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Die Abrüstungsdeballe im Unterhaus 25. November 1927 Vei Einbringung seines Antrages zur Abrüstungs- frage erklärte Macdonald im Unterhaus, die ein zige Aussicht auf eine Uebereinkunft besiehe darin, daß England und Amerika jeden Schritt tun, um die Ge fahr eines Krieges zu vermeiden. Chamberlain wies die Behauptung zurück, datz auf der Marine-Abrüstungs-Konferenz die britische Delegation einen militärischen Charakter gehabt habe. Chamberlain erklärte weiter, er müsse es ablehnen, eine Definition des Begriffs „Angriffskrieg" zu geben, weil eine solche Definition nur eine Falle für die Unschuldigen und eine War nungstafel für den Schuldigen darstelle. Ueberdies werde es dem Völkerbunde keine Schwierig keiten bereiten, in einem Streite den Angreifer zu be zeichnen. Chamberlain behandelte dann die Gründe, die die britische Regierung verhinderten, die Unter zeichnung der Fakultativklausel anzu- cmpfehlen. Dabei betonte Chamberlain, diese augen blickliche Haltung der britischen Regierung in dieser Frage müsse nicht notwendigerweise die Stellungnahme Englands für alle Zeiten sein. England habe in der Vergangenheit seinen Glauben an die Schiedsgerichts barkeit bewiesen. Es hoffe, dieses auch in Zukunft zu tun, auch wenn es nicht die Verpflichtung übernehmen könne, in allen Fällen ein Schiedsgericht entscheiden zu lassen. England als Garant des Locarno- Paktes, das sei der britische Beitrag, und zwar ein riesengroßer Beitrag zum Sicherheitsgefühl, das die europäische Welt genießt. Wenn Macdonald erklärt, England müsse noch weitergehen, dann wolle er ihn fragen, welche neuen Verpflichtungen Macdonald dann zu übernehmen be reit sei. Für und wi-er Chamberlains Auffassung 25. November 19^7 In einem Leitartikel unterstreichen die „Times" nachdrücklich den von der Regierung gestern vertretenen Standpunkt. Sir Austen Chamberlains Argumente seien überzeugend gewesen und er habe kaum je eine wirksamere Rede vor dem Unterhaus gehalten. Die Haltung der Regierung, die auf strikte Einhaltung übernommener Verpflichtungen hinauslaufe, stehe in angenehmem Gegensatz zu der Stellungnahme LloydGeorgeszu Krieg und Frie den, der rücksichtslos für eine Revision derFrie- densverträge eintrete, in stürmischer Weise in schwierige internationale Konflikte eingreife und dann die Regierung verantwortlich mache, daß Europa nicht vollständig in Frieden lebe. Die Stellung der kon servativen Presse stimmt im wesentlichen mit diesem offiziösen Kommentar, der als eine Art Abschluß der Rüstungsdebatte der letzten Monate anzusehen ist, mehr oder weniger überein. Von der liberalen Presse wird dazu eine vollkommen gegenteilige Stellung eingenommen. Die „Daily Mail" nimmt auch bei dieser Gelegenheit wieder gegen den Außenminister Stellung und betonen, Chamberlain scheine den Pakt von Locarno als den letzten Schritt vorwärts anzusehen, über den hinaus er keinerlei Aktivität für möglich noch für wünschens wert ansehe. — Die „Westminster Gazette" meint, daß die Admirale in Genf auf dem Wege über Lord Cecil ihren Standpunkt im Kabinett durchzusetzen vermöchten. Alle an dem Versailler Vertrag beteiligten Mächte seien - verpflichtet, der vollständigen und zwangsweisen Ab- : rüstung Deutschlands durch freiwillige Maßnahmen zu s folgen. — Die „Daily Mail" sieht in der gestrigen ' „Lichtstörung" einen symbolischen Beweis für die f geistige Dunkelheit, die gegenwärtig bei der i Mehrheit des Unterhauses bestehe. — Der „Daily ! Chronicle" betont, daß Chamberlains Beiträge zum europäischen Frieden seit Locarno stets nur darin be ständen „nein" zu sagen. Seine letzte Rede über die Abrüstung im Unterhaus sei nahezu die bestimmteste Erklärung, daß Großbritannien nichts mehr .für den Frieden tun wolle. Die Abstimmung im Unterhaus. Das Unterhaus hat gestern die Ent schließung der Arbeiterpartei, die die Richtlinien der Regierung in Fragen der Abrüstung und des allgemeinen Friedens bemängelte, mit 316 gegen 105 Stimmen abgelehnt. Die konser vative Eegenentschließung wurde mit 286 gegen 66 Stimmen angenommen. In der Debatte ergriff nach Lloyd George der erste Lord der Admiralität Bridgeman das Wort. Er setzte erneut auseinander, daß die Flottenabrüstungs- Konferenz in Genf nicht an der Frage der Eeschützstärke, sondern an der Tonnage gescheitert sei. Niemand habe den ausgezeichneten wirtschaftlichen und sehr weit gehenden britischen Plan angegriffen. Das in Wa shington festgelegte unglücklich hohe Maximum für Kreuzer sei zum Standard in anderen Ländern gewor den, dem Großbritannien jetzt folgen müsse. Er habe in Genf daher die Herabsetzung sowohl der großen als auch der Ausrüstung von Schlachtschiffen und Kreuzern und die Abschaffung von Unterseebooten vorgeschlagen. ? Weiter betonte Bridgeman nachdrücklich, daß die Konfe- i renz die englisch-amerikanischen Beziehungen nicht un günstig beeinflußt habe. Die Genfer Konferenz habe ! gelehrt, daß vor einer Konferenz der Boden vorbereitet ? werden müsse. In der Zwischenzeit sei es wichtiger, jede Spannung in den Beziehungen der Mächte zu ver meiden als eine Formel für die technische Flottenver- - Minderung zu finden. Großbritannien habe im Jahre ! 1914 vor Ausbruch des Krieges 704 Kriegsschiffe der i verschiedenen Gattungen mit einer Tonnage von 2 695 000 Tonnen besessen, Ende des Krieges 1327 Schiffe mit einer Tonnage von 3 294 000 Tonnen. Heute besitze es 395 Schiffe mit 1 444 000 Tonnen. Gesangenrevolte in einem kalifor nischen Zuchthaus. 25. November 1927 Im Zuchthaus zu Folson in Kalifornien kam es zu einer Zuchthausrevolte, die bisher in ihrer Art bei spiellos dasteht. Augenblicklich werden 2V0V Zuchthäus ler durch 5VV Mann regulärer Truppen mit Maschinen gewehren und leichter Feldartillerie belagert. Man nimmt an, daß bisher neun Zuchthäusler und zwei Wärter getötet sind. 21 Zuchthäusler und vier Wärter wurden verwundet. Acht unbewaffnete Wärter wur den von den belagerten Zuchthäuslern als Geiseln be halten. Die Revolte nahm folgenden Anfang: UM die Mit tagszeit versammelten sich am Danksagungstag, dem höchsten amerikanischen Feiertag, im großen Saal des sogenannten alten Zellenhauses, in dem nur Schwer verbrecher sitzen, ungefähr 1000 Gefangene, um einer Filmvorführung anläßlich des Feiertages beizuwohnen. Plötzlich ertönten an verschiedenen Stellen des Saales Pfeifensignale, denen tumultartige Szenen folgten. Die Verbrecher stürzten sich auf die im Saal anwesenden Wärter, die ohne Waffen waren, warfen sie zu Boden und entrissen ihnen die Schlüssel. Nun folgten unglaub liche Szenen. Weitere Gefangene schlossen sich den Auf rührern an, durcheilten mit wildem Lärm die Kor ridore, liefen die Treppen hinauf und befreiten die übri gen Gefangenen, so daß sich die Zahl der Rebellen auf 2000 erhöhte. Ein Trupp stürzte sich auf einen Seiten flügel, wo hinter verschlossenen Türen Waffen aufbe wahrt wurden. Die Zuchthäusler ergriffen Revolver, Gewehre und Maschinengewehre, und andere Abteilun gen eilten in das Büro des Eefängnisdirsktors, um diesen gefangen zu setzen. Der Direktor hatte noch Zeit gehabt, um sich mit der Außenwelt in Verbindung zu setzen und Truppen anzufordern. Die Wärter eines anderen Zuchthausgebäudes, das auf der anderen Seite des Hofes liegt, hatten im ersten Augenblick vollkommen die Fassung verloren, sie konnten gerade noch sämtliche Zellen ihres Gebäudes mit den 1800 Verbrechern, die darin untergebracht sind, abschließen und das Haupttor verbarrikadieren. Dann eröffneten sie vom Fenster aus das Feuer auf die im Hofe befindlichen meuternden Zuchthäusler. Diese verbarrikadierten sich daraufhin im alten Zellenhaus und gaben durch ein weißes Plakat bekannt, daß sie acht Wärter als Geiseln zurückbehalten hätten. Inzwischen rückten aus Lastautos Truppen mit Maschinengewehren an, während das Zuchthaus personal mit den Gefangenen verhandelte, und es kam dann zu der regelrechten Belagerung durch die Truppen. Mit Tanks und Fluazeuaen gegen die Zuchthausrebetten Die von der Zuchthausdirektion in Folson aufge forderten Truppen müssen mit Tanks und Flugzeugen gegen die meuternden Gefängnisinsassen vorgehen, da die Meuterer eine freiwillige Kapitulation abgelehnt haben. Auf beiden Seiten sind Tote und Verwundete zu verzeichnen. Nachdem die Truppen das erste Mal zurückgeschlagen waren, gingen sie, als Flugzeuge neue Maschinengewehre gebracht hatten, zu einem zweiten Angriff vor, mußten sich jedoch zurückziehen, nachdem sie Tränenbomben ins Zuchthaus geworfen hatten. Die Truppen erwarten weitere Verstärkungen, um zu einem neuen Angriff zu schreiten. Hymans über Belgiens Politik. 25. November 1927 „Petit Parisien" veröffentlicht eine Unterredung eines Brüsseler Berichterstatters mit dem neuen belgi schen Außenminister Hymans über die Frage der Militärdienstzeit und Belgiens künftige Außenpolitik. Die Kabinettskrisis, so meinte Hymans u. a. sei darauf zurückzuführen, datz die sozialdemokratische Partei sich auf die Formel einer sechsmonatigen Dienstzeit fest gelegt habe, die dann als Grundlage für eine Neu organisation des Heeres hätte dienen sollen. Die neue Regierung sei aber der Auffassung, daß die Frage der Militärdienstzeit nur gleichzeitig mit der Heeresreform zu lösen sei. Belgien bleibe auch weiterhin der ergebene und freudige Mitarbeiter an der Befriedung und Stabilisierung Europas unter der Aegide des Völker bundes und der Verträge von Locarno. Die Möglichkeit eines Krieges bleibe aber vorläufig noch bestehen, so daß Belgien bereit sein müsse. Ueber die auswärtige Politik erklärte der Minister, die neue Negierung werde die engen B e - ziehungenzu den früheren Kriegsalli ierten aufrecht erhalten. Sie werde sich ferner be mühen, Belgiens Handel und Verkehr zu fördern. Wenn die französisch-belgischen Wirtschaftsverhandlungen nicht zum Ziele führen sollten, so würde dies gleicherweise politische und wirtschaftliche Rückwirkungen zur Folge haben. Zum Schluß betonte Hymans seine Anhäng lichkeit an den Völkerbund, wobei er hervor hob, daß dessen Autorität nur in einer Atmosphäre des Vertrauens zunehmen könne. Dies setze aber bei jeder Nation eine Evolution der Gei st er voraus, die sich nur schrittweise vollziehen könne. Italienisch - albanischer Verteidigungskrieg. Die Agencia Stefani teilt mit, daß am 22. No vember in Tirana das Verteidigungsbündnis zwischen Italien und Albanien unterzeichnet worden ist. Der Vertrag wird beim Völkerbund registriert werden. Nach italienischer Quelle hat der Vertrag als ein zigen Zweck die Stabilisierung der zwischen den beiden Staaten bestehenden natürlichen Beziehungen behufs ' Sicherung einer Politik der friedlichen Entwicklung. Beide ! Parteien sollen die Interessen und den Vorteil der an- , deren Partei mit dem gleichen Eifer wahrnehmen, wie ihre eigenen. Es wird „ein unwandelbares Verteidigungs bündnis" auf zwanzig Jahre abgeschlossen, das ohne Kündigung stillschweigend für weitere zwanzig Jahre erneuert wird. Das Bündnis verpflichtet zur gegen seitigen Verteidigung gegen jeden Angriff und im Falle eines nicht provozierten Krieges zur Anwendung aller zu Gebote stehenden Mittel für die Verhinderung der Feindseligkeiten und die Erlangung einer gerechten Ge nugtuung der bedrohten Partei. Nach Scheitern aller Schlichtungsversuche müssen dem Verbündeten alle mili tärischen, finanziellen und sonstigen Mittel zur Uebe - Windung des Konfliktes zur Verfügung gestellt werd.n. Beide Parteien dürfen nur gemeinsam Frieden o>cr Waffenstillstand schließen und entsprechende Verhand lungen aufnehi^n. In Belgrad wird der neue Verteidigungsvertraq zwischen Italien und Albanien als eine Reaktion des französisch-jugoslawischen Freundschaftsvertrags an>,> sehen. Man ist in politischen Kreisen der Ueberzeugung, datz dieser Vertrag eine neue SituationamBal- kan schaffen wird und ein Abkommen zwischen Italien und Jugoslawien vollkommen ausschließt. Der bulgarisch-rumänische Konflikt. Sofia, 25. Nov. Nach einer Meldung der „Slo- bodna Rotso" hat die bulgarische Regierung ihren Ge sandten in Bukarest beauftragt, die rumänische Regierung um Aufklärung über die blutigen Zwischenfälle in der Norddobrudscha zu ersuchen. Die rumänische Regierung wird zugleich ersucht, Maßnahmen zu ergreifen, um eine Wiederholung solcher Vorkommnisse zu verhindern. Die rumänische Antwort dürfte erst nach der Rückkehr der m die Dobrudscha entsandten Untersuchungskommission erteilt werden. Deutscher Reichstag. Sitzung vom 24. November. Präsident Löbe eröffnet die Sitzung um 14 Uhr. In allen drei Lesungen wird der Gesetzentwurf zur Aenderung des Telegraphengesetzes angenommen. Der Entwurf bezweckt, das Funkwesen in das deutsche Telegraphenrecht hineinzuarbeiten. Es folgt der Entwurf eines deutschen Aus lieferungsgesetzes. Danach kann ein Aus länder, der von der Behörde eines ausländischen Staates wegen einer strafbaren Handlung verfolgt wird oder verurteilt worden ist, der Regierung dieses Staates auf Ersuchen einer zuständigen Behörde zur Strafverfolgung oder Strafvollstreckung ausgeliefert werden. Die Auslieferung ist nur wegen einer Tat zu lässig, die nach deutschem Recht ein Verbrechen oder Vergehen ist. Sie ist nicht zulässig, wenn die Tat nur mit einer Vermögensstrafe geahndet wird, die nicht in eine Freiheitsstrafe umgewandelt werden kann, oder wenn es sich um eine politische Tat handelt. Abg. Dr. Breitscheid (Soz.) erklärt, der Ent wurf sei an und für sich begrüßenswert, müsse aber noch verbessert werden. Abg. Dr. von Freytagh-Loringhoven (Dntl.) hält eine genauere Durchprüfung des Entwurfs im Rechtsausschuß für notwendig. Ein ausgezeichnetes Material dafür seien die Verhandlungen der drei skandinavischen Staaten. Reichsjustizminister Hergt hebt die Notwendig leit der gesetzlichen Regelung des Auslieferungswesens hervor Die Regierung sei gern bereit, im Rechtsaus schutz näher auf die Einzelheiten der Vorlage einzu gehen. Auslieserungsverträge von deutschen Einzel ländern seien nur noch mit Frankreich vorhanden. Diese Vertrüge müßten nun durch den Abschluß von Reichs vertrügen dem neuen Recht angepaßt werden. Hier sei der Boden geschaffen für ein internationales Zusam menarbeiten zum Schutze der gemeinsamen Rechtsgüter der Nationen. Abg. Stöcker (Komm.) erinnert an die Zeiten, als Marx, Engels und Lenin in England und in der Schweiz ein Asyl fanden Heutzutage würden sie keine drei Tage dort geduldet werden. (Zuruf: Marx und Engels in Rußland auch nicht). Die Vorlage geht an den Rechtsausschuß. Es folgt die erste Lesung des Gesetzentwurfes über den Reichswirtschaftsrat. Reichswirtschaftsminister Dr. Cur tius erklärt, die Reichsregierung lege den größten Wert auf das Bestehen eines arbeitsfähigen Reichs wirtschaftsrates. Eine Reform des vorläufigen Reichs wirtschaftsrats sei unumgänglich notwendig gewesen. Die Kritik an seinen Arbeiten sei allerdings vielfach unberechtigt gewesen, weil seine Tätigkeit sich haupt sächlich in den Ausschüssen vollzogen hat. Vei dem bis herigen System waren zwei Drittel der Mitglieder des Reichswirtschaftsrats von der praktischen Mitarbeit aus geschlossen. Der endgültige Reichswirtschaftsrat soll den Charakter einer Eutachterkörperschast beibehalten. Auch das volle Initiativrecht wird ihm gewährt. Eine engere Verbindung zwischen Reichswirtschaftsrat und den gesetzgebenden Körperschaften soll hergestellt wer den. Eine Verkleinerung der Mitgliederzahl war not wendig. Sie ist von allen Kreisen der Wirtschaft ge fordert worden. Der Minister gab der Hoffnung Aus druck, datz die Vorlage bald verabschiedet werden möge. Abg. Koenen (Komm.) erklärt, die jetzige Vor lage sei ein Wechselbalg, den die Regierung zurückziehen solle. . Die Vorlage geht an den volkswirtschaftlichen Ausschuß. Das Haus vertagt sich auf Freitag, 13 Uhr. Haushaltsrechnung für 1926, Krankenversicherung der Seeleute.