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Für Revision und Abrüstung. Ramsey Mac-onal- für Revision -er Frie-ensverlrüge — Lloyd George gegen die Rüstungen. Der Vorstoß -es Grafen Bernstorff. 23 November !927 23 November 1927 Auf einer internationalen Friedenskundgebung in London sprach gestern abend Ramsey Mac donald über die Abrüstung. Es genüge nicht, so er klärte er, vom Frieden zu reden und zu betonen, der Krieg sei eine unsinnige Zerstörung. Trotz aller Ver- luste und aller Lasten des Krieges sei Europa immer noch davon überzeugt, daß der beste Weg zur Friedens sicherung die Borbereitung auf den Krieg sei und daß die Rüstungen den einzigen Weg zur Sicherung der Staaten darstellten. Die Abrüstung sei gegenwärtig lediglich eine Frage der Vudgetverminderung. Er sehe keinen Grund, warum England seinen Widerstand gegen die Unterzeichnung der verbindlichen Schieds gerichtsklausel des Haager Schiedsgerichtshofes fort- setzcn solle, nachdem das Beschreiten anderer Wege viel fache Fehlschläge gebracht habe. Die Ungerechtigkeiten in den Friedensverträgen mutzten beseitigt werden, aber die Revision müsse auf dem richtigen Wege erfolgen. Die Friedensverträge könnten nicht für zwei weitere Generationen in Wirk samkeit bleiben, ohne mit Sicherheit zum Ausbruch eines neuen Krieges zu führen. Fünfzehn Millionen unter Waffen. 23. November 1927 Wozu die Rüstungen? In einer Rede in Canterbury wandte sich Lloyd George gestern gegen die gegenwärtigen enormen Rüstungen der ehemaligen Alliierten. Der Kriegsminister habe sich gegen eine Erklärung gewandt, wonach die Alliierten gegen wärtig zehn Millionen Mann unter den Waffen hätten. Wenn der Minister aber die Stärke der Armeen in Europa gegenwärtig mit ungefähr vier Millionen Mann angebe, so habe er nur die stehenden Armeen im Auge, die in den Krieg ziehen könnten. Sorgfältiges Studium des Handbuches des Völkerbunds ergebe aber, daß die betreffenden Nationen in der Lage seien, gegen wärtig 15 Millionen Mann ins Feld zu schicken. Die ständige Vermehrung der Rüstungen ergebe die Frage, gegen wen man eigentlich kämpfen wolle. Die englische Marine sei so mächtig, datz sie alle übrigen Flotten der Welt zusammenschlagen könne. Eine Kriegsvorberei tung gegen Amerika wäre Irrsinn. Die französischen Rekruten zu 11 Prozent Analphabeten. 23. November 1927 Gestern wurde in der französischen Kammer der Bericht über das Budget des Kriegsministeriums ver teilt. Daraus geht u. a. hervor, datz die Zahl der An alphabeten unter den eingezogenen Rekruten von vier vom Hundert im Jahre 1912 auf elf vom Hundert im Jahre 1926 gestiegen ist. Die Sorge vor Rußlands Aktivität in Genf. 23 November l927 Wie der diplomatische Korrespondent des Daily Telegraph berichtet, betrachtet man die Zusammen setzung der russischen Delegation für Genf unter Füh rung Litwinows als ein sicheres Zeichen dafür, datz die Russen entschlossen sind, in den kommenden Verhandlungen über Schiedsgerichtsbarkeit, Abrüstung und Sicherheit eine sehr aktive Rolle zu spielen. Sowohl in den russischen Ankündigungen, wie in der Zusammensetzung der Delegation sieht der diplomatische Korrespondent den Beweis dafür, datz die Russen in erster Linie versuchen werden, die übrigen Mächte in mehrere Lager zu spalten. Es sei nicht aus geschlossen, datz Litwinow und seine Kollegen Instruk tionen erhielten, sich mit dem britischen Vertreter Lord Cushendun wegen der Wiederanknüpfung diplomatischer Beziehungen mit Eng land in Verbindung zu setzen. Ein russischer Wunsch für die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehun gen müsse aber direkt nach London gerichtet werden. Die Blätter veröffentlichen weiter ausführliche Berichte aus Berlin, Paris und Moskau, die im allge meinen daraus abgestimmt sind, datz Paris von der russischen Teilnahme nur Schwierigkeiten er wartet, während man in Berlin optimistischer ist und keine Bedenken gegen eine natürliche Zusammen arbeit mit den russischen Vertretern hat, solange sie auf die Verfechtung ihrer Propaganda verzichten. Auch die grundsätzlichen Unterschiede in der Einstellung, nament lich Deutschlands und Frankreichs zur Abrüstungsfrage im allgemeinen, werden ziemlich eingehend dargelegt, wobei die Times meinen, datz man in Paris mit einer sehr weitgehenden russischen Unterstützung der deutschen Auffassung rechne. Deutsch-'ussische Fühlungnahme? Pertinax berichtet im Daily Telegraph, datz der von dem Vorsitzenden der deutschen Delegation für die Vorbereitende Abrüstungskonferenz, Grafen Bern- sto r f f, in einem Telegramm an Len Londoner Vor sitzenden Ler Vorbereitenden Konferenz gemachte Vor schlag, die Arbeiten der Kommission erst nach noch maliger Verhandlung des Berichts über die allgemeine Abrüstung abruschlietzen, weder bei der französischen noch der englischen Regierung Gegenliebe finde. Beide Negierungen seien Ler Auffassung, datz eine Debatte Uber die allgemeine Abrüstung vor Februar nächsten Jahres als frühestem Zeitpunkt kaum möglich sein werde. Der deutsche Botschafter in Moskau, Brock- d o r f f - N a u tz a u, habe, so berichtet Pertinax weiter, täglich lange Unterhaltungen mit Herrn Stein, dem Leiter einer der europäischen Abteilungen des sowjet- russischen Auswärtigen Amtes und einem Mitglied der S'wjetdelegation für Genf. Das Telegramm des deutschen Delegationsführers für die Abrüstungsfragen, Grafen Bernstorff, an den Vorsitzenden der Vorbereitenden Abrüstungskommission, in dem dieser ersucht, die zweite Lesung des im ver gangenen Mai angenommenen Berichts auf die Tages- ordung der November-Sitzung zu setzen. Bisher, meint Pertinax, habe man allgemein geglaubt, die Vorberei tende Abrüstungskommission beschränke sich darauf, die in der französischen These verlangte Bindung zwischen Sicherung und Abrüstung herzustellen. Die deutsche Forderung ziele besonders darauf, ab, diese ganzen Ab machungen umzustotzen. Wenn die Vorbereitende Ab rüstungskommission dem deutschen Verlangen entspreche, so könnte nur die in der Vollversammlung von Dr. Stresemann und vom Grafen Bernstorff selbst verteidigte deutsche These verwirklicht werden, wonach unter den gegen wärtigen Umständen und ohne, datz dem im Völker bundspakt unterhaltenen internationalen Garantien etwas hinzugefügt werde, die Abrüstung möglich sei. Man verstehe jetzt auch, um was sich die gestrige Be sprechung zwischen dem früheren Außenmini st er der Niederlande und Autzenminister Briand drehte. Beim ersten Blick habe es den Anschein, datz der deutsche Vorschlag keine Aussicht habe, von den Kabinetten in London und Paris angenommen zu wer den. Es bleibe abzuwarten, was dann die Antwort der Deutschen sein werde. Die Tagesordnung des Völker bundsrats würde ihnen nur zu viel Gelegenheit geben, ihre schlechte Laune zum Ausdruck zu bringen. Deutscher Reichstag. Sitzung vom 22. November. Wenn man heute zu Beginn der ersten Sitzung der Wintersession die Häupter unserer Lieben zählt, so kann man nur mit inniger Betrübnis feststellen, daß so manches „teure Haupt" fehlt, dessen Leistungen das deutsche Volk mit 600 Mark monatlich zu honorieren pflegt. Verdenken kann man es allerdings keinem Reichsboten, der sich um diese Sitzung herumgedrückt hat. Der einzige Gegenstand von Bedeutung, der auf der Tagesordnung steht, ist der Handelsvertrag mit Frankreich, und um den regt sich heute kein Mensch mehr auf, denn er ist längst in Kraft getreten. Auch die schönste Rede kann keinen Buchstaben mehr an ihm ändern. Die Abgeordneten haben einfach „ja" zu sagen und damit Schluß. Bevor man aber soweit gekommen ist, war noch eine endlose Reihe von Formalitäten zu erledigen. Ein paar deutsche Gerichte strecken liebend ihre Arme nach ein paar völkischen und kommunistischen Abgeordneten aus. Im Ausschuß wird man sich darüber unterhalten, ob man auf ihre wertvolle Mitarbeit ein paar Monate lang verzichten kann. Dann — Vorlagen, Vorlagen, Vorlagen, es wird einem schwarz vor Augen. Reichsschulgesetz und Beamtenbesol dung, Strafrechtsreform und Liquida - lionsschädengesetz, Rentnerfürsorge und Wahlrechtsreform und... „Nachbarin, Euer Fläschchen"! Der Reichstag hat also ein strammes Arbeits programm vor sich und wird gut daran tun, möglichst bald an diese Vorlagen heranzugehen und sich nicht allzu lange 'bei den Kleinigkeiten aufzuhalten. Die Scheu, die verschiedenen heißen Eisen anzurühren, ist ja verständlich, aber es hilft doch nun einmal alles nichts. Also frisch ans Werk! Auf der Brüstung des mittleren Zuschauerbalkons, auf dem sich eine ganze Reichswehrkompagnie etabliert hat, um politischen An schauungsunterricht zu empfangen, steht ein merkwürdi ger, viereckiger Kasten, von dem man nicht recht weiß, was er vorstellen soll. Die einen sagen, Kinoapparat, die anderen Vogelbauer. Schließlich erfährt man, datz das die neue Radioänlage ist. Vorläufig liegt zwar noch der aus zwingenden Gründen gefaßte Beschluß vor, Las Reichstagsvlenum nicht ans Radio anzuschlietzen, aber man will offenbar für alle Eventualitäten gerüstet sein. Man möchte wünschen, datz dieser Beschluss so bald wie möglich fällt. Das deutsche Volk hat unbedingt Las Recht, mit eigenen Ohren zu hören, welche Weis heiten seine Vertreter im Reichstag von sich geben. Ein Vierteljahr Reichstagssitzung mit Nadioanschlutz — und die Wahlreform ist unaufhaltsam. Deutsch-polnNche Verhandlungen. 23 November 19 .7 Nachdem das Saison-Arbeiter-Abkommen zwischen Deutschland und Polen ein befriedigendes Ergebnis ge zeitigt hat, sind nunmehr Rcichsautzenminister Dr. Stresemann und der polnische Unterhändler Jackowski in Berlin zu den Vorbesprechungen vor Wiederaufnahme der Vertragsverhandlungen zusam mengekommen. Das erste Ergebnis dieser Unterredung ist die Einigung über die schwebenden Fragen in dem deutsch-polnischen Holzabkommen. Vor Abschlutz der Ver tragsverhandlungen sollen demnach die Einfuhrkontm- gentierung polnischen Holzes und der auf Schnittholz ruhende Schutzzoll aufgehoben werden. Die Aenderung Les deutsch-polnischen Holzabkommens auf breitere Basis ist für alle Interessenten von großem Vorteil. Die bisher bestehende Holzkontingentierung hat dem Roh holzmarkte die notwendige Wechselwirkung von An gebot und Nachfrage genommen und durch das Fehlen dieses Ventils oft zu unberechtigten und willkürlichen Preissteigerungen geführt. In vielen Fällen haben Sägewerke in Polen, die im Besitze einer Ausfuhr- berechtigung waren, mit diesen Verkaufsberechligungen einen an Korruption grenzenden schwunghaften Handel getrieben. ' Durch diesen Auftakt hat das Interesse und die Stimmung für den Handelsvertrag in beiden Ländern erheblich zugenommen. Nach neueren Meldungen ist Polen bereit, in der Frage der Ein fuhr landwirtschaftlicher Produkte möglichst entgegenzukommen und erwartet als Aequivalent dafür eine Hereinnahme größerer Kohlenmengen. Den deutschen Interessen wäre mit dieser Lösung gedient. Im allgemeinen läßt sich fest stellen, datz polnische Blätter sich sehr viel günstiger über das Zustandekommen eines Handelsvertrages aus sprechen, selbst die Pilsudski nahestehende Presse glaubt heute schon zu einer optimistischen Beurteilung der Ver tragsverhandlungen Anlaß nehmen zu können, da ja auch, wie bekannt, Pilsudski selbst sich bei dem polnischen Außenministerium für das beschleunigte Zustandekom men eines Handelsvertrages mit Deutschland einsetzt. Die Veranlassung für Polen, jetzt mehr denn je die Vertragsverhandlungen fördern zu wollen und in allen dazu gehörigen Fragen größtmöglichstes Entgegenkom men zu zeigen, dürfte wohl auf dem Gebiete der pol nischen Finanzwirtschaft zu suchen sein. Die polnische Wirtschaft hat vor kurzem erst durch die Amerika-Anleihe einen nicht unerheblichen Auftrieb er halten, die Zloty-Währung ist stabilisiert und sicher gestellt, der Aktionsradius der Bank Polski durch die Investion des Kapitals und den vermehrten Bank notenumlauf bedeutend gewachsen, so datz Polen nun nach Ueberwindung der vor kurzer Zeit noch recht star ken wirtschaftlichen Nöte im Jnlande sich den großen Plänen seiner Eingliederung in die Weltwirtschaft nähern kann. Als wesentlichster Punkt ist dabei anzusprechen, daß Polen für die Aufnahme weiterer Ausländsanleihen eine gewisse Garantie bieten muß, die zum Teil auch schon durch den zustandegekommenen Handelsvertrag mit Deutschland gegeben sind. Um allein die Zahlen sprechen zu lassen, bedenke man nur, datz deutsche Groß städte eine gleich große Ausländsanleihe erhalten haben wie der polnische Staat, Deutschland also dem kapital kräftigen Auslande kreditfähig erscheint und, gestützt auf eine wirtschaftliche Verständigung mit Polen, dem Nuslande als Garant für das Erstarken der polnischen Wirtschaft dienen würde. Nur so ist das Entgegen kommen auf polnischer Seite zu verstehen, und wir haben kaum Veranlassung, uns diesen uns aus dem Wirtschaftsabkommen mit Polen erwachsenden Auf gaben zu entziehen, da hierdurch ein gutes nach barliches Verhältnis und ein geregelter Warenaustausch zum Wohle beider Länder ga rantiert ist. Deutsch-italienische Wirtschaftsbesprechunqen Wie die Abendblätter aus Rom melden, kündigt die offiziöse „Agenzia di Roma" eine Begegnung zwischen deutschen und italienischen Regierungsver tretern an, um einige Punkte in den Handelsbeziehun gen zwischen den beiden Ländern zu klären, u. a. auch die Frage der in der letzten Zeit verminderten Einfuhr Italiens aus Deutschland. Balkanbloek unter sranzösisch- engtischer Agi-e. 23 November >927 Nach einer diplomatischen Information des Asien- Osteuropa-Dienstes aus Paris haben die griechischen Versuche nach dem französisch-jugoslawi schen Vertragsabschluß mit Frankreich gleich falls zu einer Regelung der Schuldensrage und unmit telbar damit zum Abschluß eines Freund schäfts Vertrages zu kommen, doch größere Aussichten, als noch vor einigen Tagen angenomen werden konnte. Schon gelegentlich seines Aufenthaltes in Paris konnte der jugoslawische Außenminister Marinkowitsch mit dem griechischen Gesandten Politis dahin Überein kommen, daß die Regelung der Frage einer jugoslawi schen Freizone in Saloniki der Erneuerung des vor ein einhalb Jahren aufgehobenen Bündnisvertrages oor- ausgehen müsse. Politis hat deshalb schon einen Ent wurf für die Lösungdes S a l o n i k i p r o b l e m s vorgelegt, der für Griechenland und Jugoslawien an nehmbar ist. Demzufolge stehen jugoslawisch-griechische Verhandlungen über die Freizone von Saloniki bevor, zu denen England eine wohlwollende Stellung ein nimmt, jedoch nur, wie aus autoritativer Quelle ver lautet, unter der Bedingung, daß eine gleichwertig ins Auge gefaßte jugoslawisch - bulgarische Annäherung in keinem Falle zu irgendeiner territorialen oder politi schen Aenderung an der Küste des Aegäischen Meeres führen darf. Mit anderen Worten heißt dies, daß so wohl Saloniki, als auch die Westthrazischen Häfen in griechischer Hand bleiben. Um Bulgarien zu einem An schluß an diese Pläne zu bewegen, hat Jugoslawien der bulgarischen Regierung mitgeteilt, daß es einer neuen bulgarischen Völkerbundsanleihe keine Hindernisse in den Weg zu legen gedenke, sondern sie fördern und sei nen Einfluß geltend machen werde, damit auch die übri gen Staaten der Kleinen Entente die Anleihe befür worten. In Verbindung damit steht die Auflegung einer jugoslawischen Anleihe in London über die gegen wärtig verhandelt wird und deren Emission der Einigung über das Salonik-Problem und der Erneuerung des Bündnisses mit Griechenland vorausgehen soll. In unterrichteten Kreisen wird unterstrichen, daß Eng land der neuen französischen Balkan politik seine Zustimmung aus Unzufrieden heit mit der italienischen Unversöhnlichkeit gegenüber Jugoslawien mit Italien Ablehnung einer Mächtever mittlung im Albanienkonflikt und mit der italienischen Demonstration vor Tanger gewährt.