum größten Teile der- Erzeuger seiner gehobenen Stimmung sein. Jetzt setzte er seine Mütze noch um eine Nuance schiefer aufs Ohr, faßte den Stock in der Mitte und runzelte die Stirn wie ein über mütiger Jüngling, der im nächsten Augenblick eine Welt zu erobern gedenkt. Vor ihm hing eine reizende graziöse Gestalt, die soeben einen Damenkonfektionsladen ver lassen hatte und jetzt in der Richtung nach dem Potsdamer Platz elastischen Schrittes dahin wandelte. Jede ihrer Bewegungen atmete eine entzückende Anmut, ihre Kleidung, obwohl ein fach und anspruchslos, war von einer gewissen Eleganz, und ein Hauch von jenem undefinier baren, geheimnisvollen poetischen Zauber, den harmonische Schönheit hervorbringt, umfloß die schlanke Figur. Das Interesse des jungen Mannes wurde sofort auf das lebhafteste gefesselt, und seine Lust zu einem Abenteuer erwachte. Kein Aben teuer von besonderer Bedeutung oder gar im schlimmen Sinne — nur eben eine kurze Unter haltung für eine müßige Viertelstunde, als neuen Beweis der hohen Meinung, die er selbst von seiner äußeren Erscheinung hatte und die seiner Anficht nach es jedem weiblichen Wesen zu einer Genugtuung machen mußte, der Gegen stand seiner Aufmerksamkeit zu sein. Er schritt energisch aus und kam bald mit der jnngen Dame auf gleiche Höhe. Neugierig wandte er den Blick und sah in ein schönes, von Hellem Blondhaar umrahmtes Geficht, aus dem sich jetzt etwas verwundert zwei blaue Augen auf ihu richteten. Seine Ungeniertheit berührte das junge Mädchen sichtlich unan genehm, denn sie drehte den Kopf und nahm eine schnellere Gangart an. Aber fie inter essierte den jungen Musensohn bereits so sehr, daß er im Bewußtsein seiner Unwiderstehlichkeit eine schickliche Annäherung versuchen wollte. Es hielt schwer, sie bei dem dichten Menschen gewühl im Auge zu behalten. Dabei schritt fie tüchtig zu und jetzt schien fie bemerkt zu haben, daß er ihr noch immer auf den Fersen sei, denn fie wandte sich nach der andern Seite der Straße hinüber. Das ist entweder ein Zeichen von hohem sittlichen Ernste oder von reizender Ko ketterie, dachte der Student; aber gleichviel — ich muß erfahren, was für eine Göttin in dieser berückenden Hülle wandelt! Und eilfertig folgte er ihr über den Fahrdamm. Sie hatte leise den Kopf gewendet und darauf ihre Schritte noch mehr beschleunigt. DaS aber hinderte nicht, daß der beharrliche Verfolger nach wenigen Sekunden an ihrer Seite auf tauchte. Indigniert schlug fie jetzt den Weg am äußersten Rande des Trottoirs ein, ohne durch dieses Manöver sich ihrem lästigen Be gleiter entziehen zu können; im Gegenteil forderte dieses Ausweichen seine Abenteuerlust noch mehr heraus. Er schritt bis dicht an fie heran, ohne sich durch die zornigen Blicke aus den schönen blauen Augen einschüchtern zu lassen. Dabei überlegte er, in welcher Form wohl ein Gespräch anzuknüpfen sei. Sie sah zwar nicht danach aus, als ob fie ihm so ohne weiteres Rede stehen würde, aber gleichwohl, ein kühner Anlauf mußte genommen werden, und mit raschem Entschluß richtete er das Wort an fie. Die hastig Vorwärtseilende maß ihn jedoch mit einem so vernichtenden Seitenblick, daß er schon
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)