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Italien wirbt um Frankreich. 9. Januar 1928 Das führende Mitglied der italienischen faschisti schen Partei, Franzesco Poppola, äußerte sich in länge ren Ausführungen gegenüber dem römischen Vertreter des „Echo de Paris" über die Ziele der französisch- italienischen Verständigung Die Auffassung Poppolas läßt sich kurz folgendermaßen zusammenfassen: - Frankreich strebe vor allen? die S i ch e r h e i t a n? Rhein an, Italien benötige dringend koloniale Aus- breitungsmöglichkeit. Frankreich möge daher ein Opfer bringen, um es Italien zu erleichtern, das für seine Bevölkerung notwendige Absatzgebiet zu finden, und Italien werde die französische Sicherheit garantieren. Franzesco Poppola bemüht sich sodann nachznweisen, daß alle Versuche Frankreichs, sich die Sicherheit am Rhein zu verschaffen, gescheitert (?) seien. Frank reich habe zuerst an die Aufteilung Deutsch lands gedacht, sich sodann um die Garantie Englands und der Vereinigten Staaten bemüht und nach dem Mißlingen dieser Methode zum Gedanken der Ein kreisung (Kleine Entente und Polen) gegriffen. Dieses System lege aber Frankreich derartige Lasten auf, das es keineswegs der Hilfe wert sei, die Frank reich erreichen könnte. Im übrigen würde die Freund schaft der Balkanstaaten zu Frankreich die Unzufrieden heit der Großmächte (lies Italien Red.) herausfordern. Daher wandte sich Frankreich dem Völkerbunde zu, um auf dem Wege des Protokolls von 1924 alle Staaten für seine Sicherheit zu engagieren,, vergeblich. Der Aus weg über Locarno auf dem Wege direkter Ver handlungen mit Deutschland seine Ziele zu erreichen, scheine ebenfalls aussichtslos zu sein. Dagegen würde eine Entente zwischen Frankreich und Italien der französischen Sicherheit eine Bevölkerung von 8V Millionen Menschen zur Verfügung stellen. Ita lien sei bereit, im Westen des adriatischen Meeres schmerzliche Opfer zu bringen, wenn Frankreich im Osten des Mittelmeeres (gemeint ist Syrien) Italien entgegenkommen würde. Diese Eedankengünge sind an sich nicht neu. Be merkenswert an ihnen ist immer wieder, wie gering man in Italien die Unterschrift unter den Locarnopakt einschätzt. Auf der anderen Seite freilich ist die von Italien festgestellte Außenpolitik Frankreichs gegen Deutschland, worunter die Bündnispolitik der Nach kriegszeit gehört, und im Zusammenhang damit die weitere Beibehaltung des Rheinlandes gleichfalls kein Beweis dafür, daß man in Frankreich die machtpoliti schen Aspirationen aufzugeben gewillt ist. Das Opfer Syrien für Frankreich zu hoch. Der „Avenir" Millerands wendet sich im Zusam menhang mit der Frage einer Neueinteilung der Völkerbundsmandate zugunsten Italiens gegen einen Verzicht auf Syrien. Damaskus, eines der wich tigsten Zentren des Islam zu räumen, wäre für Frank reich gleichbedeutend mit der Räumung seines ganzen nordafrikanischen Besitzes. Auch vom wirtschaftlichen Standpunkt aus wäre es ein Unding, Syrien aufzu geben, da es 800 000 Hektar bebaubaren Landes besitze. Frankreichs Sicherhettsangft. Selbst Albert Thomas gegen vorzeitige Rheinland- räumung. Albert Thomas, der Direktor des Internationalen Arbeitsamtes, hielt gelegentlich der Einweihung einer Setzerschule in Bordeaux eine Rede, in der er die Be deutung des Völkerbundes für die Verwirklichung des Friedens hervorhob und als Hauptaufgabe der Sozia listen aller Länder und insbesondere der gegenwärtigen Generation die Organisierung des Friedens betonte. Auf die Besetzung des Rheinlandes zu sprechen kommend, hielt Thomas jedoch die französische Auffassung aufrecht, daß eine Räumung vor 1935 ohne „gewisse Garantien" undurchführbar, ja sogar zum Schaden aller bisherigen Ergebnisse der deutsch-franzö sischen Annäherung zu beurteilen wäre. Zu der Frage der Reparationen bemerkte Thomas, daß die deutsche Schuld wohl 132 Milliarden betrage, doch gebe es keinen Sachverständigen in dieser Frage, der die Bezahlung einer derartigen Summe für möglich halte. Parker Gilbert hätte in seinem Bericht selbst angegeben, daß die Neuregelung der Re parationszahlungen nur im Zusammenhang mit der Lösung des interalliierten Schuldenproblems möglich sei. Neues Explosionsunglück in Berlin Der zweisköcki e Anbau eines Kaufes bis Tote unb 9. Januar 1928 Gestern vormittag gegen ^19 Uhr ereignete sich in der Villa des Inhabers der Firma Weingärtner k Eo. in der Parkstratze in Berlin-Dahlem, in einem der vornehmsten Berliner Wohnviertel, ein Explofions- ungUiä, das den Tod wie schwere Verletzungen einiger Hausbewohner zur Folge hatte. Nach den bisherigen Feststellungen sind zwei Per sonen getötet, zwei weitere schwer verletzt worden, wäh rend die sechs anderen Hausbewohner mit Nervenschocks und mit leichteren Verletzungen davonkamen. Die Ex plosion ereignete sich in einem Laboratorium, das un mittelbar an das Hans angebaut war. Der zweistöckige Anbau des Hauses wurde bis auf die Grundmauern zerstört und eine gleichfalls angebaute Garage bis zur Unkenntlichkeit zusammengedrückt. Auch die Villa selbst ist durch die Explosion schwer in Mitleidenschaft ge zogen worden. Die Feuerwehr war bereits wenige Minuten nach der Explosion zur Stelle. Sie rückte mit acht Löschzügen und mehreren Eerätewagen an. Die Aufräumungs arbeiten konnten glücklicherweise sofort begonnen wer den, da Feuer durch die Explosion nicht entstanden war. Die Leiche des crsien Opfers wurde bereits nach kurzem Suchen gefunden. Die Polizei war in kurzer Zeit eben falls zur Stelle und sperrte die Unglücksstelle ab. Der Explosionsknair war so stark, daß er in fast ganz Ber lin zu hören war. Die Apache des ExplvfionsZmglücks. 9. Januar 19x8 Im Laufe der ersten Mittagsstunden traf an der Unsailstelle u. a der Präsident der chemisch-technischen Reichsanstalt Prof. Dr. Lentze ein, um gemeinsam mit der Kriminalpolizei nach der Ursache der Explosion zu forschen. Die Firma Weingärtner L Co. hatte für das init einem großen Garten umgebene Villenanwesen nicht um eine gewerbliche Konzession, sondern nur um die Erlaubnis zürn Betrieb eines Laboratoriums nach gesucht. Dieses befindet sich im Vorderhaus und ist un beschädigt Aus der sehr großen Anzahl noch unexplo diert vorgefundener Sprengkapseln und aus der Tat sache, daß sich auch in den Räumen, in denen die Ex plosion geschah, zahlreiche Ehemitalien aller Art be funden haben, schließt inan, daß in den explodierten Räumen ohne eine für ein solches Villengrundstück sicher auch nicht genehmigte Erlaubnis, eine Art Fabrika- nonsbetricb stattgefunden hat. Die aufgefundenen Sprengkapseln sind sogenannte Eisenbahnsprengkapseln. Sie dienen bei der Reichsbahn zur Auslegung auf Eisenbahnschienen auf offener Strecke in allen den Fäl len, in denen Züge zum Halten gebracht werden sollen, ohne daß die Möglichkeit besteht, entsprechende optische Haltesignale anzubringen. Aus dem Verlauf der Ex plosion geht hervor, daß diese durch eine sehr große An zahl dieser an sich nicht besonders brisanten Spreng mittel geschehen sein muß. auf die Grundmauern zerstört — Mehrere Verletzte. In den im Garten stehenden hohen Grunewald kiefern sieht mair wahllos zerstreut Bettkissen und Bett decke?? und außerdem zahlreiche Kleidungsstücke hängen, die von der Gewalt der Explosion zusammen mit dein Mauerwerk sehr hoch in die Luft geschleudert wurden und bei dem Herabfallen in den Baumüsten hängen ge blieben sind. Die Aufrüumungsarbeiten dauerten den ganzen Nachmittag an. * Weitere Einzelheiten. 9 Januar 1928 Ueber die Explosion in der Purkstraße erfährt die Telegraphen-Union noch folgende Einzelheiten: Bei dem Unglück wurden getötet: der Mitinhaber der chemi schen Fabrik Weingärtner L Co. Stammer und die Hausangestellte Marta Schönfelder, schwer verletzt wur de?? die Portiersfrau Deter und ihre Tochter Anni. (?) Nach übereinstimmender Schilderung kann man über den Verlauf des Unglücks ungefähr folgendes sagen: Gegen N1V Uhr wurde plötzlich ein donnerähn liches Krachen und Nollen verspürt. Fast sämtliche Fensterscheibe»? der näher gelegenen Häuser zersplitter ten, Stuck fiel von den Wänden, die Leisten der Möbel fielen ab. Personei?, die sich zufällig an den? offenen Fenster befanden, wurden durch die Gewalt der Ex plosion zu Bode?? geschleudert. Eine riesige gelbliche Rauchwolke, die stark nach Chemikalien roch, verbreitete sich. Man hörte gellende Hilferufe, »vorauf die Nach barn herübereilten, um de?» Verunglückten so gut es ging zu helfen. Man alarmierte schnellstens die Feuer wehr, Vie dann auch in ganz kurzer Zeit mit Rsttunqs- gerät einteaf. Die Unsailstelle wurde abgesperrt, und unverzüglich wurde mit den Nettungsarbeiten be gonnen. Nach kurzer Jeit sand man den ersten Toten, Herrn Stammer, der durch.die Explosion gräßlich zer rissen war. Zwei der Verletzten wurden von de?? her beigeeilte?? Nachbarn geborgen, noch ehe die Feuer wehren eintrafen. Nach mehrstündiger Arbeit gelang es schließlich, die noch unter den Trümmern befindliche Frau Deter herauszuholen, die anscheinend stark ver letzt war. Späterhin wurde dann noch die letzte Ver mißte, die Hausangestellte Marta Schönfelder, tot unte? den Trümmern hervorgezogen. Die Firma Weingärtner L Co. beschäftigte sich mit der Herstellung homöopathischer Arzneiartikel. Inhaber wäre?? der Generalkonsul Weingärtner, der unverletzt geblieben ist und sei?? Schwager Stammer, der bei dem Unglück ums Lebe?? gekommen ist. Die Ehefrau des Generalkonsuls, die seit längerer Zeit gelähmt ist, ist ebenfalls unversehrt geblieben. In den Kellerräumen des Vorderhauses besand sich das chemische Labora torium, an das sich ei?? weiterer Keller mit chemischen Erpk'sivstosfen schloß, die deshalb niemals mit Licht betreten werden durften. Merkwürdigerweise hat die Explosiv?? auf diese?? Teil des Gebäudes nicht über gegriffen. Von der Explosiv?? selbst ist die Garage und der Hintere Anbau des Hauses zerstört worden, in dem sich die Küchenrüume, die Portierswohnung und im ersten Stock das Schlafzimmer mit Badezimmer des Herrn Stammer befand. 2V Todesopfer -er Londoner Überschwemmung. 9. Januar l928 Sturm weiter in ganz England. An? Sonnabend trat die Themse bei Westminster über die Ufer; alle Straßenbahnen an? Embankment mußten ihre»? Dienst einstellen. Das Wasser drang bis auf die Terrassen des Parlaments vor. Auch auf der Lambethseite des Flusses wurde ei?? beträchtlicher Teil des Ufers überschwemmt. Beim Parlament erreichte das Wasser de»? Fuß des Big Ben, des bekannten Par lamentsturmes mit der Parlamentsuhr. Am schlimm ste?? war die Ueberschwemmnng bei der Charing Croß und der Waterloobrücke. Am ganzen Embankment stan den „gestrandete" und verlassene Straßenbahnen. Die Unterführung bei der Westminsterbrücke stand vier Fuß unter Wasser. Ei?? Uebungsschiff in der Nähe von Black- sriars schwamm in Straßenhöhe. Außerhalb Londons stehe?? von Teddington Lock bis zur Hammersmithbrücke alle tieferliegenden Teile des Themseufers unter Wasser. Die Zahl der Todesopfer, die die Londoner Ueber- schwemmung gefordert hat, dürfte etwa zwanzig be tragen. Es sind fast alles Leute, die in ihren tief ge legener? Wohnungen in? Schlafe von den ansteigenden Fluten überrascht wurde?? und sich nicht inehr recht zeitig in Sicherheit bringen konnten. Eine ganze Familie ist auf diese Weise ums Leben gekommen, ohne daß es möglich war, Hilfe zu bringen. EisenbahnverkehrssLockung infolge Unwetters. Wie die Pressestelle der Reichsbahndirektion Magdeburg mitteilt, sind am 7. Januar kurz nach Mit ternacht auf Bahnhof Dingelstadt elf offene leere Wage?? und ein beladener Güterwagen, die ordnungs mäßig verlegt waren, durch den orkanartige?? Sturm ii? Bewegung geraten, gelangte?? auf die freie Strecke und rollten in den Bahnhof Nienhagen hinein. Hier ent gleiste?? zehn Wagen, die alle schwer beschädigt wur den. Das durchgehende Hauptgleis Oschersleben—Hal berstadt mllßte etwa sieben Stunde?? gesperrt werden. Der Betrieb wurde eingleisig aufrechterhalten. Per sonen kamen nicht zu Schaden. Erdrutsch auf der Eisenbahnstrecke Itzehoe—Heide. Am Sonntag früh ereignete sich infolge des starken Regens ans der Strecke Itzehoe—Heide in der Nähe oo»? Burg, wo große Erdmasse?? der Böschung sich löste?? und ans die Gleise fielen, eine Störung im Eisenbahn betriebe. Die Züge erlitten über einstündige Ver -spätung. da die Erdmassen erst beseitigt werden mußten. Schwere Sturmschäden in Kvtland. Ein Südwestwind von ungeheuerer Geschwindig keit hat über Holland gewütet. Im Hafen von Rotter dam und Amsterdam wnrden viele Schiffe losgerifsen. Die Feuerwehr wurde andauernd wegen Häuserschäde?? zur Hilfe gerufen. Der Stnrm demolierte einen Teil der Elektrizitätswerke, wodurch die Provinz Twente stundenlang ohne Strom blieb. Auch der Verkehr aus der elektrifizierte?? Strecke Rotterdam—Amsterdam er litt durch Sturmschäden an der Leitung große Verzöge rung. Aus der Schelde ist ei?? Kohlendampfer gesunken. Die siebe?? Mani? starke Besatzung konnte sich retten. Auch das mit Kohlen beladene Schiff „Poseidon" aus Antwerpen ist gestrandet und gilt als verloren. Der Kapitän und die Bemannung haben das Schiss ver lassen. In Lek ist das Motorschifs „Willem III" mit 43 Tonnen Eisen gesunken. In verschiedenen Orten mußte der Fährdienst eingestellt werden. Lawtnenunglükk in Vvralberg. Aus Bregenz wird gemeldet: An? Sonnabend nachmittag l/21 Uhr unternahmen drei Herren von der Ulmer Hütte eine Skipartie. 15 Minute?? von der Hütte entfernt wurde?? sie von einer niedergehende?? Lawine überrascht. Einer blieb noch außerhalb der Lawine, der zweite konnte sofort gerettet werden, während der dritte, ein 27jähriger Einzelhändler aus Meran noch nicht gefunden werde?? konnte. Eine Rettungsexpedition von 50 Mann ist von Stuben aus zur Hilfe ab gegangen. Die Lawine ist acht Mete? tief und einige hundert Meter breit. Eine Münchner Skisahrergeseltschaft, bestehend aus Ingenieur Hermann Crämer, geboren 1895, seiner Frau Klara uns dem Kaufmann Hans Rein, geboren 190!», unternahm am Sonnabendvormittag trotz aus drücklicher Warnung ohne Führer eine Slipartie an den Zürfer See. Gegen 11 Uhr traten sie eine Lawine les. die alle drei verschüttete. Obwohl rasch Hilfe am Unf-Mari erschienen war, lonuicu ulle drei nur noch als Leichs?? geborgen werden. Stur?,«schade?? auch in der Tschechoslowakei. Böhmen, Mähren und die südliche Slowakei stand am Sonnabend ganz im .seichen schwerer Stürme. In Prag wurden viele Häuser beschädigt, der Schwarzen Herger Park wurde zu einen, Chaos von niedergebroche nen Bäumen und Sträuchern. Schnee und Sturm ii? Budapest. In Budapest ist am Sonnabend Schnee gesallen. Heftiger Sturm tobt. Eiu Haus ist infolge des starke?? Sturmes zusammengebrochen. Ein Zug in ein Stationsgebäude gefahren. Ani Sonnabend abend versagte bei einen? aus Amsterdam kommenden Personenzug bei der Einsahrt in den Bahn Hof Zandvoori plötzlich das Bremssystem. Der Zug suhr infolgedessen mit einer Stundengeschwindigkeit von 35 Kilometer gegen den Prellbock. Dieser wurde uni gerissen und die Lokomotive kam erst in dem dahinter liegenden Stationsgebäude zuin Stehen. Das Gebäude, die Lokomotive und der Tender wurden schwer beschä digt, während zwei Wagen leichtere Beschädigungen zeigen. Der Maschinist wurde schwer verletzt. Eine Frau in dem Zuge wurde getötet, vier andere Persone?? wurden leicht verletzt.