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Wilsdruffer Tageblatt 2 Blatt. — Nr.149 - Montag Leu 30. Juni 1930 Ein KunMer Ein Künstler auf dem hohen Seil, Der alt geworden mittlerweil. Stieg eines Tages vom Gerüst Und sprach: „Nun will ich unten bleiben Und nur noch Hausgymnastik treiben, Was zur Verdauung nötig ist. Da riefen alle: „O, wie schab! Der Meister scheint doch nachgerad Zu schwach und steif zum Seilbesteigen!" Ha, denkt er, dieses wird sich zeigen. Und richtig, eh der Markt geschlossen, Treibt er aufs neu die alten Possen Hoch in der Luft, u-nd zwar mit Glück, Bis auf ein kleines Mißgeschick. Er fiel herab in großer Eile Und knickte sich die Wirbelsäule. „Der alte Narr! Hetzt bleibt er krumm!" So äußert sich das Publikum. Wilhelm Busch. Helgoland 40 Lahre deutsch! Am 1. Juli >890 erhielt Deutschland aus Grund eines Abkommens mu England, das den Engländern das afrikanische Witugebiet und das- Protektorat über Sansi bar gab, die Insel Helgoland. Die feierliche Besitz ergreifung der Insel erfolgte am 9. und 10. August des selben Jahres im Beisein Wilhelms kl. Durch Gesetz vom 15. Dezember >890 wurde die Insel dann dem preu ßischen Staate einverleibr. Helgoland, das in ältester Zeit ein Heiligtum des Gottes Fosite (daher auch Fosites- land) gewesen sein soll, war mit Nordfriesland an das Herzogtum Schleswig gekommen. Bis 1714, wo Däne mark sie unterwarf, war die Insel ein Besitztum der Her zöge von Gottorp, wurde aber 1807 von den Engländern besetzt und kam im Kieler Frieden 1814 endgültig an England, in dessen Besitz sie bis zu dem erwähnten Ver trage blieb. Das Seebad Helgoland entstand 1826 und war früher eins der besuchtesten der Nordsee. Berühmt waren früher die „Helgoländer Ehen", eine erleichterte Form der Eheschließung, die vor allem darin bestand, daß das Aufgebot für Fremde nicht an ihrem gewöhnlichen Aufenthaltsorte erfolgt sein mußte, sondern ganz in Weg fall kommen durste. Durch die Einführung des Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches P diese Form der Ehe schließung beseitigt worden. Ser Flieger von Lilienfeld gestorben Der Flugzeugführer von Lilienfeld, der mit seiner Maschine am Sonntag nachmittag während der Vorfüh rungen des Holtenauer Flugtages abstürzte und schwer verletzt wurde, ist, wie aus Kiel gemeldet wird, am Sonn tag abend seinen Verletzungen erlegen. Schwere GeiviNerstürme in Amerika. 57 Todesopfer. Während schwerer Gcwitterstürme, die in Kanada und in den nordöstlichen Staaten der Union gewütet haben, sind insgesamt 57 Personen durch Blitzschlag, Er trinken und bei Zugentgleisungen ums Leben gekommen. In der Gegend von Ontario in Kanada fanden bei Überschwemmungen 14 Personen den Tod. Der durch die Überschwemmungen angerichtetc Sachschaden beträgt mehrere 100 000 Dollar. Der Verkehr der Canadian- National- und der Canadian-Pacific-Bahn mußte zeit weilig eingestellt werden, da die Züge die Brücken nicht passieren konnten. Viele Brücken sind weggeschwemmt worden. Infolge der Überschwemmungen sind in Nord- Ontario zwei Züge entgleist, dabei wurden sechs Personen getötet. In Neufundland wurden bei einem Gewitter- sturm zwölf Personen getötet. Dreißig Fischerboote sind im Hafen gekentert. Die Telephon-, Telegraphen- und Licht anlagen sind zerstört. Was gibt es in -er Arktis zu erforschen? Graf Zeppelin und Nansen. Professor Dr. L. Weickmann, der Meteorologe für den Zeppelinflug nach der Arktis, hielt in Leipzig einen Vortrag über „Ziel und Stand der Vorbereitung der Zeppelinexpedition". Der Redner führte u. a. aus: Der Tod Nansens hat die Internationale Gesellschaft zur Erforschung der Arktis ihres Führers beraubt. Wir betrachten es als ein Vermächtnis Nansens, an dem Ge danken des P o l a r f l u g e s sestzuhalten. Dieser Gedanke an sich ist nicht neu; er stammt von niemand anders als von dem Grafen Zeppelin selbst, der ihn bereits 1910 ausgesprochen hat. Was gib! es in der Arktis zu erforschen? Es gibt in der Arktis noch einen völlig un erforschten Bezirk, der dreimal so groß ist wie das Deutsche Reich. Wollte man dieses Gebiet durch Schlitten erforschen, so könnten noch Generationen vergehen. Der Zeppelinpolarexpedition kommen geogra phische und meteorologische Aufgaben zu. Bisher hatte es noch nicht die Möglichkeit gegeben, Feststellungen über die sogenannte obere Inversion zu treffen. Zur Bestim mung dieser Luftschicht hat Professor Motchanow in Leningrad einen atmosphärischen Apparat erbaut. Endlich sollen auch magnetische Beobachtungen ausgesührt werden. Der Zeitpunkt der Fahrt steht noch nicht fest. Viel leicht ist es das Jahr 1931. Es sind drei große Fahrten geplant: von Tromsö über Grönland, Kanada, Alaska nach Fairbanks; von Fairbanks über die Nähe des Pols hinweg und'wieder zurück; von Faierbanks nach Tromsö zurück. Die Expedition ist vorbildlich ausgerüstet. Die Mannschaften sind u. a. in astronomischer Höhenbestim mung und in der Bedienung eines Notfunksendcrs aus gebildet. 5) Bericht Ver die EntMlung des Meißner Bezirks vom 1. April 1929 bis 31. März 1930 Obstbau. Das Berichtsjahr dürfte wohl das schwärzeste Jahr seit s Menschengedenken für den Meißner Obstbau sein. Durch die ab- l normen Witterungsverhältnisse des Jahres 1928 (Kältetempera turen bis — 38 Grad Celsius, ein trockener Sommer mit nach folgendem feuchten Herbst 1928, und dann der folgende äußerst trockene Sommer 1929) sind Abgänge von großen Ausmaßen im Obstbestande des Meißner Bezirkes zu verzeichnen. Lieber die Ausfälle an Obstbäumen wurde im Sommer 1929 mit Hilfe der Gemeinden eine Erhebung angestellt, darnach ist ein Verlust durch die abnormen Witterungsverhältnisse 1928/29 von 201781 Bäumen in Bezirk und Stadt Meißen erfolgt. Leider muß damit gerechnet werden, daß als Folge dieser abnormen Witterungs periode in den nächsten Jahren noch weitere Bäume absterben. Wenn man berücksichtigt, daß gerade die ertragfähigsten Bäume verloren sind, so muß nach ganz vorsichtiger Schätzung angenom men werden, daß dieser Verlust mit mindestens 2Ä) 009 Bäumen im Werte von mindestens 8 000 000 Mark zu beziffern ist, das heißt, daß den Obstanbauern im Meißner Bezirke im Durchschnitt der nächsten 15 Jahre eine Einnahme aus dem Obstbau von je 1 500 000 Mark fehlt. Erfreulicherweise kann man im ganzen Bezirke beobachten, daß an den Wiederaufbau der Obstbestände herangegangen wird. Im Zusammenhang mit der planmäßigen Llmveredlung von Obstbäumen wurde zum Zwecke der Beschaffung einwandfreier Edelreiser die auf Anordnung des Wirtschaftsministers 1927 be gonnene Ankörung von Obstbäümen mit Unterstützung der Be zirksobstbauvereine fortgeführt. In starkem Maße wurde durch den Bezirksverband die Be kämpfung von Schädlingen und Krankheiten im Obstbau zwecks Verbesserung der Qualität gefördert. Wenn auch das verflossene Berichtsjahr in mancher Be ziehung unerfreulich war, so kann doch beobachtet werden, daß der Meißner Obstbau in der Fortentwicklung begriffen ist und sich darin auch durch die schweren Schläge des Winters 1929 -nicht aufhalten läßt. Gemeinnützige Obstzentrale. Auch die vom Bezirksverbande im Jahre 1927 ins Leben gerufene Obstabsatzorganisation, die unter dem Namen „Gemein nützige Obstzentrale Meißen" besteht,, konnte weiter ausgebaut werden. Auf dem vom Bezirksverbande neu erworbenen Grund stück: Meißen, Großenhainer Straße 8, wurde ein Obstlagerhaus mit einer Obstlagerhalle von 290 Quadratmeter Bodenfläche und den zugehörigen Kontor- und Arbeitsräumen erstellt. Auch für diesen Bau sind Mittel aus dem landwirtschaftlichen Notpro gramm verwendet worden. Im Berichtsjahre konnten zu durch aus befriedigenden Preisen fast 1700 Zentner Obst abgesetzt werden. Das sortierte Qualitätsobst geht hinaus in Einheits listen, die mit dem Zeichen der Obstzentrale (die Meißner Dom türme in einem Apfel) versehen werden. Es kann festgeftellt wer den, daß sich das in der Obstzentrale marktfähig bearbeitete Obst einen festen Abnehmerkreis gesichert hat. Gemeindesachen. Aus dem Lastenausgleichstock haben bei der schlüsselmäßigen Verteilung der Mittel 186 Gemeinden Zuweisungen in Höhe von insgesamt 50 547 Mark erhalten. Mit Rücksicht auf ihre beson dere Notlage sind außerdem an 42 Gemeinden auf Einzelgesuche außerordentliche Beihilfen bzw. Vorschüsse gewährt worden. In 28 Fällen haben 17 Gemeinden und 1 Zweckverband Genehmigung zur Aufnahme von Darlehen in einer Gesamthöhe von 581 700 Mark erhalten. Die Darlehen sind in der Hauptsache zum Wohnungsbau verwendet worden. Zu Beginn des Berichtsjahres wurden die Städte Nossen, Lommatzsch und Wilsdruff, die nach Inkrafttreten der Gemeinde ordnung unter der Aufsicht der Kreishauptmannschaft verblieben waren, der Amtshauptmannschaft unterstellt, was wesentliche Mehrarbeit brachte. SLaatsangehörigkeitssachen. Es sind 48 Staatsangehörigkeits-Ausweise mrd Bescheini gungen erteilt worden. Von Ausländern wurden 27 Gesuche um Einbürgerung gestellt. Heimatscheine hat die Amtshauptmann schaft 14 ausgestellt. Standesamtssachen. Im Bezirk sind 50 Standesämter (einschließlich der Städte Lommatzsch, Nossen und Wilsdruff) vorhanden. Außer der mit der Registersührung verbundenen aufsichtsbehördlichen Tätigkeit (Prüfung der Personenstandsnebenregister, Bearbeitung von Anträgen auf Berichtigung von Registereinträgen) war eine gro ße Anzahl von Gesuchen um Ausfertigung von Ehefähigkeitszeug nissen sowie Gesuche um Befreiung von der Vorschrift in W 1312 und 1313 des BGB. und von der Beibringung von Ehefähig keitszeugnissen zu bearbeiten; auch lagen Gesuche um Namens feststellungen und Namensänderungen vor. Schulsachen. Am 1. April 1929 fielen die Schulbezirke Lommatzsch, Nossen und Wilsdruff, die bisher eigene Schulaufsichtsbezirke bildeten, dem Schulaufsichtsbezirk Meißen zu; die Zahl der unterstellten Schulbezirke stieg damit auf 82. Infolge der Aufhebung der ge nannten Schulaufsichtsbezirke machte sich die Neuwahl des Be zirkslehrerausschusses nötig. Der Gesundheitszustand unter den Schulkindern war auch im vergangenen Jahr im allgemeinen gut; nur einige Male mach te sich eine vorübergehende Schließung einzelner Klassen wegen ansteckender Krankheiten (Masern) unter den Schulkindern not wendig. Polizeisachen. Im Vergleich zum Vorjahre muß eine Zunahme der Straf- Verfügungen wegen Llebertretung der Kraftfahrzeug- und Ber kehrsordnung vom 16. 3. 28 festgestellt werden. Hauptsächlich war es die Lieberschreitung der Fahrgeschwindigkeit innerhalb geschlos sener Ortsteile, die zu Bestrafungen führte. Die übrigen Ueber- tretungen betrafen, soweit nicht das abgekürzte Strafverfahren Anwendung finden konnte, das Radfahren ohne Licht bei einge tretener Dunkelheit, das Schießen mit Schießwerkzeug an be wohnten und von Menschen besuchten Orten, das Führen von Stoß-, Hieb-, Stich- und Schlagwaffen und die Beteiligung von jugendlichen Personen an öffentlichen Tanzvergnügen. In vielen Fällen sah sich die Amtshauptmannschaft von einer Bestrafung mit Rücksicht darauf, daß die Schuld des Täters gering und die Folgen der Tat unbedeutend waren, überhaupt ab. In anderen Fällen begnügte man sich mit einer Verwarnung. Für außerregelmäßige Tanzvergnügen und für die Verlän gerung der Tanzzeit wurden 778 Genehmigungen erteilt. Medizinal-, Veterinär- und Landwirtschaftspolizei. Der Trinkwasserversorgung wird noch vielfach nicht -die nöti ge Sorgfalt gewidmet. Sv war es nötig, aus Anlaß der durch den Bezirksarzt vorgenommenen Nachprüfungen der Brunnen und Wasserleitungen in 53 Fällen Verfügungen auf Abstellung von Mängeln zu erlassen. Der notwendige Bru von Wasserlei tungen in einzelnen Gemeinden scheiterte bisher an den finanzi ellen Schwierigkeiten. In Gemeinschaft mit den Städten Meißen, Nossen, Lom matzsch und Wilsdruff wurde eine Polizeiverordnung über Ver abreichung von Salz, Pfeffer und Senf in East- und Schank- wirtschaften sowie Speiseanstalten erlassen. Zur Bekämpfung von ansteckenden Krankheiten ist das Des infektionswesen im Bezirke neu geregetl worden. Es bestehen nun mehr 23 Desinfektionsverbände. Jeder Verband hat einen staat lich geprüften Desinfektor. (Schluß folgt.) Die Heilmittel der Regierung Dietrichs neue Steuergesetze. Wie das Defizit beseitigt werden soll. Die Vereinigten Ausschüsse des Reichsrates hielten eine Sitzung ab, in welcher die Rcichsregierung ihre neuen Deckungsvorlagen unterbreitete. Während der Aus führungen des Reichskanzlers und des Reichsfinanzministers war die Sitzung öffentlich. Außer dem Reichskanzler und dem Neichsfinanz Minister waren auch Reichs autzenminister Dr. Curtius und Reichsinnenminister Dr. Wirth anwesend. Als Vertreter der Länderregierungen waren u. a. der pre tzische Ministerpräsident Dr. Braun, der preutzische Finanzminister Dr. H ö p k e r-As ch o f f, der württembergische Ministerpräsident Bolz und der bayerische Finanzministcr Dr. Schmelz le erschienen. Reichskanzler Dr. Brüning nahm sofort das Wort. Er wies zunächst darauf hin, datz die Reichsregierung unter Zurückziehung der alten nunmehr neue Teckungsvor-agen eingcreicht habe, die eine Kodifikation der bisherigen Vorlagen darstclltcn. Aus einer ausgebautcn Ledigensteuer würden 110 Millionen Marl entnommen. Dazu trete ein fünfprozcntiger Dr. Dietrich, der neue Reichsfinanzminister. Zuschlag aus alle Einkommen Uber 8000 Marl mit einem ge schätzten Ertrag von 58 Millionen Mark. Haushalts abstriche sollen daneben in Höhe von 100 Millionen gemacht werden. Aus dem Minderdefizit des vergangenen Jahres sollen 35 Millionen entnommen werden. Endlich sollen 135 Millionen dnrch eine Reichshilfe der Personen im öffent lichen Dienst aufgebracht werden. Ter Reichskanzler wies auf die allgemeine wirtschaftliche Depression hin und erklärte, man müsse bei der Beurteilung der Lage der Reichsanstalt für Arbeitslosenversiche rung zu einer erheblich höheren durchschnittlichen Arbeits losenziffer kommen, als das noch zwei Monate vorher der Fall gewesen sei. Die Berechnungen beruhten jetzt auf der Durch schnittsziffer von 1,6 Millionen Arbeitslosen. Auf dieser Zahl hatte die Reichsregierung ihr neues Deckungs programm aufzubauen. Die neuen Vorschläge ergäben sich aus einem Mehrbedarf von 486 Millionen, der sich zusammensetzt aus 162 Millionen Mehrbedarf für die Kriscnfürsorge, 150 Millionen voraussicht lichen Mindereinnahmen beim Haushalt und aus 174 Mil lionen, die im Haushalt für die Zwecke der Arbeitslosenver sicherung bereitzustellcn sind. Entscheidend für den Kredit des Reiches sei in erster Linie, daß nicht an dem Schuldentilgungsplan der lex Schacht gerüttelt werde. Die Abdeckung des Fehlbetrages sei die Vor aussetzung für die Ankurbelung der Wirtschaft und für das Wirtschaftsprogramm der Reichsregierung. Von besonderer Bedeutung sei auch die Sicherung der Finanzlage der Reichs bahn. Würde man wieder an die Erhöhung der Tarife gehen, so würde das die Pläne auf Senkung der Produktions kosten und Belebung der Wirtschaft durchkreuzen. Unbedingt erforderlich sei die Durchführung des Arbeitsbeschaf fungsprogramms. Der Reichskanzler betonte, er sei sich über die Unpopularität der Deckungsvorschläge klar, doch habe die Regierung keinen anderen gangbaren Weg finden können. Zum Schluß erklärte der Kanzler, datz die Regierung an ihrem Dcckungsprogramm und an seiner zeitigen Erledigung unbedingt festhaltcn werde. Reichsfinanzminister Dietrich ergänzte die Ausführun gen des Reichskanzlers. Die RcichShilfe soll alle Beamten, Dauerangestcllten und Pensionäre im öffentlichen Dienst umfassen. Frei bleiben sollen die Ein kommen unter 2000 Mark, die Kindcrzulagen, die Witwen und Waisen und bei den Daucrangcstelltcn die Einkommen bis 3600 Mark, weil diese der Arbeitslosenversicherung unterliegen. Die Reichshilse beträgt 2)4 Prozent und soll 135 Millionen erbringen. Ferner soll bei allen Einkommen über 8000 Marl ein