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Amerikas neue AklivilSl. 16. Januar 1928 Wer die Politik der Vereinigten Staaten in den letzten Jahren beobachtet hat, der wird durch die neueste Wendung, die diese Politik jetzt erfährt, höchst überrascht sein. Es scheint, als ob die Vereinigten Staaten ihr angebliches Desinteressement an allem, was außerhalb dec amerikanischen Kontinents liegt, nunmehr aufgeben wollen und aus ihrer — wenigstens diplomatischen — Reserve gegenüber der Außenwelt heraustreten. Der Note, die das Problem des „ewigen Friedens" behandelt, folgt ein ent sprechender Vorschlag an Japan. Diese beiden diplomatischen Schritte sind sicherlich ein Novum. Das ungeheure Aufblühen der wirtschaftlichen Macht Ameri kas in der Nachkriegszeit hat mit sich gebracht, daß die Vereinigten Staaten plötzlich aufhörten, ein „junges" Land zu sein und zu einem reifen imperialisti- schen Staat wurden. Die Zeit ist vorbei, wo die Vereinigten Staaten, geblendet durch das grandiose An schwellen des Binnenmarktes, ihre Expansion außerhalb Nordamerikas für einen „Nebenverdienst" hielten. Der überraschte Beobachter muß nun feststellen, daß die Ver einigten Staaten ein großartiges Programm der Er oberung der Absatzmärkte aufgestellt haben und dieses Programm mit allen Kräften zu verwirk lichen suchen. Das ganze letzte Stadium des Kampfes zwischen den amerikanischen und angloholländischen Erdölkonzer- uen ist, zum Unterschied gegen frühere Kampfstadien, eben als Kampf um die Äbsatzmärkte, und nicht mehr als Kampf um die Produktionsquellen charakterisiert. Gerade in ganz letzter Zeit hat die Standard Oil Com pagnie groß angelegte Versuche unternommen, festen Boden im nahen Osten zu fassen und in solchen Häfen wie Colombo und Port Said eigene Tankplätze zu er richten. — In derselben Linie der „Neuen amerika nischen Wirtschaftspolitik" liegt das amerikanische Pro jekt des Riesendammes auf dem Zanasee in Abessinien, dessen Bau das ganze Niltal in die Hände der Ameri kaner gibt. Auch am anderen Ende des Erdballes, im fer nen Osten, entwickelt Amerika neuerdings eine be sonders große Aktivität. Vor kurzer Zeit hat viel Aufsehen der amerikanische Plan der Finanzierung der südmandschurischen Eisenbahnlinie erregt, ein Plan, der mit dem Namen Lamonts, eines der Vertrauensmänner Morgans, verbunden war. In Europa ist die Akti vierung der amerikanischen Politik in zwei Punkten be sonders deutlich zutage getreten: 1. in der amerikani schen Polen-Anleihe und 2. i n der neuen Taktik Parker Gilberts. Die Finanzierung Polens hat zur Folge ein erhöhtes Interesse Amerikas an innereuropäischen Angelegenheiten. Die versöhnliche Politik dem Nachbarn gegenüber, die Polen in der letz ten Zeit eingeschlagen zu haben scheint, ist sicherlich auf amerikanischen Einfluß zurückzuführen. Die Aktivität der Vereinigten Staaten außerhalb des amerikanischen Kontinents hat nicht zu bedeuten, daß die Vereinigten Staaten den eigenen Kontinent vernachlässigen. Im Gegenteil: Gerade in bezug auf andere amerikanische Länder führen die Vereinigten Staaten eine offene Militär politik, Politik des Krieges mit allen Mit teln eines Krieges. Dabei muß festgestellt werden, daß gerade die Intervention der Vereinigten Staaten in Nicaragua einen heftigen Streit zwischen den Republi kanern und Demokraten zur Folge hatte. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Jnterventionspolitik der Ver einigten Staaten zu einer Parole bei den kommenden Präsidentschaftswahlen wird. Diese Möglichkeit wird in dem Falle an Wahrscheinlichkeit gewinnen, wenn die aggressive Politik Washingtons auf den am 16. Januar in Havanna eröffneten Panamerikanischen Kongreßzur Sprache kommt. Sollte dieser Kongreß — was nicht ganz ausgeschlossen ist — zu einem Kon flikt zwischen den Vereinigten Staaten unddenlateinischen Ländern führen, so können dadurch für die Partei Coolidges recht bedenkliche Ge fahren entstehen. Dereiniole Staaken und Lateinamerika. Der diplomatische Korrespondent des „Observer" weist darauf hin, daß die Reise des amerikanischen Prä sidenten Coolidge nach dem Auslande allein schon ein Beweis dafür sei, welche Bedeutung der panamerika nischen Konferenz in Washington beigemessen werde. Diesen besonderen Fall habe der Präsident Coolidge noch unterstrichen, indem er eine Delegation nach Havanna mitnahm, wie sie der Zahl und Qualität nach Washington noch niemals gesandt habe. Der Grund, warum Amerika der sechsten panamerikanischen Kon ferenz soviel Mehrüedeutung beimesse als den Konfe renzen in den Jahren 1922, 1910 und den drei anderen Jahren liege darin, daß die Entwicklung mittlerweile reif geworden sei, für die Erörterung des Haupt problems der künftigen Beziehungen der Vereinigten Staaten zu den übrigen amerikanischen und besonders den la teinamerikanisch enLän de rn. Seit der Zu sammenberufung der ersten Konferenz hatten die Ver einigten Staaten 31 Mal in Angelegenheiten der Zen tralamerikanischen Länder und Mexiko gewaltsam in terveniert. 40 Jahre lang sei die schwierige Lage der Konstitution des amerikanischen Kontinents zurückge stellt worden, sie werde vielleicht auch auf der neuen Konferenz wieder verschoben werden, aber noch nie zu vor sei dieses Problem so nachdrücklich in den Vorder grund gestellt worden. Die Reparationskommission zur Festlegung -er deutschen Schulden. Parker Gilbert hält an seinem Standpunkt fest. Wie die „Agence Economique et Financiere" mit- l teilt, hielt die Reparationskommission am Sonnabend eine Sitzung ab, über die aber auf einstimmigen Ve- ' schluß kein Komunique ausgegeben wurde. Die Sitzung, die sich über den ganzen Tag erstreckte und an der auch der Reparationsagent Parker Gilbert teilnahm, war die erste seit der Veröffentlichung der Anregungen Gil berts über die endgültige Festsetzung der deutschen Re parationsschulden. Nach einer Havasmeldung aus Neuyork hofft man in den amerikanischen politischen Kreisen, daß die neue französische Kammer angesichts der Aufhebung der amerikanischen Anleihesperre für die französische In dustrie der Ratifizierung des Mellon-Beren- ger-Abkommens zu st immen wird. Gestern noch auf stolzen Rossen ... Stalin verschickt die Opposition nach Sibirien. Das Verhältnis Mischen Stalin, dem Beherrscher Rußlands, und der Opposition hat unerwartet wieder eine Verschärfung erfahren, nachdem der Ausschluß der Opposition aus der Partei vollzogen war und die ganze Angelegenheit damit erledigt schien. Anscheinend befürchtete man in russischen Regierungstreisen doch, die Opposition dadurch nicht mundtot genug gemacht zu haben, und entschloß sich zu dem russischen Allheilmittel, das auch unter der früheren Regierung stark in Anwendung war, die mißlie bigen Politiker nach dem öden Sibirien zu verschicken, wo sie Hunderte von Kilometern von jeder Bahn oder Post entfernt, ohne Verbindung untereinander, völlig einflußlos auf die Ge schicke Rußlands sind. Ob diese Verbannung auch die Anhänger der Opposition restlos erledigen wird oder ob nicht durch diesen Rückfall in alte Methoden ein politischer Fehler begangen wurde, läßt sich bei der Unergründlichleit des russischen Charakters nicht vorhersagen. Wir bringen nachstehend einige der Hauptführer, die auch in Europa bekannt sind: Leo Trotzki (eigentlich Bronstein), 1877 oder 1879 geboren, war 1905 Vorsitzender des revolutionären Arbeiterrates, wurde Leo Trotzki Chriaian Rakowski zum erstenmal nach Sibirien verbannt und entkam nach Amerika. Während des Weltkrieges war er mit Lenin der Führer der kriegsfeindlichen Partei der Bvtschewiki, kam 1917 nach Rußland zurück und organisierte wieder mit Lenin den Umsturz. In der neuen Regierung übernahm er das Volkskommissariat des Aus wärtigen, war russischer Hauptvertreter der Friedensdelegation in Brest-Litowsk, 1918 bis 1924 Kriegsminister und eigentlicher Schöpfer der „Roten Armee". Im Mai 1925 wurde er Vor sitzender des technischen und wissenschaftlichen Büros des Ober sten Wirtschaftsrates, wobei er mehrfach mit der Regierung in Zwistigkeiten geriet, ebenso als Vorsitzender des Obersten Kriegs rates. Trotzki dürfte der hauptsächlichste Führer der Opposition gegen Stalin und dessen wirtschaftliche Einstellung gewesen sein, besaß aber unter den alten Revolutionären der Lemn-Zeit einen starken Anhang. Christian Rakowski, Geburtsort und Nationalität unbe kannt, vermutlich Bulgare. Er spricht etwas Russisch, etwas Bulgarisch, etwas Ukrainisch, sehr gut Deutsch, Englisch und Französisch. Er lernt in der Schweiz die russischen Revolutio näre kennen, wird 1893 aus Deutschland ausgewiesen, studiert in Frankreich Medizin, wird in Rumänien Stabsarzt, versucht in Frankreich Abgeordneter zu werden, wird in Rumänien wegen politischer Propaganda aus der Armee entfernt, ebenso aus Un garn, Italien, Rußland, Türkei, kehrt nach allerhand Irrwegen nach Rußland zurück, gründet ein Freikorps in der Krim, wird 1918 als russischer Unterhändler aus Berlin ausgewiesen, in Kowno eingekerkert, und wird schließlich 1920 Präsident des ukrainischen Volksstaates. 1923 wird er russischer Botschafter in London, 1925 in Paris. Eine bewegte Laufbahn, die kein wei terer europäischer Diplomat aufweisen dürfte und die die Frage nahe legt, ob dieser vielgewandte Mann sich mit der Verban nung nach Sibirien zufriedengeben wird. Borissowitsch Kamenew (eigentlich Rosenfeld), 1883 ge boren, gehörte ebenfalls zu dem Kreis um Lenin, schürte den ersten bolschewistischen Aufstand, wurde in die Räteregierung gewählt und 1922 stellvertretender Präsident des Rates der Volkskommissare. Nachdem er auch Volkskommissar für den Innen- und Außenhandel geworden war, kam er als Rußlands Vertreter nach Rom. Er wurde von seinem Posten als Bot schafter zurückberufen und als Anhänger Trotzkis ebenfalls aus der Partei ausgeschlossen. Georgij Sinowjew (eigentlich Apfelbaum), 1883 geboren, flüchtete 1908 aus Rußland nach der Schweiz. Er kehrte eben falls 1917 zurück, war Vorsitzender der Petersburger Kommune und ist in Deutschland hauptsächlich durch seine mehrfachen Propagandareisen bekannt geworden. Demokratischer Ostsachsentag. 16. Januar 1928 Am gestrigen Sonntag hielt die Deutsche Demo kratische Partei unter dem Vorsitz von Minister a. D. Dr. Dehne einen Ostsachsentag im Bautzner Keglerheim ab. Reichsminister a. D. Dr. Külz erörterte in pro grammatischen Ausführungen die gegenwärtige politische Lage. Außenpolitisch, so führte er aus, habe das hinter uns liegende Jahr der Rechtsregierung irgendwelche er kennbare Fortschritte nichtgebracht. Selbst die Zurückziehung einiger tausend Mann aus dem besetzten Gebiet sei die nur mangelhafte Erfüllung einer bereits im November 1925 von der Botschafterkonferenz gege benen feierlichen Zusage. Das Kernproblem des Völker bundes, die Abrüstungsfrage, sei trotz der ausgezeich neten Vertretung des deutschen Standpunktes durch den Grafen Bernstorff der Lösung in keiner Weise näher gebracht worden, wohl aber zeige das Weltbild an zahl reichen Stellen starke Spannungsmomente. Die kommen den Wahlen würden sowohl in Frankreich als auch in Deutschland eine Volksabstimmung darüber sein, ob die Politik gegenseitiger Verständigung in dem Willen des Volkes fundiert sei. Für Deutschland könne das Ergebnis nicht zweifelhaft sein. Hand in Hand mit der poli tischen Annäherung der Völker der Welt müsse die wirtschaftliche gehen. Der Han delsvertrag mit Frankreich sei hier gewiß ein Aktivposten, um so bedauerlicher aber sei es, daß die Verhandlungen mit Polen und mit der Tschechoslowakei noch zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt haben. Die inner wirtschaftliche Konjunktur sei eine geraume Zeit über befriedigend gewesen, es wäre aber verhängnisvoll, wenn man annehmen wollte, daß wir endgültig über den Berg hinweg seien. Es werde noch lange Zeit dauern, ehe wir aus der Periode der Konjunkturschwankungen herauskommen und ehe sich aus den Strukturwandlungen der Weltwirtschaft ein neuer, geordneter Weltwirtschafts organismus entwickelt haben werde. Ziel der deutschen Wirtschaftspolitik müsse es deswegen sein, die deutsche Wirtschaft von allen vermeidbaren Hemmungen zu be freien und ein ausgeglichenes, den endgültigen Finanz ausgleich bringendes Steuersystem zu schaffen. Innerstaatlich lebten wir in einer Zeit des Herumredens um wichtige Probleme, die nur durch entschlossenes Zufassen geregelt werden könnten. Das gelte insbesondere von der Wahlrechtsreform, von der sogenannten Verwaltungsresorm und von der Modernisierung des Beamten rechtes. Ein „zu spät" in der Wahlreform müsse zu unübersehbaren Konse quenzen führen. Das staatsrechtliche Verhält nis der Länder zum Reiche bedürfe grundlegen der Nachprüfung. „Eigenstaatliche" Länder mit der Ein wohnerzahl einer mäßigen Mittelstadt seien schlechter dings eine Lächerlichkeit. Dynastische Tradition könne keine innere staatliche Lebenskraft er setzen. Sowohl im Reich als auch in den Ländern be dürfen weiterhin Zuständigkeit und Organisation der Behörden genauer Abgrenzung und starker Zusammen fassung. Die Verwaltungsresorm damit zu beginnen, daß von drei freiwerdenden Beamtenstellen eine Wegfällen soll, aber mit Hilfskräften wieder besetzt werden darf, ist widersinnig. Auf sozialem Gebiete sind große Probleme un gelöst: Wohnungsnot, Kriegsschädenersatz, Kleinrentner versorgung. Wenn das zu erstrebende Ziel in der Wohnungswirtschaft auch die freie Wirt schaft sein muß, so kann doch nur schrittweise nach Maßgabe der Beseitigung des Wohnungsmangels und unter sozialem Schutz mindestens für die Ueber- gangsperiode vorgegangen werden. Bis auf weiteres können auch öffentliche Mittel zu möglichst starker Woh nungsproduktion nicht entbehrt werden. Die angemes sene Ersetzung der Liquidations-, Verdrängungs- und Kolonialschäden sei eine Ehrenschuld des Deutschen Reiches genau so wie die befriedigende Versorgung der Klein rentner. Die Regierungsparteien gingen hier nur zag haft und unter Einsatz unzulänglicher Mittel vor. Auf kulturpolitischem Gebiete gehe die Behandlung des Reichsschulgesetzes durch die Re gierungsparteien von einer vollkommen falschen Orientierung und Zielsetzung aus. Bei der weltanschaulichen und konfessionellen Schlichtung des deut schen Volkes sei jede Kulturpolitik vom Uebel, die Gefahr laufe, diese Schichtung zur Zerklüftung werden zu lassen. Das Volksschulwesen und die hierfür geltende Gesetz gebung sei deswegen nicht von der Weltanschauung oder der Konfession her zu orientieren, sondern von der Ein heit des deutschen Volkstums und des deutschen Kultur gutes. Die Volksschule müsse der Schule des Lebens ent sprechen, die das Schicksal dem deutschen Volke auferlcgt habe, die Schule des deutschen Lebens aber sei, richtig erfaßt, eine große S i m u l t a n s ch u l e. Im Anschluß an den Vortrag wurde folgende Ent schließung zum R e i ch s s ch u I g e setz angenommen: „Die Mehrheit des Bildungsausschusses des Reichstages hat auf Anträge der in Sachsen gewählten Abgeord neten Dr. Philipp (Dnat. Vp.) und Dr. Heinze (D. Vp.) Beschlüsse gefaßt, die eine Ausnahmegesetzgebung gegen Sachsen und seine fortschrittliche Volksschulgesetzgebung bedeuten und eine Herabsetzung der Leistungsfähigkeit der sächsischen Volksschule und eine stärkere Konsessionalisie- rung als früher bewirken müssen. Der Ostsachsentag der Deutschen Demokratischen Partei protestiert gegen eine solche lullurfeindliche Politik und erwartet von allen Freunden einer fortschrittlichen Entwicklung den schärfsten Widerstand gegen solche Bestrebungen." Die Tagung beschäftigte sich weiter auf Grund von eingehenden Vorträgen mit organisatorischen Fragen des Wahlkreises. Bei der Vorstandswahl wurde der bisherige Vorstand mit Minister a. D. Dr. Dehne als Vorsitzendem und Reichsminister a. D. Dr. Külz und Rektor Wehr mann als Stellvertretern wiedergewählt:, ferner durch Zu fall von Abg. Prof. Dr. Kastner, Frau Peter (Pirna) und Landwirt Zimmer (Bautzen) ergänzt.