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nachten tu nüchternen, kalten Hotelzimmern in den fremden Städten. lind dann sind sie gewandert, von einem Kirchhof zum andern. Und überall waren fremde Namen und fremde Gräber. Das einsame Grab an der Mauer fanden sie nicht. Den Vetter kann man nicht mehr fragen Sie ist ganz verwirrt von diesen Bildern, die auf sie ein drangen, vor denen sie sich immer gefürchtet hat, diese Riesen kirchhöfe mit den ernsten, schwarzen Kreuzen, die fröhlichen Karawanen fremder Reisender, die in Autobussen ankamen, um sich deutsche Granatsplitter und verbeulte Sturmhelme toter Soldaten als „souvenir" an den Buden auf dem Markt zu kaufen, diese Plakate an allen Mauern „Besucht die Schlachtfelder!", dieser ganze Jahrmarkt um"die Friedhöfe. Kilometer über Kilometer waren sie gelaufen, im Regen, durch Dörfer und über Felder, in denen noch der Stacheldraht steckte eingerostet und zerrissen, an eingefallene» Schützengräben unk nassen Lehmlöchern vorbei, in denen er vielleicht gelegen Haiti mit seinem Maschinengewehr, durch gigantische Triumphbögen für vermißte englische Soldaten, an Mauern von Kirchhöfen entlang, mit Granitkreuzen „Ihr Name lebt für immer"... Und zwischen diesen Kirchhöfen ging der flandrische Bauer mit dem Pflug, wuchsen Getreidefelder und weideten die Kühe. Und überall standen neue Dörfchen mit neuen Backstein häusern und neuen Backsteinkirchen. Steinerne Soldaten in übermenschlicher Größe starrten sie an, auf das Gewehr ge stützt: Was willst Du hier? Hier liegt er nicht, Dein Sohn ... Nein, hier lag er nicht, die schwarzen Kreuze trugen fremde Namen, und man wurde so müde, immer wieder einen frem den Namen zu lesen. Sie begann die Mütter zu beneiden, deren Söhne hier draußen lagen. Aber jetzt hatte sie diesen schweren Weg einmal gemacht, nun wollte sie ihn auch wiederhaben, den Karl... Wenn man noch mit den Leuten hätte reden können, hier draußen, aber sie verstanden sie ja nicht. Auf den Behörden mußte erst ein Dolmetscher geholt werden, und meist war keiner da. Die Tochter wollte schon umkehren und die Blumen und Kränze auf irgend einen Hügel legen unter den vielen schwar zen Kreuzen. Es sind ja alles seine Kameraden, Mutter... Aber die Mutter hat sich auf ihren müden Füßen weiter ge schleppt. Sie muß sein Grab finden. So" sind sie herümgezogen, tagelang in Sonne und Regen, bis sie es eines Tages endlich gefunden haben, das Grab an der Mauer. Etwas eingesunken der Hügel und überwuchert von Gras und Quecken... Ein alter Friedhofsgärtner hat sie geführt: Es ist das Grab eines unbekannten Deutschen aus dem Jahre 1914... Die Mutter hat den alten Gärtner ge beten, mit seinem Stock hinunterzustoßen, ob noch sein Sarg da unten steht. Und es hat hohl geklungen, wie wenn man auf Holz stößt. Nun erst weiß sie, da drunten liegt er, der Karl. Da hat sie endlich ihren Kranz, mit dem sie sich auf der Reise geschleppt, niedergelegt, sich hingekniet, mit ihren Hän den das Unkraut ausgejätet und aus der Schachtel die halb verwelkten Pflänzchen genommen, die aus dem Gärtchen am Neckar stammen. Die Blumen kennt der Karl, er hat sie noch selbst gesetzt... Sie ruht nicht eher, bis das Grab ordentlich aussieht und geschmückt ist, berankt von Immergrün. Der Karl hat Efeu nicht leiden mögen, Wohl aber Immergrün und Ge ranien. Die blühen nun auf seinem Grave. Der alte Gärtner hat ihr versprochen, die Blumen zu begießen und das Grab mit Tannenzweigen zuzudecken, wenn's friert. Nun weiß sie, wo der Karl ruht, daß er ein Grab für sich hat, daß ihn kein Regen trifft... Im Abteil ist's still geworden, die jungen Herren am Fenster haben zu rauchen aufgehört, die Damen sprechen nicht mehr von Bädern und Kuren, und die blasse Nonne schaut von ihrem Gebetbuch auf die Mutter... Die alte Frau spricht kein Wort. Sie hört nicht, was die anderen sagen, sie schaut hinaus auf das grüne, frische Land, das in der Herbstsonne leuchtet und in klaren Bildern an ihr vorüberzieht. — Der Karl, sie sieht ihn vor sich, lebend, schlank und groß, und hört seine Stimme und sein Lachen. Sie hat ihren Sohn gefunden, die Erde hängt noch an ihrem schwarzen Kleid, aber sie streift sie nicht ab... das ist doch noch etwas von ihrem Kino. Es ist wie früher, als sich zwei kleine dicke Händchen an ihren Rock klammerten — so hängt jetzt Erde von seinem Grab an ihrem Kleid. Und ihre Hände streichen leise, wie über den blonden Scheitel eines glühend heiß gespielten Kinderkopfes, über diese braune Erde an ihrem schwarzen, von den Dornen zerissenen Kleid ... Die Brücke. Skizze von Paulri chard Hensel. Ohne Vorbereitung, vielleicht noch unter der Nachwirkung des Trotzes, der die Situation geschaffen hatte, sagte eines Abends Herbert Tollen: „Du mußt es ja auch wissen — also — cs ist aus ..." Verständnislos sah ihn die Frau an. „Was meinst Du?" „Ich habe mich überworfen, bin entlassen — jedem Zwei ten passiert das heute — lebe Wohl, schönes Einkommen, sorg loses Leben!" Gerda wurde blaß. Das Herz schien ihr Plötzlich still zu stehen. „Ja, was soll denn nun werden? Wie denkst Du Dir denn..." Tollen wollte etwas erwidern. Er spürte, daß die Frau jetzt nichts, als Vorwurf gegen ihn empfand. Und plötzlich stand er auf: „Bitte, ich Lin nervös genug" — und ging aus dem Zimmer. Das war zwei Monate her. Trübe, unfrohe Tage waren seitdem gekommen. „Irgend jemand wird mich schon wieder rufen", sagte Tollen manchmal, seiner Fähigkeiten bewußt. Aber es schien, als brächte er nicht die Energie auf, selbst nach einem neuen Beruf, einem neuen Schicksal zu suchen. Be klommen war das Beisammensein im Dause, schlimmer noch: fremd. Gerda sah sich plötzlich vor Einschränkung und Ver zichten gestellt — sie, die verwöhnte, schöne Frau, der das Leben nur so, wie sie es gekannt hatte, lebenswert erschien. Ja, sie hatte Tollen geheiratet, als sie müde geworden war, das Leben an sich vorbei gehen zu lassen. „Ich bin doch jung! Ich will noch erleben!" Damals sah sie nur, daß hier einer ihr ein Leben bot, sorglos, verschwenderisch, die Erfüllung aller Wünsche. Sie lernte die Welt kennen — nicht nur fremde Länder, sondern die Welt, die ihr Lebenselement war. Zwei Jahre lang. Und jetzt hatte das ein Ende? Sie war allein. Es regnete. Wie sie aus dem Fenster blickte und unten auf der Straße die schwarzgekleideten Men schen mit Kränzen und Blumen in den Händen sah, fiel ihr ein, daß heute der Tag der Toten war. Unwillkürlich dachte sie daran, was Wohl schlimmer sei: selbst ein Leben verloren zu haben oder einen Toten zu betrauern. Hatte sie niemand, an den sie heute denken mußte? Jetzt fiel es ihr ein. — Und mit jedem Schritt der sie dem Friedhöfe näher brachte, kamen mehr und mehr Erinnerungen über sie, bis von der eleganten Frau nn grauen Pelz nur noch em ein faches, junges Mädel geblieben war, das nun seine Blumen aus ein Grab legte. Auch daran entsann sie sich, wie oft ihr der Tote Blumen geschickt hatte, als er noch in ihrem Leben stand und gern selbst zu ihr gekommen wäre. „Mußt die Blümchen anschauen", sagte er damals, „viel leicht erzählen sie Dir etwas von mir." Es waren so einfache Dinge, die sie froh gemacht hatten. Eine Fahrt ins Freie mit der Eisenbahn — es brauchte gar keine Limousine zu sein —, eine Plauderstunde im Kaffee haus, ein Buch oft, ein kurzer Weg — und sie sprachen davon mit einer Freude, die weit größeres Erleben anderen Menschen kaum gab. Tann, als er kränker und kränker wurde und seine Blicke oft mit stillem Verstehen an Gerdas jugendlicher Gestalt hingen, hatte er einmal gesagt: „Wenn Du einmal heiratest, Gerda, sollst Du ein Glück zu gewinnen suchen..." Ganz in Gedanken verloren sah die junge Frau auf das Grab. Jetzt verstand sie zum ersten Male den Freund. Hatte sie nicht deshalb so viel Glück erlebt und nicht deshalb so viel Freude an dem Geringsten gefunden, weil sie ihn liebte? Hatte sie denn — ganz langsam gingen jetzt ihre Gedanken — schon einmal versucht, neben dem willigen Empfang des neuen Lebens, das dann für sie kam, den Mann lieb zu gewinnen, der es ihr bot? Nichts war er ihr gewesen als der Partner, der für sie sorgte; ihr Herz suchte nie nach ihm. — Gewiß hatte sie Tollens Gereiztheit in den letzten Mo naten wohl bemerkt. Es lag ihr nicht, sich um seine geschäft lichen Angelegenheiten zu kümmern. Aber mußten es denn solche Dinge gewesen sein? Konnte nicht auch das einen Mann nervös, unfroh, müde im Schaffen machen, wenn er immer fort versuchte, einer Frau jede Freude zu geben, und ihr doch ein Fremder blieb, nie das spürte, was alles in ein anderes Licht getaucht hätte: Liebe? Trug sie nicht vielleicht selbst zum Teil die Schuld an dem, was jetzt gekommen war? Gerda sah verwundert, wie erwachend um sich. Sie hatte gar nicht gemerkt, daß der Regen stärker geworden War. Leise glitt jetzt ihre Hand über den Efeu des Grabhügels. „Bist mir immer ein lieber Freund gewesen", sagte sie leise, „ich danke Dir." Dann fuhr sie nach Hause. Auf der Treppe begegnete ihr die Nachbarin, die zum Grabe ihres Kindes Wollte. „Nicht traurig sein!" sagte sie herzlich zu der verschleierten Gestalt. Die andere sah mit leeren Augen an ihr vorbei. „Nein, nein — wer weiß, ob sie sich Wohl gefühlt hätte in unserer Welt..." Gerda gab der Frau fest die Hand. So sollte es an diesem Tage sein: Üieb denken an die Toten, aber nicht nur trauern, sondern aus einer Erkenntnis eine Brücke finden in das Leben, das sein Recht forderte und das man ohne die Toten führen mußte. Dann schloß sie aufatmend die Tür ihrer Wohnung auf. Sie sah einen neuen Weg. Unsern geliebten Toten. Der Wind er klagt und weint, Doch mit Sonnenschein vereint Küßt er die Hügel der Lieben, Die trotz rauher Winterszeit Angelegt das schönste Kleid Von Tannengrün und Blütenzweigen. Die Trauer ist groß und tief, Um unsre Lieben — And doch ist uns Sonnenschein Ins Herz geschrieben. «Aus goldenen Lettern leuchtets schön: Droben ein Wiedersehn." Margarethe Loßner. Straßenbahnkrieg in Sicht! (Chemnitzer Brief.) Chemnitz, 21. November. Wir kommen aus den Sorgen nicht mehr heraus. Lastet über uns allen der furchtbare Alp der Erwerbslosigkeit, der nunmehr rund 50 000 Menschen auf die Straße geworfen und damit mehr als eineinhalb Hunderttausend Menschen in Chemnitz brotlos gemacht hak, so gesellen sich als Auswirkung dieser gigantischen Katastrophe noch ein Dutzend andere Sorgen und Probleme hinzu, der wir umso weniger Herr werden, als jede Parteirichtung mit einem anderen Rezept den kranken Organismus gesund machen möchte. Man vermag sich nicht auf eine bestimmte Kur zu einigen, und die Folge ist, daß die Krankheit immer weiterfrißt, das Zerstörungswerk immer weiterfchreitet. Zu diesen Teilproblemen der großen Krisis gehört in Chem nitz auch das Straßenbahnproblem. Seitdem die Straßenbahn in städtischen Besitz übergegangen ist, hat sie die Sympathien des Publikums verloren. Es ist ein ewiges Nörgeln an ihr, das nicht wieder still geworden ist, seitdem man mit dem alten ehrlichen Groschentarif hat brechen müssen, denn unsere Straßenbahner werden nach einer gewissen Zeit städtische Beamten, und das ko stet naürlich Geld. Auch die saubersten Straßenbahnwagen ha ben wir von ganz Deutschland. Man kann hinkommen, wo man will — man findet nirgends so saubere, elegante elfenbeinfarbe ne Wagen als bei uns. Auch das kostet Geld, aber es ist ent schieden ein wirksames Repräsentationsmittel für Chemnitz, das umso notwendiger ist, als man ja in ganz Deutschland den Irr glauben verbreitet hat, Chemnitz sei eine unfreundliche, un saubere Rußstadt. Nun geht schon seit etwa 1ZH Jahren der Kampf um die Straßenbahntarife. Die Verwaltung schließt jedes Jahr mit einem empfindlichen Verlust ab und behauptet, ihre Finanzlage sei katastrophal. Die Stadtverordneten aber scheren sich den Teu fel drum und lehnen seit 1>L Jahren jede Tariferhöhung ab Wir fahren deshalb noch heute für 20 Pfg., während die an deren sächsischen Großstädte längst ihre Tarife erhöht haben, und der Fehlbetrag wächst und wächst. Es ist leicht einzusehen, daß hier einmal etwas geschehen mußte, daß der Rat nicht ewig diesem Katze- und Mausspiel zu sehen durfte und zum Generalangriff übergehen mußte. Er tat es unter der Parole „Straßenbahnsanierung" und entwarf ein umfangreiches Programm, das die Entlassung von etwa 300 Straßenbahnern, Tariferhöhung und Streckenverkürzung vorsah. Aber die Entlassung der Straßenbahner verbot ihm das Stadt parlament, die Tariferhöhung lehnte es ab und die Streckenver kürzung stellte es zurück. Der Rat war der Ansicht, die Entlassung sei laufende Verwaltungsarbeit und rief das Verwaltungsgericht an, das ihm Unrecht gab. Er rief das Oberverwaltungsgericht an, legte aber vorsichtigerweise in der Zwischenzeit die gesamte Vor lage den Stadtverordneten nochmals vor. Sie lehnten sie wieder um ab und verwarfen auch den Einspruch! des Rates, der nun die Eemeindekammer anrufen wird. Inzwischen hat auch die Verwaltung mit den Gewerkschaften verhandelt, um durch Kurz arbeit die Entlastungen vermeiden zu können. Aber die taten nicht mit. Nun ist die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichtes ge fallen, das sich auf Seiten des Rates stellte: der Rat ist allein zuständig für die Entlassung. Er wird sich in den nächsten Tagen zu entscheiden haben, ob er -u Entlassungen oder zu Kurzarbeit schreitet. Aber in beiden Fallen hat er den Kampf mit den Stra ßenbahnern zu erwarten, die mit dem Streik drohen. Also Stra ßenbahnkrieg in Sicht! Weiß Gott: wir tuen, als ob wir nock nicht genug Sorgen hätten, die uns den Schlaf unserer Nächü rauben! Lohengrin. „Vorsicht, Dame am Steuer!" Erregte da kürzlich in einer Großstadt ein Kraftwagen das lebhafte Interesse eines Zeitungsmannes. Berkehrsgewühl füllte die Fahrbahn. Auto folgte dicht auf Auto. Doch plötzlich klaffte zwischen zwei Wagen eine breite Lücke. An scheinend ohne jede Veranlassung und vor allem entgegen dem sonstigen Brauch. Der Zeitungsmann sah sich deshalb den vorderen Wagen genauer an, was ihm infolge des geringen Tempos möglich war, und entdeckte an der Rückwand der Ka rosserie ein rotes Schild. Darauf stand in großen Buchstaben! Achtung, Dame am Steuer! Die Sache interessierte natür lich den neugierigen Zeitungsmann, und gelegentlich eines allgemeinen Haltens vor der nächsten Straßenkreuzung gelang es ihm, ein kurzes Gespräch mit der Dame am Steuer anzu knüpfen: „Warum haben Sie das Schild dort hinten ange bracht?" — „Ganz einfach. Früher rannte mir ab und zu bei solchen Stockungen ein anderer Wagen in den Rücke«. So verfiel ich eben auf das Schild." — „Aha, Sie rechneten also mit der Ritterlichkeit der männlichen Fahrer und haben sich nicht getäuscht?" — „Ritterlichkeit! Keine Ahnung! Aber jeder Autofahrer bleibt mindestens zehn Schritt hinter einem Wagen zurück, von dem er weiß, daß eine Dame am Steuer sitzt. Denn, denkt er, die bringt es fertig, den Rück wärtsgang einznschalten, sobald der Verkehrsschutzmann die Straße freigibt, und dann sitzt sie Dir mit ihrem Auto vorn auf dem Kühler." Bild links: Eine Berliner Massenkundgebung gegen den Bosche- wismus, die vom Deutschen Bunde zum Schuhe der abendlän dischen Kultur einberusen war, vereinigte am 16. November im Berliner Sportpalast die Vertreter der großen Religionen: der evangelischen, der katholischen, der russisch-orthodoxen und der Polizei. Zwei Arbeiter wurden getötet, mehrere verletzt. Protest gegen das polizeiliche Vorgehen verhängte die 2lE meine Arbeeiterunion übr Madrid einen 48stündigen Genets streik, dem jetzt in verschiedenen spanischen Städten weitere ralstreiks gefolgt sind. jüdischen Konfession. — Bild rechts: Lin Leichenbegängnis — Anlaß zu Blutvergießen und Generalstreik. Bei der Beisetzung von vier Madrider Arbeitern, die bei einem Bauunglück ums Leben gekommen waren und von 30 OM Kameraden zu Grabe geleitet wurden, kam es zu blutigen Zusammenstößen mit der