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Wilsdruffer TageNatt 2. Blatt. - Nr. 110 - Dienstag üe« 13. Mai 1930 Wanderlied im Frühling. Ein Regen zieht durchs Feld, Der Frühling küßt die Welt, In hohen Föhren klingt und rauscht sein Lied. Der Fluß bricht donnernd auf Und reckt den wilden Lauf, Die Strömung schäumt und braust und sprüht! Hoch überm Wiesenhang Jauchzt erster Lerche Sang. Was ist das Herz so jung und frei! Dicht unterm Himmelsdach Den schnellen Wolken nach Gellt grauen Kranichzuges heis'rer Schrei. O, heiße Lebenslust! Wie schwillt die Menschenbrust Nach sonnenferner, matter Winterzeit!' Wir zrehn hinaus ins Land Und halten Kämpfen stand Und werden Sieger über vieles Leid! Siegfried Bergengruen. Linsuhrscheine für Mehl, Mölleret- erzeugnisse und Malz. Die Neuregelung ab 19. Mai. Die Verordnung über Neuregelung der Einfuhrschein wette für Mehl, sonstige Müllereierzeugnisse und Malz besagt, daß bei der Ausfuhr bis auf weiteres der Wert bestimmung des Einfuhrscheines je Doppelzentner zu grunde zu legen ist: Bei Müllcreicrzeugnissen aus Roggen 9 Mark, aus Weizen und Spelz 15 Mark, bei Malz aus Weizen und Spelz oder Gerste sowie bei Graupen, Gries, Grütze, Mehl und Flocken aus Gerste 12 Mark und bei Müllereierzeug- nisscn aus Hafer 10 Mark. Der Reichsminister der Finanzen ist ermächtigt, die Ausstellung von Einfuhrscheinen bei der Ausfuhr von Weizenmehl mit einwöchiger Frist zu sperren, sobald sich übersehen läßt, daß die Ausfuhr von Weizenmehl zu dem neuen Wertbestimmungssatz eine Menge von 50 000 Doppelzentnern überschreiten wird. Die Verordnung tritt am 19. Mai 1930 in Kraft. Zenlrumspariei und Reichsbanner. Eine Warnung. In einer Polemik gegen den „Vorwärts"'schreibt das führende Organ des Zentrums, die „Germania", u. a.: »Die Leitung der Zentrumspartei stellt mit großem Bedauern fest, daß örtliche Reichsbannerorganisattonen °der Redner in Reichsbannerversammlungen, namentlich teil der Umbildung der Reichsregierung, ein Verhalten an den Tag legen, das mit einem überparteilichen Oya ratter in schroffem Widerspruch steht. Die Reichsparteileitung der Deutschen Zentrumspartei hat bislang ihren Anhängern die Zugehörigkeil zur Organi sation des Reichsbanners frcigestellt. Sie hat von sich aus weder den Beitritt empfohlen noch von ihm ab geraten. Bei einer weiteren Entwicklung des Reichs banners im Sinne einer ausgesprochen sozialdemokrati schen Organisation würde sie allerdings diejenigen Folgerungen ziehen müssen und es auch tun, die sich nach gewissenhafter Prüfung der Sachlage für sie ergeben. Einstweilen wird es Sache der Leitung des Reichsbanners sein, das Notwendige zu tun, um den statutarisch vor geschriebenen Charakter der Organisation allerorts auch dann sicherzustellen, wenn die Sozialdemokratie nicht mit den anderen im Reichsbanner heute noch vertretenen Parteien in einer Negierung ist." Oie Industrie im Osten. Kundgebung in Königsberg. Die ostpreußischen Spitzenverbände von Industrie, Großhandel, Einzelhandel und Handwerk nehmen in einer gemeinsamen Kundgebung zur Frage ver Ostyitse unv speziell der Ostpreußenhilfe Stellung. Sie betonen darin, die unbedingte Notwendigkeit, durch sofortige Steuer senkungen, entsprechend den Vorschlägen der ostpreußischen amtlichen Berufsvertretungen des Gewerbes, ihrer schweren Notlage abzuhelfeu. Hilfsmaßnahmen für die Landwirtschaft allein seien keineswegs genügend, da die Rot der ostpreußischen gewerblichen Wirtschaft nur zum Teil auf das Daniederliegen der Landwirtschaft zurückzu führen sei, im übrigen aber in der Abschnürung vom Reich und in dem Verlust des wirtschaftlichen Hinterlandes ihre eigenen Ursachen habe. Bis zur Auswirkung des auf lange Sicht abgestellten allgemeinen Hilfsprogramms müßten auch im günstigsten Falle noch Jahre vergehen, über die der gewerblichen Wirtschaft durch sofortige Er leichterung der untragbaren Steuerlasten hinwcgzu- helfen sei. Deutsche Erfolge in Ostoberschlesien Die Wahlen zum Schlesischen Sejm. Bei den am Sonntag stattgefundenen Wahlen zum Sejm (Provinziallandtag) in Ostoberschlesien konnten du Deutschen bedeutende Erfolge verzeichnen. Die Deutscher haben gegenüber dem Sejm von 1922 zwei Sitze gewonnen, die deutschen Sozialisten haben einen Sitz verloren. Di« Kommunisten, die zum erstenmal austraten, gewannen zwei Sitze. Die Deutschen ziehen als stärkste Partei in den Schlesischen Sejm ein. Von den 48 Mandaten des Sejm werden nach den vorläufigen Schätzungen auf die deutsche Wahlgemein schaft 15, auf die deutschen Sozialdemokraten ein Mandat entfallen, auf die Korfanty-Gruppe 13, auf die mit ihr in Verbindung stehende Nationale Arbeiterpartei 3 Sitze, auf die polnischen Sozialisten 4, auf die Kommunisten 2 und auf den Regierungsblock 16 Sitze. 16 Vertretern der deut schen Minderheit, 20 der polnischen Opposition und zwei Kommunisten stehen nur 16 Anhänger der Regierungs partei gegenüber. Die stärkste Fraktion bleiben die Deut schen, die drei Mandate mehr als im vorigen Sejm haben. Die Wahlbeteiligung war sehr stark. LinAuio in Magdeburg in die Abe gestürzt Der Reichswehrgefreite als Lebensretter. Ein Magdeburger Personenauto streifte auf der Herrenkrugbrücke in Magdeburg einen Radfahrer, der vorschriftsmäßig rechts vor ihm fuhr, bog dann plötzlich nach links ab, durchbrach das Brückengeländer und fiel in die Alte Elbe. Der Radfahrer wurde über dem linken Auge verletzt, das Fahrrad stark beschädigt. Neichswehrsoldaten, die vorübergingen, hatten den Vorfall bemerkt. Einer von ihnen, der Gefreite Michael, entledigte sich seiner Uniform und sprang in die Elbe. Er zertrümmerte die Scheiben des Autos und zog die Insassen, die in größter Lebensgefahr schwebten, heraus. Mit Hilfe seiner Kameraden die einen Kahn herbeigeholt hatten, brachte er die drei Verunglückten ans Land und ins Krankenhaus. Zwei von ihnen hatten so schwere Ver letzungen erlitten, daß sic im Krankcnhause verbleiben mußten. Die dritte Person konnte nach Anlegung eines Notverbandes wieder entlassen werden. Das Auto wurde durch die Feuerwehr geborgen. Wie es heiß,, soll der Führer des Autos, der zugleich der Besitzer des Wagens ist, angetrunken gewesen sein. Das abgestürzte Auto. Links oben der Gefreite Michael Schirmes Echlaavetternnglück in Hindenburg. Tote und Verwundete. Auf der Concordia-Grube in Hindenburg ereignete sich, wahrscheinlich durch Gebirgsschlag, eine Schlagwetter cxplosion, bei der zwölf Bergleute verschüttet wurden. Trotz angestrengter Bergungsarbeiten konnten bisher nur fünf Bergleute geborgen werden, davon sind zwei tot, drei schwer verletzt. Bei allen drei Schwerverletzten besteht Lebensgefahr. Die restlichen sieben eingeschlossenen Berg leute konnten noch nicht zutage gefördert werden und sind allem Anschein nach tot. Die schwierigen Bergungs arbeiten werden fortgesetzt. Die endgültige Verlustliste. Das Schlagwetter auf der Konlordiagrube Hai weitere sechs Todesopfer gefordert. Die Bergungsarbeiten waren um 1614 Uhr beendet. Von den sieben noch verschüttet ge wesenen Bergleuten konnten sechs nur tot geborgen wer den, während der siebente Bergmann anscheinend mit leichteren Verletzungen davongekommcn ist. Die Zahl der Toten beträgt nunmehr endgültig acht, die Zahl der Schwerverletzten drei. Eindämmung der Waffermaffen bei Msnsnburg. Wiederausnahme des Personenverkehrs. Wie von der Berginspektion Vienenburg mitgeteilt wird, ist der Trichter bei Schacht 1 größer und tiefer ge worden. Die Lauge in den drei Schächten steigt langsam weiter. Der Laugenspiegel liegt ungefähr zwischen 520 und 530 Meter Tiefe. Die Herkunft der Wassermassen steht noch nicht einwandfrei fest, da es aber Lauge ist, dürfte sie von einem unterirdischen Wasserbecken kommen. Die Meldungen über das Eindringen von Oker- und Ecker- Wasser treffen nicht zu. Man ist jetzt bemüht, auf der vierten Sohle zwischen Schacht 1 und 2 Dämme zu errichten. Schacht 3 wird aus jeden Fall gehalten werde» können. Aller Wahrscheinlich keit nach wird dies auch bei Schacht 2 der Fall sein. Die Lage ist auf keinen Fall als so hoffnungslos anzusehen, wie sie verschiedentlich dargestcllt war. Im Wasfercinbruchsgebiet ist der gesamte Personen verkehr wieder aufgenommen worden. Die Gleise sind sämtlich nachgeprüft und werden zunächst noch mit ge ringer Geschwindigkeit befahren. TsdesstMZ eines Jockeis. Schwerer Unfall bei einem schwedischen Rennen. Bei dem Pferderennen in Ulriksdal bei Stockholm er eignete sich am Sonntag ein s ch w e r c r U u g l ü ck s s a l l, der dem deutschen Jockei Heinz Scholtz das Leben kostete. Bei dem dritten Hindernisrennen stürzten von sieben Reitern nicht weniger als vier. Scholtz, dessen Pferd an einem Hindernis hängenblieb, fiel mit dem Kopf zuerst zu Boden. Bei der Einlieferung ins Krankenhaus war ei bereits tot. Seine Frau war Zeuge des Unglücksfalles WaeMe Räuber erobern eine Stadt. 15 000 Bewohner niederge metzelt. Wie aus Hanlau berichtet wird, hat eine Räuberbande von 3000 bis 4000 Mann dir Stadt .Jungjang unweit der Grenze zwischen Honan und Hupeh überfallen, 15 000 Be wohner niedergemetzelt und 500 Geiseln mitgcschleppt, die Räuber wollen die Geiseln nur gegen hohes Lösegeld frei- lassen. Während der letzten Tage hatten dieselben Räuber bereits mehrere Dörfer der Umgegend geplündert und in Brand gesteckt. Gandhis Nachfolger verhaftet. Die Schwierigkeiten in Indien. Gandhis Nachfolger, der 80jährige Abbas Tyabji, und seine 59 Freiwilligen wurden Montag in Ravsari verhaftet, als sie ihren Marsch nach Dharasana angetreten hatten, wo sie das unter Staatskontrolle stehende Salzdepot „in friedlicher Weise" stürmen wollten. Der Marsch nahm bei dem Torfe Karadi seinen Anfang, »eMU M LWM. Roman von I. Schneider - Foerstl. K. Fortsetzung Nachdruck verboten „Du übertreibst!" „Nein! — Wenn du sie küßt, lächelt sie! — Wenn ich es iue, schließt sie die Augen und bekommt ganz harte Züge. Ich merke, wie sie aufatmet, wenn ich die Arme von ihrem Halse löse. — Zu dir sagt sie „Gute Nacht, mein Sohn!" Wenn ich komme, schiebt sie mich ungeduldig weg, kaum, daß ihr Mund an meine Stirn streift. Ich möchte ihr die Hände küssen — die Füße, wenn sie es erlaubt, aber sie hat keine Zeit für mich. Für dich und Bastian ist sie immer da!" Christoph hatte sich wieder etwas beruhigt. Beinahe tat ihm der Bruder leid. „Wie nimmst du alles tragisch!" schalt „Ich wußte es ja im vornherein, daß du immer Fragen stellst, die kein Mensch beantworten kann." Beider Gesichter verblaßten urplötzlich. Die Gestalt der Senatorin mochte wohl schon lange im Türrahmen gestan den haben, ohne daß sie es bemerkt hatten. Ihre Augen lohten in ehrlichem Zorn und ihre Stimme wurde ganz spröde, als sie sich jetzt an ihren Jüngsten wandte: „Ich wünsche, so lange wir hier sind, weder eine »Gute Nacht" noch ein „Guten Morgen" von dir zu hören. In Hamburg kannst du fragen kommen, ob ich vergessen will, wessen du mich beschuldigt hast. — Die Mahlzeiten wird dir Friedrich auf dein Zimmer bringen..." Ohne den Söhnen noch einen weiteren Blick zu schen ken, ging sie aus dem Raum. In der Villa Professor Schäffers in Wien lief eine De pesche ein: „Bringe Dir mit dem Abendzug Dein Mädel zurück. Veit." Di« nervmen Gelehrtenhände schoben den Wust von Bü H«rn und Manuskripten zur Seite und legten das Tel« gramm in die Mitte des Schreibtisches. „Bringe Dir mit dem Abendzug Dein Mädel zurück. Veit." Der Name riß die Vergangenheit aus dem Grabe, zerrte Längstvergessenes und Durchlittenes an das Licht des Som mertages, der zu dem einzigen großen Fenster der Studier stube hereinquoll, und weckte Erinnerungen, die besser für immer geschlafen hätten. Wie lange war das her, daß er den Namen nicht mehr gehört, noch gesprochen, noch gedacht hatte? gehn Jahre oder zwanzig? — Oder länger? Professor Schäffer spürte eine Unruhe im Blut, die ihn vom Schreibtisch austrieb, hinunter in den Garten, der klein, aber zierlich wie ein auffrisiertes Mädchen um das Haus sprang. Einmal — ja, einmal, er konnte sich dessen sicher er innern, hatte die Fritzl den Veit erwähnt: er wäre in Ham burg ein berühmter Maler geworden, der in den ersten Krei sen aus und ein ging. Sie hatte auch gefragt, ob sie ihn, nachdem es doch sein Bruder sei, besuchen dürfe. Er hatte gar nichts darauf er widert. Mochte das Kind tun, was ihm gut dünkte. Und nun brachte er ihm heute mit dem Abendschnellzug sein Mädel zurück. Weshalb? — Hatte die Fritzi eingesehen, daß auch der Film nicht immer das gelobte Paradies war? Die Ernüchte rung war jedenfalls rasch gefolgt. Kaum acht Monate lebte sie oben in Hamburg und schon zog es sie wieder heim nach Wien. Ihm war es nur recht. Er hatte allerdings nicht viel Zeit für sein Kind. Aber wenn er mittags und abends aus seiner Studierstube kam, mochte er gern ihr heiteres Geplau der hören und ihr Lachen vernehmen, das wie ein Vogel- zwitscheru treppauf und -ab klang. Aber warum brachte sie gerade Veit? — Hatte sie denn überhaupt eine Begleitung nötig? Sie war sonst immer allein gereist. Daß der Bruder mit ihr kam, mochte irgendeine Be deutung haben, nachdem man sich vor zwanzig Jahren als Feinde getrennt und nie wieder eine Annäherung gesucht hatte. Solche Depeschen zerrissen das ganze Tagesprogramm. Professor Schäffer verspürte keinerlei Lust mehr zu arbei ten und war herzlich froh, als es Zeit wurde, mit dem Wagen nach dem Westbahnhof zu fahren und Tochter und Bruder in Empfang zu nehmen. Gleich in einem der ersten Wagen des Schnellzuges, der auf die Minute einlief, sah er Veits Gesicht aus dem offenen Fenster neigen. Ehe er noch hinzuspringen konnte, war schon die Tür aufgeflogen und zwei feste Arme hoben ein Mädchen behutsam auf den Kies des Bahnsteiges. War das die Fritzi? — Schäffers Füße zitterten derart, daß es ihm nicht möglich war, auch nur die beiden Schritte nach dem Abteil hinzugehen. Seine Zunge war förmlich an den Gaumen gefroren und nur die Augen fragten in stum mem fassungslosem Schrecken. Den Arm des Mädchens fest durch den seinen gezogen, kam der Bruder auf ihn zu. „Guten Abend, Sixtus!" „Kind!" Den Gruß des Bruders unerwidert lassend, streckten sich seine Hände der Tochter entgegen, nahmen das todblasse Gesicht zwischen die zitternden Finger und hielten es zaghaft umschlossen. „Warum hast du mir nicht geschrie ben, wie krank du bist?" „Ich bin nicht krank, Papa! Willst du nicht Onkel Veit Grüß Gott sagen?" Schäffers Hände lösten sich schleppend von dem blaffen Gesicht. „Veit!" Um den Mund des Professors irrt ein un sagbar trauriges Lächeln, das eher einem Weinen glich. „Veit!" „Laß gut sein, Alter! — Vielleicht besorgst du jetzt einen Wagen. Die Fritzl und ich sind müde von der verdammten Karrerei. Man möchte fast meinen, Hamburg läge am Nord pol. Seit gestern abend sitzen wir eingepfercht. — Gleich ist es überstanden, Kinderl!" Vier Arme halfen Fritzi Schäffer über das Trittbrett. Vier Hände suchten sie so bequem als möglich in die gepol sterte Ecke zu plazieren. „Sitzt du auch bequem, SHatzl?" (Fortsetzung folgt.)