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Wilsdruffer Tageblatt I 8. Blatt—Nr 272 — Sonnabend, deu 22 Nev 1980 I Toienfest Durch Feld und Flur, durch Hain und Hag Weht herbstlich herb Novemberwind, Das ist der Tag, das ist der Tag, Da dir die Toten nahe sind, Da bei der Sonne trübem Schein Du traurig deinem Herzen sagst: „Wie bin ich einsam und allein!", Da du um tote Liebe klagst. Es raschelt dürres, falbes Laub Bei jedem Schritt um Grab und Grab, Es rieselt Sand, es rieselt Staub Von jedem Hügel leis' herab, Und durch die tiefe Stille klingt Aus Grabesnacht ein ferner Klang, Der dir bis in die Seele dringt, So süß und sanft, so weh und bang. Dir ist, als ob aus dunklem Grund Ein Helles, zartes Leuchten bricht, Als ob ein längst verstummter Mund Wie einst so innig zn dir spricht, Als ob, was längst der Tod besiegt, Dir sieghaft stünde wieder nah', Sich zärtlich wieder an dich schmiegt': „Oh, traure nicht — hier bin ich ja!" Und die dir in des Jahres Lauf, Des Tages Hast vergessen sind, Die Toten wachen wieder auf Und mahnen mild und leis' und lind: „Was dir an Erdenglanz und Glück Die wilde Welt auch bieten mag, Einst kehrst du doch zu uns zurück — Es kommt der Tag, es kommt der Tag!" Gespenstisch nicht, nicht blaß und bleich Siehst du die Toten um dich steh n, Nicht Schauer aus dem Schattenreich Sind's, die am Grabe dich umweh'n. Was dir der Tod auch jäh entriß, Und ob du auch verzweifelst schier: Das Licht bricht durch die Finsternis, Dein Toter lebt — er lebt in dir! Oer Tod ist überwunden. Betrachtungen znm Totenfest. 1. Kor. 15, 55: Tod, wo ist nun dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? In diesen Tagen ziehen die schwarzen Schwärme der Menschen wieder zu den Gräbern. Und viele, viele Augen werden auf Hügel niederstarren und sich hinein bohren in den Tod. Und der Anblick ihrer Gräber wird ikmen nicht Trost in Tränen, Bereicherung bringen, son dern wird ihre Seele füllen mit neuem Gram. Und das sollte nicht sein und das braucht nicht zu sein. Laßt mich erzählen, was ich dieser Tage wieder erlebt habe. Da hab' ich unten im Süden unseres Vaterlandes auf einem alten Friedhof gestanden, der mitten in der Stadt halb als Park und halb als Anlage liegt. Auf diesen alten Friedhof gehe ich gern, sooft ich dort unten in der Ferne bin. Nicht wegen seiner stillen Ruhe bloß. Die ist auch woanders zu finden und ich kenne manchen alten Friedhof, der mir darin mehr gegeben hat. Aber eins ist es, was mich gerade dorthin immer wieder zieht, und nicht mich allein: es ist ein bestimmtes Grab. Es ist über hundert Jahre alt und doch fast imnier wieder mit frischen Blumen geschmückt. Das besorgen nicht etwa An gehörige. Von Verwandten soll niemand mehr dort tvohnen. Auch die Stadt tut's nicht. Es sind fremde Menschen, diese, jene — die solche stillen Opfer des Dankes bringen. Sie danken nicht etwa dem Menschen kind, das dort begraben liegt, für irgendwelche großen Verdienste. Dies Leben war an Leistungen ganz arm, denn es liegt ein Kind dort begraben. Und doch danken die Menschen — ich hab's auch getan. Erst neulich, als ich wieder dastand, kamen zwei Greisinnen, sehr gebrech lich, die eine besonders. Die andere führte sie an das Grab und zeigte es ihr, die anscheinend fremd war. Und beide standen still und sprachen leise miteinander, und als sie weggingen, da leuchteten ihre Gesichter. Es war etwas Wunderbares. Was ist es nun mit diesem Grab? Ein alter grün grauer Grabstein deckt es der Länge nach zu. Er stellt ein Ruhebett vor, auf dem ein Mädchen von etwa zehn Jahren liegt. Ihre linke Hand liegt auf ihrem Herzen, als habe sie eben dahin gefaßt, ihre rechte, die eben noch ein schmales Buch gehalten hat, ist sacht niedergesnnken an den Rand des Lagers und das Büchlein entgleitet den Fingern, die es nicht mehr halten. Man sieht's, sie ist eben gestorben. Aber, das ist das Wunderbare, sie ist nicht tot. Wohl hat sie die Augen geschlossen, aber sie lebt. Sie lebt nicht irdisch, aber sie lebt. Sie lebt in einem ganz wunderbaren Lächeln, das aus ihrem Ge sichtchen so lebendig von innen herausleuchtet und über dem Gesichtchen schwebt, als schwebte die Seele selbst um sie in seligem Frieden. Dieses Lächeln im Tode, dies Lächeln aus dem Tod heraus, dies Lächeln durch den Tod hindurch, das ist es, was so viele immer wieder zu diesem Grabe zieht, das uns immer wieder so dankbar von diesem Grabe scheiden läßt. Denn dieses Lächeln ist ganz Trost, weil es ganz Sieg und Leben ist. Darum saßt es einen stets mit ganz stiller, aber auch unwiderstehlicher Gewalt und Gewißheit: der Tod ist überwunden — „Tod, wo ist dein Stachel?" Diese Worte stehen nicht da. Aber sie sind da. Was müssen das für Eltern gewesen sein, die ihrem ihnen so früh genommenen Kinde einen solchen Stein haben setzen können! Die ihres toten Kindes Gesicht so im Licht der ewigen Freude geschaut und es dauernd im Stein so haben sehen wollen! Wie rein, himmelsrein muß die Liebe gewesen sein, die diese Eltern mit ihrem Kind verbunden hat, und wie stark, himmelsstark der Glaube, der sie alle trug: das Kind durch das Sterben, die Eltern durch das einsame Leben! Ich stelle sie mir jedesmal vor, Vater und Mutter, wie sie ans Grab ihres Töchterchens treten, Wohl oft, so oft. Auf diesen Gesichtern ist nichts gewesen von der dumpfen Verzweiflung oder dem finsteren Groll oder dem wehen Vergrämtsein. Auf diesen Gesichtern lag Lächeln — nicht das bittere Lächeln innerer Auflehnung gegen das Geschick, nicht das hoff nungslose des Verzichts, sondern das heilige, tiefernste und doch so freudig-lebendige Lächeln der Gewißheit: D u lebst und du bist unser, kein Tod kann dich uns nehmen. Still ging ich weg, das Herz voll Dank. Und meine Seele ging einen weiten Weg aus dem Süden am Berg hang hinüber zu der weiten Ebene der märkischen Felder am Luchrand und des Trostes voll trat sie da zu den Gräbern, die mir die liebsten sind. Da sah ich auch sie lächeln, die da ruhen unter dem schlichten Kreuz, das Lächeln, aus dem der Sieg leuchtet: Der Tod ist ver schlungen in den Sieg! Tod — wo ist nun dein Stachel? Hölle — wo ist nun dein Sieg? Gott sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn Jesus Christus. k. H- P- Ehre dem toten Gegner! Eine Erinnerung von Carl Kahle. Die Schlachten an der Somme 1916 tobten in all ihrer Heftigkeit. Aber trotz unheimlicher Ueberlegenheit an Meu chen und Material konnten die Engländer, die uns gegenüber landen, ihre Durchbruchsversuche nicht zur vollendeten Tat- äche werden lassen. Am zähen Ansharren unserer braven Truppen scheiterten sie. Immer hin — der Tod ging mit scharfen Sensenschlägeu umher. Manch guter Kamerad nahm für immer Abschied von uns. Im allgemeinen setzten wir die Gefallenen gleich hinter den „Grabenstücken" ver, den als solchen benutzten Granat löchern, oder diese wurden nach Feststellung der Loten Helden im nächtlichen Dunkel einfach zugeschaufelt, wenn daS nicht schon neue Einschläge der feindlichen Geschosse besorgt hatten. Nur ab und an brachten die Essenholer einen starren Kamera den bis an die Feldküchen zurück, die sie dann bis ins Ruhe quartier der Bagage Mitnahmen. So hatten treue Kampfgefährten eines Tages — olwr besser: nächtlicherweile — die sterblichen Reste von zwei Offi zieren und drei Mann ins rückwärtige Gelände geschafft, um sie dem Schoße der Allmutter Erde in sorgende Obhut zu ge ben. Bei dem Orte Ruhaulcourt sollten die Gefallenen die letzte Ruhe finden. Der Soldatenfriedhof lag hier auf einer bescheidenen Bodenerhebung außerhalb des Dorfes, auf der nur ein einziger Baum seine Zweige den Wolken entgegen streckte. Sonst war diese „Hochebene" mit Gras bewachsen, im übrigen von Ackerfurchen durchzogen. Ein Teil freilich trug den gleichförmigen Wald von schlichten Holzkreuzen, die vom Heldentode der "Feldgrauen Kunde gaben. Hier waren fünf offene Gräber bereitet. Etwa fünfzig Mannschaften — das Bataillon lag noch in Stellung — hatten sich zur Beisetzung eiugefunden, dazu wir vier Offiziere, von denen einer als Kandidat der Theologie am geeignetsten zur Tranerandacht war. Dieser kameradschaft lichen Pflicht entledigte er sich in herzlicher Weise, und schon wollten nach einem letzten Gebet die Mannschaften mit dem Zuwerfen der Grabstätten beginnen, als ich, dem die Leitung der Beisetzung oblag, hinter mir und gleich darauf rechts von mir das eigentümlich singende Geräusch niedersausender Flie gerbomben vernahm. Der Knall der Detonationen polterte über das Feld, und in dcu bezeichneten Richtungen sah ich in zwei- bis dreihundert Meiern Entfernung die Einschlagstellen. Wie ich später feststellen konnte, hatte der Feind eS auf die dort lausenden Dcküencnst an^ - Nun sind Fliegerbomben ein wenig liebenswürdiger Gruß, zumal man als Infanterist sich so gut wie gar nicht gegen sie wehren kann. Da oben schwebten im schönsten Son nenschein etwa dreißig englische Flieger in nächster Nachbar schaft über uns, Wohl keineswegs in der Absicht, vorweihnacht liche Liebesgabenpalete hinter unserer Front auszustreuen. Und das Drohendste — ein Flieger hatte sich von dem Ge schwader losgelöst, kam bis etwa 150 Meter herunter und steuerte genau auf unsere Gruppe zu, die er auf der freien Fläche vollkommen übersehen konnte. Schleuniges Handeln war geboten. So schickte ich die fünfzig Manu zu je zehn in fünf verschiedenen Richtungen ins Gelände, um ihrer Geschlossenheit ein Ende zu bereiten und sie noch Möglichkeit der Wirkung herab fallender Bomben oder auch Maschinengewehrschüssen des Fliegers zu entziehen. Wir vier aber sahen uns einen Augenblick fragend an, was besagen sollte: Nehmen wir Deckung durch Sprung in die noch geöffneten Gräber oder — wir blickten auf den etwa vierzig Meier entfernt stehenden Baum — wollen wir uns in dessen Geäst zu schwingen versuchet'/? Das wäre immerhin ein Schutz gewesen, da die Splitter der mit besonders empfindlichen Zün dern versehenen Fliegerbomben fast wagerccht zur Seite flogen, somit die Baumkrone einige Sicherheit geboten hätte, falls sie nicht unmittelbar getroffen Waide. Aber schließlich blieben wir auf unserem Platze stehen, unserm guten Glück vertrauend, wenngleich der Flieger sich um die abstehenden Grüppchen nicht kümmerte und unsern Standpunkt fast erreicht hatte. Noch mehr schien er sich dem Boden genähert zu haben, nun war er dicht vor uns, über uns — hörten wir noch nicht den tödlichen Sirenengesang'? Da hob sich das Flugzeug wieder und vereinigte sich mit den Gefährten. Wir atmeten auf — und ein Gefühl der Ach tung vor soldatischer Ritterlichkeit durchfloß uns. Der Flieger hatte zwar unsere Gruppe erkannt, sich jedoch von ihrer in diesem Falle nicht feindlichen Tätigkeit überzeugt und die Kreuze der Grabstätte toter Helden wahrgenommen. Denen gegenüber gab es keine Pflicht zur Vernichtung mehr und im Augenblick auch nicht uns gegenüber. Das war ein Zeichen soldatischer Ehrung des toten Gegners, wie es im Felde ge rade in den Augenblicken hoher seelischer Spannung oft sicht bar wurde. Jedoch — im Kriege überstürzen sich die Ereignisse, und der Soldat hat keine Zeit, einem Erlebnis allzu lange nachzu- träumen. Als wir eine halbe Stunde später dem Standorte unserer Gefechtsbagage zustrebten, summte das vorher bei der Beisetzung gesichtete englische Fliegergeschwader wieder über unseren Köpfen, und dazwischen erklang das Hämmern von Maschinengewehren. Zwischen den feindlichen Flugzeugen sahen wir etwa eineinhalb Dutzend Flieger unserer Staffel Nichthofen, die jene Gegend betreute, aufscheuchcnd hin und her flattern, sich heben und senken, dazwischen Spitzgeschosse mit den Gegnern tauschend. Und — trotz aller Anerkennung für die vorher bewiesene ritterliche Haltung jenes Feindes, der die geweihte Stätte des Todes geschont hatte, schlug unser deutsches Soldateuherz doch freudig, als drei Flugzeuge des fremden Geschwaders in ehrlichem Lufktampfe als Besiegte zu Boden gehen mußten Die Mutter. Skizze von Liesbet Dill. Im letzten Augenblick, als der Zug sich eben in Bewegung setzte, auf einer kleinen Station in Flandern, kamen sie an. Die alte Frau in Schwarz, erhitzt und atemlos, und die junge, ihre Tochter. Sie hatten kein Gepäck, nur eine kleine Hand tasche, und bekamen die letzten Plätze in dem Abteil zwischen der eleganten Brüsselerin und einer stämmigen blonden Fla min. Und dann fährt der Zug. Die jungen Männer am Fen ster reden von einer Ausstellung, die Nonne in der Ecke beugt die riesigen Weißen Flügel über ein Gebetbuch und läßt den Rosenkranz durch ihre Hände gleiten, die Dame aus Brüssel erzählt von ihren Gallensteinen, sie reist ins Bad, die Flamin will eine Abmagerungskur machen. Die alte Frau schaut aus dem Fenster. Eine grüne Welt zieht draußen an ihr vorbei. Dichte Laubwälder, die sich öffnen und schließen, frische Wiesen mit braunen, gesunden Kühen, zuweilen schießt ein Zug vorbei, ein Städtchen erscheint, ein Fluß, eine Brücke, über die der Zug donnert. Das alles hatte auch er gesehen, damals, als er herfuhr, ihr Karl — zurück ist er nicht mehr gekommen... Die alte Frau hält in der Hand einen Brief. Darin ist eine verblaßte Photographie von einem Soldatengrab an einer Mauer... Siebzehn Kirchhöfe hat sie abgesucht, die Dornen haben ihr das Kleid zerrissen, und an ihrem Rocksaum hängt braune Erde von einem einsamen Soldatengrab an der Mauer... Im August 1914 ist er gefallen, der Karl. Ein Vetter hat sein Grab photographiert und ihnen das Bild geschickt. Er ist bald darauf selbst gefallen. Es war das einzige, was sie von ihm zum Anschauen gehabt hat, das Bild von seinem Grab hügel, und den will sie nun suchen. Es war ein langer, müh seliger Meg, ein Herumstehen in staubigen Büros und Schrei bereien hin und her um Erlaubnisse,' Pässe, Unterredungen mit fremdsprachigen Schreibern, die den Kopf schütteln und sie warten lassen. In ihren Gliedern liegt noch die bleierne Angst vor den fremden Behörden, von der langen, langen Fahrt aus > Deutschland bis bierher, auf den harten Sitzen, dein Ucber- findet seinen erschütternden Ausdruck in einem Werk des fran zösischen Malers Millet: „Der Tod und der Neisigsammter". — Bild rechts: „Die Toteninsel", das in die Sprache der Kunst übersetzte Ziel unserer Gedanken, die heute — am Tage der Toten — unseren Dahingeschiedenen gehören. Bilk Zum Totensonntag. danke ö' NtGh tritt der Tod den Menschen an! Dieser Ge- ' ver am Tage der Toten uns zu ernstem Besinnen mahnt.