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Poincare klagt Deutschland an. 20. Juni 1927 Anläßlich der Einweihung eines Kriegerdenkmals in Luneville hielt Ministerpräsident Poincare eine bedeutsame politische Rede, aus der wieder einmal deutlich zu ersehen ist, mit welcher Hartnäckigkeit die französischen Rechtsparteien und die nationalistische Mehrheit der französischen Regierung jede praktische Entfaltung einer deutsch-französischen Annäherungs politik zu verhindern suchen. Po in rare erklärte u. a., daß in Locarno wie in Genf Frankreich genügend Beweise seiner Friedens liebe gegeben habe. Deshalb habe aber Dutschland nach Lissabon ein Kriegsschiff geschickt, das den Namen Elsaß führt. Warum habe ein deutscher Minister am 1. und 2. November 1925, also nach dem Abschluß des Locarnopaktes, erklärt, daß Deutschland keineswegs moralisch auf seine verlorenen Provinzen und auf deutschsprachige Gebiete verzichtet habe? Warum habe dieser selbe Minister betont, daß Deutschland der Ver zicht auf eine bewaffnete Macht gewaltsam auferlegt wurde. Warum ergänzte ein anderer deutscher Mini ster diese Worte, indem er erklärte, daß er Elsaß- Lothringen als eine deutsche Provinz betrachte und Deutschland auf die ihm mit Gewalt entrissenen Ge biete keineswegs verzichtet habe. Die deutsche Regie rung mußte sich dessen bewußt sein, daß eine derartige Auslegung der Locarnoverträge der französischen Auf fassung über diese Verträge widerspreche. Warum des weiteren erklären die führenden deut schen Finanzkreise, daß Deutschland noch innerhalb von zwei Jahren eine Revision des Dawesplanesverlangen und die vorgesehenen Zahlungen nicht mehr leisten werde? Derartige Ausführungen von deutscher Seite über die von Frankreich als wesentlich bezeichneten Punkte wären unklug und ließen sich nicht auf einen Versöhnungswillen Deutschlands schließen. Wenn Deutschland Frankreich offen sagen würde: „Ich ver zichte auf Elsaß-Lothringen, das ich 1871 mit Gewalt entrissen habe und ich werde nicht versuchen, es auch wieder durch einen neuen Angriff oder irgend eine an dere Art zu entreißen;" wenn Deutschland zur gleichen Zeit entsprechend den Forderungen der Botschafterkon ferenz vom 10. März sich bereit erklären würde, seine Polizei zu reorganisieren, seine militärischen Ver einigungen aufzulösen, seine Arsenale und Kasernen umzubauen, die es im Widerspruch mit dem Versailler Vertrag aufrecht erhalte, und die Zerstörung seiner ver botenen Befestigungen zu beenden, so würde Deutsch land der Welt Garantien für den Frieden geben, jede Beunruhigung zerstreuen und eine Annäherung er leichtern. In seinen weiteren Ausführungen beklagte sich Poincare darüber, daß man seine vor zwei Wochen ge führten Aeußerungen über die französischen Forde rungen auf Sicherheit und Reparationen, die er als die wesentlichsten Bedingungen für eine An näherung bezeichnete, in der deutschen Öffentlichkeit als Kennzeichen einer unversöhnlichen Haßpolitik be zeichnete. Frankreich wünsche nichts anderes, als im gegenseitigen Vertrauen und ohne Hintergedanken gute Beziehungen zu Deutschland pflegen zu können. Frank reichs gefallene Soldaten hätten keinen Eroberungs- Französische Be-enken zur Besprechung Chamberlain-Stresemann. 20. Juni 1927 Die Kommentare zu der gestrigen Unterredung Stresemann-Chamberlain sind infolge des Fehlens eines offiziellen Kommuniques sehr spärlich. Die offi ziösen Organe sprechen von einer Fortsetzung der in den Beratungen zuletzt am vergangenen Montag disku tierten Frage. Dabei ist man allgemein der Ansicht, daß Stresemann-Chamberlain gegenüber die Notwendigkeit der Verminderung der Besatzungs- truppsn betont, während Chamberlain das Hauptge wicht auf das russische Problem gelegt habe. Das „Echo de Paris" findet es unbegreiflich, daß kein qualifizierter Vertreter der französischen Regie rung bis zum Schluß der Ratstagung in Genf geblie ben sei, um Chamberlain nach seiner Unterredung mit Stresemann befragen zu können. Die Loyalität Chamberlains gegenüber Frankreich, so schreibt Pertinax, soll nicht in Frage gestellt werden, aber Chamberlain kenne Europa nicht und sein Urteil sei einseitig. Eine neue aussichtslose Konferenz. 20. Juni 1927 Die von Coolidge einberufene Seeabrüstungs konferenz nimmt am heutigen Montag nachmittag ihren Anfang. Amerika wird auf der Konferenz durch den Botschafter in Brüssel, Gibson vertreten, der bereits als Vertreter Amerikas an den Verhand lungen der vorbereitenden Abrüstungskommission teil genommen hat. England wird durch den Ersten Lord der Admiralität, Bridgeman, und Lord Robert Cecil, Japan durch den Admiral und früheren Eeneralgouverneur von Korea, Saito, ver treten. Jede der Mächte hat eine umfangreiche Delega tion nach Genf entsandt, die zahlreiche militärische Sachverständige umfaßt. Die Verhandlungen finden in den Räumen des Völkerbundes unter technischer Mitwirkung des Völkerbundssekretariates statt. Pessimismus uu- Unmut in Frankreich. Ueber die Seeabrüstungskonferenz zwischen Amerika England und Japan, entwickelt man in französischen politischen und diplomatischen Kreisen die Auffassung, krieg geführt; sie hätten sich für die Freiheit ihres Lan des geschlagen und in dem Bewußtsein gekämpft, daß ein Krieg, der Frankreich erklärt wurde, nicht enden dürfe, ohne daß Frankreich die ihm entrissenen Provin zen wieder erlangt habe. Frankreich wünsche nichts als den Frieden durch die Beachtung des Versailler Ver trages: Sicherheit und Zahlung der Repa rationen! Frankreich wollte vorher nichts anderes, wünsche heute nicht anderes und werde auch in der Zu kunft nichts anderes verlangen. Auf keinen Fall möge man also in Deutschland daran denken, Frankreich den Sieg streitig zu machen oder ihm dessen Früchte entreißen zu suchen. Sicherlich sei es n i ch t der böse Wille Frankreichs, der den Frieden ständig bedrohe. Wenn Deutschland nach seiner Niederlage offen seine Regierung und die Mili- rärkaste desavouiert hätte, die es in den Krieg führte, wenn es das französische Verhalten nach 1870 befolgt Hütte und nicht mit aller Entschiedenheit die Schuld der kaiserlichen Politik an dem Kriege bestritten hätte, so wäre niemand auf den Gedanken gekommen, ein ganzes Volk mit einem zusammengebrochenen Regime zu ver wechseln und im allgemeinen die Deutschen für alle Kriegsgreuel verantwortlich zu machen. Diese Einführungen leitet Poincare mit der Schil derung der Zwischenfälle kurz vor Kriegsausbruch ein, wobei er die Notlandung des Zeppelin „L.Z. 16" am 3. April auf französischem Boden als einen besonderen Beweis der deutschen kriegerischen Absichten hinstellte. Poincarö Hal nichts gelernt und nichts vergessen. 20 Juni 1927 Die Rede Poincares erweckt naturgemäß in allen Parteilagern in Frankreich ein lebhaftes Echo. Wäh rend die Rechte den Ausführungen Poincares selbstver ständlich rückhaltslos Anerkennung zollte bedauert die Linke seine Erklärungen und befürchtet, daß sie nicht nur die deutsch-französische Annäherung Erschweren werden, sondern auch geeignet sein könnten, Mißtrauen im Aus land gegen Frankreich hervorzurufen. Das Blatt Caillaux, die „Volonte" schreibt, wenn man die Worte Poincares lese, so glaube man sich plötzlich drei Jahre zurück versetzt. Poincare klage Deutschland des bösen Willens an und poche auf die Rechte Frankreichs aus dem Versailler Vertrag. Als ob der Eintritt des Reich in den Völkerbund, der Locarno-Vertrag und die Anwesenheit Briands in Quei d'Orsny keine Tatsachen sondern Traumbilder seien Poincares Übergriffe in das Arbeitsgebiet Briands steigerten sich fortgesetzt. — Der „Aveuis" sieht in der Rede Poincares eine offizi elle Bestätigung dafür, daß die Annährungs Po litik zwischen Frankreich und Deutschland bisher kein Ergebnis gezeitigt habe. Die rogalistische Action fran- ceise bezeichnet die Rede als eine Jnwenturaufnahme der deutschen Verfehlungen. „Victoire" spricht von einigen „Vorwürfen" die Poincare an die deutsche Adresse richte und zwar in Angelegenheit, die man schon zu vergessen begann. Der Figaro meint, die Aus führungen Poincares hätten nach der Vertagung ge wisser wichtiger Fragen in Genf die wahre Lage der europäischen Politik zu erkennen gegeben. daß Frankreich bei einem den französischen Interessen günstigen Ergebnis der Beratungen in der Genfer Dis kussion über die allgemeine Abrüstung den amerika nischen Standpunkte unterstützen, im anderen Falle aber die Abmachungen unbeachtet lassen würde. Natürlich hätten unter solchen Umständen, schreibt Pertinax im „Echo de Paris", die Genfer Abrüstungs verhandlungen immer noch wenig Aussicht auf Erfolg, denn Amerika, England und Japan würden im Falle einer Einigung untereinander zweifellos auch verein baren, jeden anderen Standpunkte zu bekämpfen. Im übrigen glaubt man kaum an ein Gelingen derKonferenz zu dreien. Der sozialistische „Oeuvre" meint, England werde sich immer mehr eines Fehlers bewußt, den es begangen habe, als es seine Po litik gegenüber Japan umstellte. Mit einem gewissen Unmut wird im übrigen in der Presse die Erklärung Gibsons, des Mitgliedes der amerikanischen Delegation ausgenommen, der zu ver stehen gegeben haben soll, daß es noch nicht entschieden sei, ob der franzöische „Informator" zu den geheimen Besprechungen zugelassen werde. Diese Bedenken be stünden gegenüber Italien, das einen Beobachter ent senden werde, nicht. Amerikas Vorschläge. Die Vorschläge, die die amerikanische Kommission der Genfer Dreimächte-Flottenabrüstungskonferenz un terbreiten wird, sind jetzt endgültig festgelegt worden. Man glaubt hier zu wissen, daß die Hauptpunkte dieser Vorschläge folgende sind: 1. Auch für Hilfsschiffe wird das Stärkeverhältnis von 5:3:3 zwischen den Vereinigten Staaten, Eng land und Japan festgelegt. 2. Die Höchsttonnage der Kreuzer betrügt 10 000 Tonnen. Dieser Vorschlag wird offenbar von den Ver einigten Staaten gemacht, um der Möglichkeit vorzu beugen, daß England und Japan eine Höchstgrenze von 6000 oder 8000 Tonnen fordern. 3. Amerika schlügt als Höchstkaliber für die Be stückung der Kreuzer 8 Zoll vor, wührend man damit rechnet, daß England ein Höchstkaliber von 6 Zoll for dern wird, um die Bewaffnung der Handelsschiffe zu Kriegszeiten zu ermöglichen, was nach amerikanischer Ansicht diejenigen Mächte begünstigen würde, die über eine große Handelsflotte verfügen. 4. Die Vereinigten Staatene werden für sich die gleiche Gesamttonnage an Kreuzern fordern, die Eng land besitzt. Daraus würde sich ein neues amerika nisches Vauprogramm ergeben, da ja eine Verniindc- rung der englischen Kreuzertonnage nicht in Fregc komme. 5. Die Vereinigten Staaten widersetzen sich ener gisch einer Tonnagenverminderung der Panzerschiffe oder einer anderen Verteilung der Panzerkreuzer tonnage, als seinerzeit in Washington verabredet wer den ist. 6. Amerika lehnt jeden Versuch der amerikanischen Delegierten ab, das Problem der Flottenstützpunkte im Pazifischen Ozean zu diskutieren. Deutscher Reichstag. 322. Sitzung. Prüsident Loebe eröffnet die Sitzung um 12 Uh' Ein Gesetzentwurf über die Verlängerung Pachtschutzordnung um weitere zwei Jahre wird de" Siedlungsausschuß überwiesen. Der sozialdemokratisch-demokratische Antrag die Bestimmungen des 11. A u g u st zu m N" onalfeiertag geht an den Rechtsausschuß, ein von der Zentrumsfraktion neu angekündigter 7^ trag über den Schutz der gesetzlich anerkannten Fe'' tage. . Es folgt die zweite Beratung des Gesetzentwurf über die Abtretung von Beamtenbezügen zum A" stattenbau. Danach können Beamte bis zu zwei D" lel des Betrages, um den ihr Einkommen bezw. N".. gehalt die Summe von 1560 RM im Jahre übersteh an ein von der Regierung bestimmtes öffentlich-re^ liches Kreditinstitut oder gemeinnütziges Unternehm abtreten. Die Abtretung ist nur zulässig zur schaffung, Verzinsung oder Tilgung von Darlehen, ^ durch Hypotheken-, Grund- oder Rentenschulden Wohnheimstätten gesichert sind oder gesichert we''^ sollen. Abg. Roßmann (Soz.) berichtet über Ausschußverhandlungen und erklärt, daß der Au^. trotz der allerseits geäußerten Bedenken, daß d"ü setz im Volke den Eindruck erwecken könne, als giE^. den Beamten gm, den Entwurf gutgeheißen habe. ' „ Lucke (Wirtsch. Vereinigung) hält das Gesetz für nehmbar in einer Zeit der wirtschaftlichen Not,' n terbeamte kämen überhaupt nicht in Frage^ Im üv''^ habe der Bau von Einfamilienhäusern sich währt. Die Vorlage sei auf sozialistischem Regier" grundfützen aufgebaut. Abg. N euder m e (Kom.) lehnt das Gesetz gleichfalls ab wegen > düchtigen Eifer den die Regierung dabei gezeigt Statt Gehaltserhöhung gebe man den Beamten kostenlosen Rat, mit noch weniger Geld auszuto" Abg. Roßmann (Soz.) begründet Anträge Schaffung einer Rücklage, aus der den Sparern . Falle der Kündigung die eingezahlten Gelder z»^ zahlt werden können. Der Redner warnt die Pen vor übertriebenen Illusionen. Das Gesetz konm^ segensreich wirken, wenn es in den Ausfuhr" stimmungen nach den Grundsätzen höchster lichkeit ausgebaut werde. Unter Ablehnung lnte derungsantrüge wird die Vorlage in der fassung in zweiter und dritter Lesung gegen dir - munisten und die Wirtschaftliche Vereinigung nommen. Das Haus vertagt sich, Montag 1" . Schankstüttengesetz. Bootsunglück auf der Ostsee. — Sechs Tote. Schwerin, 20. Juni. Funkspr.) Fühl Studentinnen und drei Studenten der Universität Rostock unternahmen gestern nachmittag von Warne münde aus eine Segelfahrt nach dem Ostseebad Müntz Gegen 3 Uhr nachmittags traten sie, obwohl der Wind außerdentlich stark aufgefrischt hatte, von der WestbrM aus die Rückfahrt an. Das Boot konnte bis 8 Uhr abends noch vom Strand aus schwer mit den Wellen kämpfend beobachtet werden. Gegen 1 Uhr nachts sichtete da- Fährschiff Warnemünde Gjedser die verzweifelt nw dem Wasser Kämpfenden. Es wurden sofort Verfug zur Rettung unternommen. Während es gelang, zu"' Studentinnen der stürmischen See zu entreißen, fanden drei Studentinnen und drei Studenten den Tod in de" Wellen. Ein Köder für Deutschlands Aenderung der Russen Politik. Neuyork, 20. Juni. Funkspr.) Die M Port-Times schreiben, die Genfer Vorgänge hätten de» Beweis erbracht, daß Deutschland bei der Lösung de' europäischen Fragen eine wichtige Rolle spielen könne Stresemann scheine die Rolle Bismarcks übernehmen wollen. Er werde die sofortige Rheinlandräumung ve" langen. Es sei auch kein Risiko für die Entente, wen" es dem zustimme. Deutschland habe ein moralische" Recht darauf, selbst wenn man das legale Recht bestreik Warum wolle man dem Reiche nicht bei der BefreiuE seines Territoriums helfen und mit ihm zusaminP arbeiten, um die Befreiung Rußlands von kommunist" schem Terror. Der englische Handelsminister zum Rußlandkonsli^ London, 20. Juni. Handelsminister Sir Cuncliö Lister erklärte heute in einer konservativen Versa""" lung, daß die Arbeiterpartei lernen müsse, daß die tische Regierung im Rußlandkonflikt zeigen müsse, d"h sie eine nationale Regierung sei. Rußland könnte heP noch mit Großbritannien Handel treiben. Wenn aiP Handelsbeziehungen bedeuteten, daß EroßbritamP, einer fremden Macht erlauben solle, gegen England" allen Teilen der Welt zu intrigieren, dann werde de Handel mit Rußland allerdings aufhören müssen. Spanischer Erfolg in Marokko. Madrid, 20. Juni. Bei den letzten Kämpfe" / Marokko nahmen die spanischen Truppen die Höhen."/," . Buhasem ein, die die Beherrschung des ganzen Gedieh der Dscheballas sichern. Die Aufständischen verlad 500 Mann.