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Wilsdruffer Tageblatt 2. Blatt. - Nr. 122 - Lienstag den 27. Mai 1930 Tagesspruch. In jedes Menschen Gesichte Steht seine Geschichte, Sein Hassen und Lieben Deutlich geschrieben. Sein innerstes Wesen, Es tritt hier ans Licht, Doch nicht jeder kanns lesen, Verstehn jeder nicht. Bodenstedt. poUMGr gunasSkau Deutsches Keich Ruf an den Reichspräsidenten für die Rentner. Die Volksrechtpartei veranstaltete in Dresden einen Landesparteitag. An den Reichspräsidenten von Hinden burg wurde ein Telegramm gesandt, in dem er gebeten wird, seinen persönlichen Einfluß auf die Reichsregierung zur umgehenden Vorlage eines Rentnervcrsorgungs- gesetzes geltend zu machen. Der Reichsparteivorsitzende, Professor B a u s e r - Stuttgart, führte u. a. aus: Die Bolksrechtpartei verwirft ebenso die großkapitalistische Ausbeutung wie den zersetzenden Klassenkamps und fordert geschlossene Abwehr jeder Bedrückung und Ver sklavung Voit außen. Der Verfall der Parteien muß aus münden in der Schaffung einer neuen großen Partei der Mitte und des Mittelstandes, die ebenso klar Front macht gegen die Plutokratie wie gegen den Sozialismus. «trafrechtsüberleitungsgesctz im Ausschuß abgelehnt. Der Strafrcchtsausschuß des Reichstages befaßte sich am Montag mit dem von den Sozialdemokraten, den Demokraten und der Deutschen Volkspartei eingebrachten Übcrleitungsgesetz für die Strafrechtsreform, das für den Fall einer Reichstagsauslösung in Kraft treten soll. In dem Entwurf wird u. a. bestimmt, daß gleichzeitig die Porschristen über mildernde Umstände vorzeitig Geltung erhalten sollen. Nach längerer Aussprache wurde mit fünfzehn gegen dreizehn Stimmen der Antragsteller der Gesetzentwurf vom Ausschuß abgelehnt. Thüringische Gebete vor dem Staatsgerichtshof. Wie vom Reichsinncnministerium mitgeleilt wird, wird die Angelegenheit der Anempfehlung politischer Schulgebete durch den thüringischen Innenminister Dr. Mck dem Staatsgerichtshof unterbreitet werden, nachdem die Bemühungen Tr. Wirths in Weimar, das thüringische Staatsministerillm zu veranlassen, diesen Schritt rüü- stWgig zu machen, erfolglos geblieben sind. Dr. Wirth hat bereits einen entsprechenden Antrag in Leipzig gestellt. Großbritannien Konsereuz für den Freihandel. Mittwoch wird in London, hauptsächlich auf An- "gung englischen Schatzkanzlers, eine Freihandels- conferenz eröffnet werden. Die Konferenz, die von Jndu- iMellen, Wirtschaftlern, Gewerkschaftsführern und Poli- mern aus allen Teilen des Landes besucht werden wird, M den ausgesprochenen Zweck einer Gegenaktion zu dem Unter Führung von Lord Beaverbrook stehenden Welt- retchszollschutzfeldzug. Aus In- und Ausland Berlin. Reichspräsident von Hindenburg Empfing den Staatskommissar zur Stützung des ostpreußi» Ichen Gütermarktes, Rönneburg, zum Vortrag. Berlin. In der Nacht kam es in der Potsdamer Straße schweren Schießereien zwischen Nationalsozialisten u n d K o m m u n i st e n. Über 20 Schüsse wurden abgefeuert. Mei unbeteiligte Passanten, eine Fran und ein Mann, wurden schwer verletzt und mußten in das Krankenhaus gebracht werden. Ein dritter Unbeteiligter wurde von den National sozialisten niedergestochen. Vier Personen und ein National sozialist konnten von der Polizei festgenommen werden. Germersheim. Ein großer Teil der hiesigen Besatzung M Germersheim im Morgengrauen in Richtung Frankreich "erlassen. Der Rest wird Dienstag hcimkehren und nur eine kleine Abwicklungsmannschast wird vorläufig noch zurück- oleibcn. W in die IMnrscr UMM Der Meldorfer Massenmörder. Der verhaftete Kürten gibt mehrere Verbrechen zu. Die Düsseldorfer Polizei teilt mit, daß der Tatverdacht gegen den Arbeiter Kürten, der unter der Anschuldi düng, die Düsseldorfer Frauen- und Mädchenmorde oder doch mehrere von ihnen begangen zu haben, verhaftet wor den ist, sich so verstärkt habe, daß es gerechtfertigt erscheine, einiges über die Person dieses Kürten zu sagen. Kürten ist im Jahre 1883 zu Köln-Mülheim geboren Er ist eine den Strafverfolgungsbehörden nicht unbekannte Persönlichkeit. Bis jetzt ist er bereits 17mal und nicht un erheblich, jedoch nicht wegen Sittlichkeitsverbrechens, vor bestraft. Bereits im Alter von 16 Jahren wurde er zum ersten Male straffällig. Als besonders schwere Bestrafung erwähnenswert ist eine Verurteilung aus dem Jahre 1965 wegen schweren Diebstahls in 34 Fällen und wegen ver suchten schweren Diebstahls in 12 Fällen; Kürten wurde damals zu sieben Jahren Zuchthaus und im Jahre 1918 wegen schweren Diebstahls in 15 Fällen im Rückfalle und wegen Betruges zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt Die Vorstrafakten lassen erkennen, daß man es mit einem äußerst geschickten und rücksichtslosen Manne, der auch vor keiner Gewalttätigkeit zurückgescheut ist, zu tun hat. Be achtlich ist, daß Kürten bereits im Alter von 19 Jahren eine frühere Mitschülerin durch Terror sich gefügig machen wollte. Wichtig ist, daß er sich in ähnlicher Weise bei seinen letzten Straftaten aus dem Jahre 1925 und 1928 betätigte Er hatte sich an Dienstmädchen herangcmacht und ihnen die Ehe versprochen, in einem Falle dem Mädchen die Ersparnisse abgeschwindelt. Es gelang ihm schließlich, seine Opfer in eine hilflose Lage zu bringen und so zu feinem Ziele zu kommen. Später verfolgte er seine Opfer durch Bedrohungen und Beleidigungen in gröblichster Weise, so daß er deswegen zuletzt mit achi Monaten Gefängnis bestraft wurde. Infolgedessen ist Kürten schon früher von der Mordkommission beobachte: worden. Jedoch war damals nicht so viel Material vor Händen, daß man erfolgsicher hätte zugreisen können. In zwischen änderte sich die Sachlage so, daß der Verdächtigte unsicher wurde. Das erlaubte dann den Zugriff. Dies dürfte auch der Grund sein, daß Kürten keinen Versuch zu leugnen gemach! hat. Pcrer Kurien, ter nach 15monatiger Suche verhaftete Verbrecher. Festzusteyen scheint, daß er am 14. Mai d. I. im Gräfenberger Walde ein Mädchen überfallen hat. Des gleichen steht feine Täterschaft im Falle der Haus angestellten Schulte einwandfrei fest. Die weiteren Vernehmungen sind vorwiegend der lückenlosen Beweis erhebung in Sachen der Maria Hahn gewidmet. Das ist der für die Gesamtbeurteilung wichtigste Fall. MH«« «MM KM üss sltbsksnnts Neven diesen Angaben der Polizei werden unlomrol- lierbare Mitteilungen über weitere Geständnisse Kürtens verbreitet. So soll er unter anderem auch gestanden haben, den überfall auf eine Frau Kuhr am 3. Februar 1929 verübt zu haben. Weiter soll er zugegeben haben, die be kannten „Mörderbricfe" geschrieben zu haben, in denen der Polizei der Fundort der Leiche der kleinen Aldermann und die Stelle bei Papendelle, wo die Leiche der Maria Hahn ver graben sein sollte, angegeben wurde. Zu erwähnen ist noch, daß Gertrud Schulte aus einer Gruppe von etwa fünfzehn Männern heraus Kürten als den viel gesuchten „Postbeamten Baumgart" — so hatte er sich vor- geftellt — wiedererkannte. Kürten macht, wie verlautet, bei seiner Vernehmung durchaus nicht den Eindruck, als ob er einen geistigen Defekt habe; er macht seine Angaben klar und sachlich und will nur aus „Rache gegenüber der Mensch heit" gehandelt haben. Er wahrt bei seinen Aussagen die größte Ruhe und zeigt keinerlei Zeichen der Reue. Frau Kürten, die ebenfalls verhaftet worden war, ist nach eingehendem Verhör wieder auf freien Fuß gesetzt, aber auswärts untergebracht worden, da man sie vor Belästi gungen durch das Publikum schützen will. Der Schlupfwinkel des Mörders. Das Haus Mettmannerstrahe 71, in dem Kürten eine Dach wohnung (durch X gekennzeichnet) innehatte. „Dieser Mann ist der Täter!" Im weiteren Verlaus der Vernehmungen des Kürten fand die Gegenüberstellung Kürtens mit der FrauMeurer statt, die von ihm niedergestochen wurde. Es waren etwa zwölf Kriminalbeamte versammelt, unter denen sich Kürten befand. Frau Meurer, die infolge der Dunkelheit nur eine oberflächliche Perfonsbeschreibung des Täters geben konnte, sich aber deutlich der Stimme erinnerte, mußte an alle im Zimmer An wesenden belanglose Fragen richten, auf die geantwortet wurde. Nachdem sie mit einigen Beamten gesprochen hatte, kam Kürten an die Reihe. Nachdem dieser nur einige Worte gesprochen hatte, rief Frau Meurer aus: „Dieser Mann ist der Täter! Sein Tonfall in der Stimme und seine Gestalt sind die gleichen wie die des Mannes, der mich verfolgte und niederstach." Auf die Frage der Frau Meurer: „Weshalb haben Sie mich eigentlich verfolgt?" erklärte Kürten ohne Zögern: „Ich habe Sie verfolgt, um Sie zu ermorden!" M Wk N M MM. Roman von I. Schneider - Foerstl. 82. Fortsetzung Nachdruck verboten „Ihr Wegblciben ist verzeihlich, Bastian! Sic fühlt sich Mutter!" „Aaaach! Trotz der Zwietracht!" Was er noch sagen wollte, blieb unter dem strengen Blick der Senatorin Angesprochen. Er machte nur eine bezeichnende Handbewe gung und ließ sich in den Stuhl nieder, den Christoph zuvor eingenommen hatte. Ob heute der rechte Zeitpunkt war, von seinen Wünschen zu sprechen? Er überflog die Ge stalt vor sich, welcher das schwere Kleid etwas majestätisch Feierliches und zugleich nonnenhaft Ehrfurchtgebietendes gab. Und unten stand sein blondes, lichtes Mädel und wartete sich die Füße kalt und verging vor Angst und fror sich die kleinen Hände wund, weil er den Mut nicht fand, zu seiner Mutter von ihr zu sprechen. Auf dem eckigen Seidenschirm der großen Stehlampe lanzten Chinesen und schielten ihn höhnisch an. Er suchte Aon ihnen hinweg nach dem Antlitz der Mutter und horchte zugleich auf den raschen Schlag des eigenen Herzens, das unter dem blauen Smoking pochte. Was konnte ihm schließ- uch Schlimmeres werden als ihr „Nein!"? „Mutter, ich möchte dir so gern etwas anvertrauen!" Er schämte sich beinahe, so sehr hatte seine Stimme gezittert. Die Senatorin nickte und richtete den Blick, welcher am Dunkel der Fenster gehangen hatte, nach ihm hin. „Ich möchte dir wie es auch Christoph getan hat eine Tochter ins Haus bringen, Mama." . Er hatte den Stein von der Brust gewälzt. Bis über Aon Tisch hin war sein Aufatmen hörbar. In dem Frauengesicht stand weder Abwehr noch Freude. „Darf ich dir Ilse vorstellen, Mama?" Er verhielt den Herzschlag, was sie sagen würde. „Heute nicht," kam es bittend. „Ein andermal, mein Sohn. — Sei nicht böse! Aber du weißt es ja; dieser Abend gehört dem Toten." „Nur für eine Minute!" bettelte er ermutigt, „nur da mit du sie siehst, dann bringe ich sie wieder nach Hause." „Sie ist wohl bereits hier?" „Unten am Tor, Mama!" „Wie kann man ein Mädchen auf der Straße warten lassen," rügte sie. „Oder ist sie nicht aus gutem Hause?" Eine Flamme rannte Bastians Gesicht hinauf. Die zweite folgte ungesäumt. Die Chinesen auf dem Lampenschirm ranzten plötzlich wie besessen. Er glaubte ihr Ki chern zu hören. Gib Antwort! Antwort! Ant wort! — „Sie ist Soubrette im Theater an der Reeperbahn." Das Gesicht der Senatorin vereiste. „Du hast Mut, mein SohnI" „Mutter! " Er hob sich aus dem Stuhl und machte einige Schritte auf sie zu. „Wenn du sie gesehen hast, wirst du begreifen, daß ich sie liebe. Daß cs nichts in der Welt gibt, was mich hindern könnte, sie zu meiner Frau zu machen." „Auch die Verweigerung meines Segens nicht?" „Auch das nicht, Mutter!" „Dann allerdings!" Ihre Schultern neigten sich unmerklich nach vorn. „Wenn Söhne Männer werden, sind Mütter überflüssige Faktoren, sind " „Mama! „ Die weiße Frauenhand gebot Schweigen. „Sind gegen standslose Werte, die man beiseite schiebt, wenn sie sich hin dernd in den Weg stellen." „Mutter! Ich schiebe dich doch nicht beiseite. Ich bitte ja: Sieh dir das Mädchen an. Wenn du hernach noch ein „Nein" hast, werden wir dich nicht mehr belästigen." „Wir, das heißt, auch du wirst wegbleiben. Ich werde alle meine Söhne verlieren Rolf hat den An fang gemacht." Bastian spürte einen Schlag über den Kopf hin und wagte den letzten Wurf. „Mutter -um Rolfs willen!" Ein dumpfer Laut des Schmerzes: „Bastian!" Aus ihrem Gesicht war der letzte Nest von Farbe geschwunden. Es wirkte jetzt völlig fleischlos. „Ich bitte dich in seinem Namen, Mama!" Sie fühlte seinen Kopf an ihren Knieen und seine Hände um ihre Hüf ten geschlungen. „Mutter!" Sein Körper zitterte an dem ihren, den eine wilde Erregung schauern machte. Christophs fehlgeschlagene Ehe erstand in allen Phasen vor ihrem Blick. Niemand konnte sagen, ob das Kind, das er erwartete, den Frieden bringen würde. Und nun kam Bastian und bat um ihren Segen für seinen Bund mit einer Bühnendiva. Die Senatorin, welche seit Rolfs Tod keinen Fuß mehr in Theater und Konzerte gesetzt hatte, sah eine halbnackte Tänzerin, die sich schamlos den Blicken aller preisgab und mit ausgeschrieener Chansonettenstimme zotige Couplets und zweifelhafte Operettentexte in den Raum schmetterte. Und das — das sollte nun in ihr reines, sorgsam be hütetes Haus kommen und den Platz neben ihrem Sohn ein nehmen, und sie die Senatorin Lindholm — sollte dieses Geschöpf als Tochter anerkennen. „Nein," stieß sie in zorniger Abwehr heraus. Bastian erhob sich langsam und strich sich das wirre, brü nette Haar aus der Stirn. Seine Finger tasteten die häm mernden Schläfen entlang. „Ich kann meine Braut nicht länger wgrten lassen, Mama! Erlaube, daß ich mich verabschiede." Iulia nickte nur. Er beugte sich, ohne nach ihren Fingern zu greifen, nach ihrer Hand herab und küßte sie. Das Zuklappen der Tür trug einen leisen Lufthauch bis zu ihr herüber und ließ den Seidenschirm mit den Chinesen einen wilden Charleston tanzen. (Fortsetzung folgt.)