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Der Slrett 30 November 1927 In den letzten Tagen schien es, als wenn es im Nordosten Europas zum Losschlagen kommen sollte. Schon seit Monaten hat Polen an der litaui schen Grenze sein ohnehin starkes und trefflich aus gerüstetes Erenzwachkorps durch zahlreicheTrup- pen verstärkt. Gegenüber stehen aber auch die litaui schen Vorposten auf der Wacht und der größte Teil der allerdings nicht allzu bedeutenden litauischen Wehrmacht ist südlich von Kowno versammelt. Durch das Eingreifen der Mächte, vor allem aber durch die russische Note nach Warschau, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ, ist das schlimmste ver mieden worden. Aber der Streit, der immer wieder den Frieden Europas bedroht, ist noch nicht zu Ende. Schon bald nach ihrer inneren Konsolidierung einigten sich die Sowjets mit den Randstaaten, die früher zu Rußland gehört hatten über ihre Gebiete. Die Grenze gegen Litauen wurde in der Weise geregelt, daß Moskau ausdrücklich auf Wilna verzichtete, das in litauischem Besitz blieb. Der Streit um Wilna ging zwischen Litauen und Polen weiter. Die Litauer behaupteten, daß Wilna zu allen Zeiten die Hauptstadt ihres Landes gewesen wäre, sowohl in den Jahren der litauischen Selbständig keit wie auch der Zugehörigkeit zu Polen. Da man sich trotz vieler Besprechungen auf gütliche Weise nicht einigen konnte, schritten die Polen im Herbste 1922 im Vertrauen auf die französische Unterstützung zu einem Gewaltakte. Der polnische General Celigowski, der später längere Zeit Kriegsminister war, drang durch einen Handstreich in die Stadt ein und blieb dort, ob wohl Litauen sich mehrfach beim Völkerbund über diese Willkür beschwerte. Da man in Genf unter dem Drucke Frankreichs die einzig richtige Entscheidung nicht zu fällen wagte, beschäftigte sich die Botschafterkonferenz mit der wichtigen Angelegenheit, die aber auch einen klaren Beschluß nicht faßte. Es wurde wohl erklärt, daß Wilna eigentlich zu Litauen gehörte, die Polen erkann ten aber diese Entscheidung nicht an, sondern blieben nach wie vor in der Stadt und halten sie auch heute mit ihrem Gebiet noch besetzt. Die Botschafterkonferenz ließ Besprechung zwischen v. Koesch und Briand. 30. November 1927 Nach dem „Excelsior" wurde gelegentlich der gestri gen Unterredung des Botschafters von Hoesch mit dem französischen Außenminister Briand hauptsäch lich die Danziger Angelegenheit und der litauisch-pol nische Konflikt besprochen. Gegen die vorherige Schaf fung eines Schieds- und Sicherheitssystems, so bemerkt das Blatt, hätten sich zwischen der deutschen und russi schen Auffassung zahlreiche gemeinsame Punkte ergeben. Frankreich könne jedoch unter keinen Umständen von der von ihm verlangten Reihenfolge „Schiedsgericht, Sicherheit, Abrüstung" abgehen. Die „Volonte" zum Abrüstungsproblem. Auch die französische Linkspresse versucht, ein etwaiges Mißglücken der Arbeiten der vorbereitenden Abrüstungskonferenz im voraus Deutschland und Ruß land in die Schuhe zu schieben. So schreibt das Blatt Caillaux', die „Volonte", daß die vorbereitende Ab- rüstungskomission vor dem Dilemma stehe, entweder er folglos zu enden, oder aber die Verminderung der Rüstungen durch die Organisierung der kontinentalen Sicherheit sfranzösische These) zu erleichtern. Amerika will keine Bindungen in Europa 30 November >927 Die Tatsache, daß es die amerikanische Regierung durch ihren Verner Gesandten abgelehnt hat, sich mit der von französischer Seite angeregten Bildung einer Sicherheitskommission, die als Unterkommission der Vorbereitenden Abrüstungskommission gedacht ist, irgendwie in Verbindung bringen zu lassen, wird in London als deutlicher Beweis dafür angesehen, daß Amerika nach wie vor keine militärischen oder politi schen Verpflichtungen in Europa eingehen oder die Grenzen einer europäischen Macht garantieren wolle. Dagegen hält man es nicht für ausgeschlossen, daß Amerika die Genfer Zusammenkunft benutzen werde, um in der für die Vereinigten Staaten wichtigen Frage der Interpretation des jetzt gültigen Kriegsrechts mit den politischen Vertretern Verhandlungen zu führen. Die Beunruhigung aus dem Balkan 30. November 1927 Italien zweifelt an dem Friedenscharakter des süd- slawisch-französischen Vertrages. Das faschistische Verordnungsblatt nimmt zu der Note der offiziösen Belgrader „Agenzia Avala" in der italienisch-albanischen Defensivallianz Stellung und er klärt, es sei bezeichnend, daß der Standpunkt der Avala von den Pariser Blättern zu dem ihrigen gemacht wird und enthülle eine auffällige Gleichheit der Mentalität und der politischen Auffassung. Die Avala-Agentur nennt den französisch-südslawischen Freundschaftsvertrag friedfertig und locarnistisch. Vielleicht seien die Worte des Freundschaftsver trages harmlos, könne man aber die beiden Fabriken für Militärflugzeuge als harm los bezeichnen, dieFrankreichinSüdslawien errichtete? Das sei die harte Wirklichkeit, die hinter diesen rosigen Phrasen sich verberge, an die nie mand glaube. Die weitere Behauptung, die ita lienisch-albanische Defenstvallianz sei beim Völkerbund nicht registrierbar sei völlig irrig. Der UM Wilna. schließlich die Angelegenheit auf sich beruhen, auch der Völkerbund hat sich mit ihr seither nicht mehr be schäftigt, so daß die Frage bis jetzt immer noch eine offene Wunde im Nordosten Europas ist. Die Rechtslage ist die, daß Wilna zu Litauen ge hört, wie auch — wenn auch nicht mit klaren Worten — die Botschafterkonferenz entschieden hat. Polen wird sich dagegen auf den Standpunkt stellen, daß es nun mehr schon seit fünf Jahren die Stadt besetzt hat, ohne daß ein ernstlicher Widerstand Litauens erfolgt wäre. Litauen aber will mit aller Gewalt seine richtige Haupt stadt wiederhaben. Bei den zahlreichen Aufständen, die das unglückliche Land in den letzten Jahren schwer ge schädigt haben, hat jede Regierung von rechts wie von links als ihr erstes Ziel die Wiedergewinnung Wilnas hingestellt. Dieses Mal muß der Völkerbund Farbe bekennen, er kann sich, wenn er sich selbst nicht seines An sehens ganz berauben will, einer Entscheidung nicht ent ziehen. M. Ruhland slehl hinter Litauen Am Dienstag besuchte nach einer Zeitungsmeldung der russische Gesandte Sudakow den litauischen Kriegs minister und teilte ihm mit, daß im Falle eines pol nischen Angriffes gegen Litauen Rußland unverzüglich seine Gegenmaßnahmen treffen würde. Gleich nach dem russischen Gesandten stattete der französische Militärattache dem Kriegsminister seinen Besuch ab, dem der Minister die russische Erklärung bekanntgab. Die Lage in Litauen. Die innerpolitische Lage Litauens hat sich nur ge ringfügig entspannt. Woldemaras setzt seine Ver schleppungstaktik fort. Die Oppositionsparteien sind grundsätzlich bereit alle innerpolitischen Meinungsver schiedenheiten vorläufig beiseite zu stellen, und eine nationale Einheitsfront zu bilden. Man spricht allge mein als Folge der Verschleppungstaktik von Wolde maras von der Bildung einer neuen Regierung, an deren Spitze der Memeler Gouverneur Merkys stehen soll. Woldemaras soll nur das Außenministerium be halten. Die Koalitionsfrage wird aber nach wie vor pessimistisch beurteilt. Völkerbund sei lediglich eine bürokratische Behörde zur Registrierung aber keine politische Kontrollbehörde. Wenn zwei selbständige Staaten einen Vertrag schließen, we,nn nach der Auffassung der Agentur Avala keinem Staate eine Bedrohung der Abhängigkeit von Albanien gleich sein könne, so stimme Italien darin vollkommen mit der Avala überein. Seit dem November 1926 und auf 20 Jahre, vom November 1927 an gerechnet, werde niemand die Unabhängigkeit der albanischen Nation antasten. Die unerwartete Ent scheidung Belgrads erinnere aber ein wenig an die Fabel vom Fuchs und den Trauben. Um alle Mystifika- lionen abzuschneiden sei nochmals gesagt: Der klare In halt der italienisch-albanischen Desensivallianz vom 22. November sei für Albanien absolute Unabhängigkeit und friedliche Entwicklung, für Italien der freie Ein- und Ausgang zur Adria, zu der die Tür gerade der Kanal von Otranto ist. Liaptscheff Uber die bulgarisch-südslawischen Be ziehungen. Ministerpräsident Liaptscheff streifte in seiner Rede am gestrigen Dienstag in der Sobranje bei der Debatte über die Thronrede entgegen den Erwartungen die bul garisch-südslawischen Beziehungen nur kurz. Er erklärte, daß die bulgarische Regierung stündlich die Aufhebung der südslawischen Grenzsperre gegen Bulgarien erwarte. Bulgarien habe diese Maßnahme hingenommen ohne Kegenmaßregeln zu ergreifen. Die Rede Liaptscheffs läßt immerhin die Auslegung zu, daß bei längerer Dauer der Grenzsperre Bulgarien mit Repressalien ant worten werde. Dem „Petit Parisien" zufolge, beabsichtigt Woldemaras nach Genf zu reisen. Präsident Cosgrave verlangte gestern eine Vereinigung von Nord- und Südirland. Lord Veaverbrook setzte sich heute erneut für die Zusammenfassung des englischen Bergbaus zu einem großen Trust ein. Dringende Vöikerbundssragen. Die erweiterte Tagesordnung. — Die völlig veränderte außenpolitische Lage. — Italiens und Frankreichs neue Verträge. Die unsicheren Verhältnisse in Rumänien. — Zuspitzung des polnisch-litauischen Streitfalles. — Pilsudskis Reise nach Genf. — Die Teilnahme der Russen an der Abriistungsvorkonferenz. — Vor wichtigen Entscheidungen. Als vor ungefähr 14 Tagen das Eeneralsekretariar des Völkerbundes die Einladungen zu der am 5. Dezember beginnenden 46. Ratssitzung versandte, ent hielt die Tagesordnung zwar wie stets einige 20 Punkte, aber es handelt sich dabei meist um die jedesmal wiederkehrenden Dinge, wie Berichte der Kommissionen, Referate, vom Völkerbund angeordnete Untersuchungen und dergleichen. Dazu kamen einige Punkte, die bei der letzten Septembertagung trotz ihrer Dauer von mehr als drei Wochen nicht erledigt worden waren. Natürlich fehlten auch die schon obligat gewordenen Beschwerdeführer wie Danzig, das Saargebiet und einige nationale Minderheiten nicht. Alles in allem war es eine ausfallend harmlose Tagesordnung, die die große Welt nur wenig interessierte. Auch in der hohen Politik, die die Außenminister gewöhnlich in Genf hinter den Kulissen behandeln, lag nichts von Bedeu lung vor, herrschte im internationalen Leben doch in den letzten Monaten eine Ruhe, wie wir sie lange nicht erlebt haben. Das ist über Nacht anders geworden: der aus gesprochenen Ruhe ist mit einem Schlage eine elektrische Hochspannung gefolgt, die düsteren Wetterwolken, die sich fast gleichzeitig im Süden, Südosten und Nordosten Europas zusammenballen, beunruhigen die Diplomaten aller Länder aufs höchste und besonders in Paris herrscht aus vielen Gründen starke Erregung. Die Tagesordnung für die Ratssitzung ist um mehrere wich tige Punkte wesentlich erweitert worden, die Außen minister haben Fragen von der größten Wichtigkeit zu entscheiden, die Blicke der ganzen Welt sind in der näch sten Zeit wieder nach Genf gerichtet. Für Deutschland kommt zunächst der Streit mit der griechischen Regierung wegen der Bezahlung des vor dem Weltkriege bestellten Kreuzers „Salamis" zur Sprache. Bedeutend wichtiger für uns ist jedoch die Schulfrage in Ostoberschlesien, die gerade in den letzten Tagen eine bedeutsame Wendung angenommen hat. Bekanntlich hatte sich Reichsaußenminister Dr. Stresemann mit der Entscheidung der Märztagung zufrieden gegeben, ob wohl sie der Rechtslage keineswegs entsprach und auch für Deutschland nicht günstig war. Er glaubte dies des lieben Friedens halber tun zu müssen, da es sich nur um eine einmalige Erledigung handelte, die ausdrücklich einen Ausnahmezustand darstellte. Nun haben aber die Polen versucht, diesen Ausnahmezustand zur Regel zu machen: Deutschland hat sich hierüber bei dem Völker bund beschwert. Ein günstiger Zufall fügte es, daß ge rade in diesen Tagen der Vorsitzende der Gemischten Kommission für Oberschlesien der Schweizer Calonder eine wichtige Entscheidung zugunsten der deutschen Min derheit fällte, so daß unser Vertreter in Genf dieses Mal einen wesentlich leichteren Standpunkt in dieser so über aus wichtigen Frage haben wird. Der unerwartete Tod Bratianus in Bukarest hat die Lage in dem un glücklichen Rumänien keineswegs geklärt, vor allem ist die Frage der Thronfolge bis jetzt noch keinen Schritt weitergekommen. Vratianu war zweifellos in den letz ten Jahren der eigentliche Beherrscher Rumäniens und besaß sowohl die Erfahrung wie auch die Macht, seine Pläne durchzuführen. Sein Bruder, der ihm als Ministerpräsident gefolgt ist, besitzt aber weder die diplomatische Begabung noch die zähe Tatkraft Ionel Bratianus, das Schicksal des Landes ruht daher sicher lich nicht in seiner Hand, sondern wird von den Gegen parteien bestimmt, die vorläufig mit ihren Entschlüssen jedoch noch zurllckhalten. In den letzten Wochen ist die Spannung zwischen Italien und Frankreich bis zur Siedehitze gestiegen. Dem geschickten Eintreten des französischen Gesandten in Nom war es immer wieder gelungen, die Verstim mung, die durch Grenzübertritte italienischer Truppen hervorgerufen war, zu beschwichtigen. Nun aber hat Mussolini, der sich allzusehr geärgert hatte, daß Italien nicht zu der Tangerkonferenz eingeladen wurde, zu einem Schlage ausgeholt, und den kühnen „Panther- sprung" nach Tanger gewagt. Doch die Franzosen blieben die Antwort nicht schuldig und schlossen wenige Tage später mit Jugoslawien einen Freundschaftsver trag, der schon längere Zeit vorbereitet war. Zug um Zug ging es weiter, Italien erweiterte den Vertrag von Tirana, der im Frühjahr dieses Jahres schon so viel Konfliktstoff hervorgerufen hatte zu einem militärischen Freundschaftsbunde und verlängerte seine Dauer von fünf auf zwanzig Jahre. Die Erregung in Paris stieg ins Ungeheure. Allen Ernstes verlangten die französi schen Blätter, daß dieser neue Vertrag bei der Rats sitzung besprochen werden müsse, doch wies Italien dar auf hin, daß der Völkerbund den Vertrag ohne weitere Diskussion nur zu registrieren habe, wie es auch mit allen militärischen Verträgen, die Frankreich mit Polen, Belgien und der Tschechoslowakei abgeschlossen habe, verfahren sei. Mussolini ist bekanntlich ein Gegner des Völkerbundes; das geht am besten schon daraus hervor, daß er bisher nur sehr selten den Sitzungen beigewohnt und auch die Ratstagungen gemieden hat. Aufs höchste ist auch die Spannung zwischen Litauen und Polen wegen des alten Zankapfels Wilna gestiegen. Eine Zeitlang hatte es den Anschein, als ob Polen den Einmarsch seiner Truppen in Litauen in Er wägung zöge, doch ist ihm von allen Großmächten er öffnet worden, daß es dann die Verantwortung für den Feuerbrand im Nordosten Europas allein trüge. Auch Vie Intervention Rußlands in Warschau ist nicht ohne Eindruck geblieben, ebenso weiß man genau, wie Deutschland über die Angelegenheit denkt. Dieses hat nunmehr vorgeschlagen, die höchst wichtige Angelegen heil vor den Völkerbundsrat zur Entscheidung zu bringen. Die Verhandlungen werden noch spannender wer den, da der polnische Ministerpräsident, Marschall PU sudski, sich entschlossen hat, sein Land in Genf sowohl bei der Ratstagung wie bei der Abrüstungskonferenz zu vertreten. Pilsudski kann über die Verhältnisse, die sich bisher wegen Wilna ereignet haben, mit am besten Auskunft geben, auch wenn er seinerzeit behauptet hat, daß er von dem Einmarsch des Generals Cagorski in die Stadl nichts gewußt habe. Er ist auch der ge gebene Vertreter Polens bei den Verhandlungen über die Abrüstung. Hat er doch bereits im Jahre 1894 die Vorgänger der polnischen Legionen ins Leben gerufen, die später den Grundstock für das polnische Heer gebildet haben. Auch war er der Führer der Polen in dem rus sischen Feldzuge und hat zusammen mit der französischen Militärmission die polnischen Streitkräfte zu ihrer jetzigen Größe ausgebaut. Die Abrüstungsoorkonferenz wird dieses Mal durch die Anwesenheit der russischen Vertretungen ein ganz anderes Gesicht erhalten. Da kann inan heute schon sagen, daß die theoretischen Ab Handlungen nur sehr kurz sein werden, die Russen wer den, ob so oder so, schon dafür sorgen, daß larjächlnb über die Abrüstung gesprochen und ein Weg gesucht wird, aus dem sie herbeigeführt werden kann. Jeden falls bringen die nächsten Tage in Genf interessante Verhandlungen und sicherlich auch bedeutsame Ent scheidungen. M.