Volltext Seite (XML)
Die russisch-englische Spannung 28. Februar 192? Wie die Telegraphenagentur der Sowjetunion er fährt. hat die Regierung die Prüfung des Wortlautes der Antwortnote an England beendet, die daraufhin dem englischen Geschäftsträger überreicht wurde. In der Antwortnote wird unter anderem ausge führt: Die Sowjetregierung habe wiederholt bei eng lischen Beschwerden einen Hinweis auf etwaige konkrete Fälle verlangt. Dem sei die britische Regierung jedoch nicht nachgekommen, was eine Verletzung der 1923 ein- gegangenen Verpflichtung Lord Curzons sei. Die jüngste britische Note zähle lediglich eine Reihe politischer Acußerungen sowjetrussischer Staatsmänner auf. Es sei eine willkürliche Erweiterung der bestehenden Verein barungen, sie auch auf mündliche oder in der Presse ver öffentlichte Aeußerungen innerhalb der Sowjetunion ausdehnen zu wollen. Weder in der Sowjetvresse, noch in sonstigen russischen Aeußerungen sei etwas zu finden, was etwa den scharfen Ausfällen der konservativen Re gierung gegen die Sowjetregierung gleiche. Als anti- britische Propaganda könnte nicht aufgefaßt werden die Analpse und Einschätzung der Außenpolitik der briti schen Regierung sowie prinzipielle Ausführungen von russischen Parteiführern über die Unabwendbarkeit der Weltrevolution und über die Bedeutung der national revolutionären Bewegung im Osten. Was den besonderen Unwillen der britischen Re gierung anläßlich der Aeußerungen von Sowjet-Staats männern über die sowjetfeindliche Einstellung der bri tischen Politik gegenüber dritten Staaten anlangt, so könnten die ständigen Hinweise von Politikern und Mitgliedern der britischen Negierung auf die angebliche Allgegenwart und Allmacht der sogenannten Sowjet- agenten, die als Urheber sämtlicher und jeglicher Schwierigkeiten des britischen Reiches beinahe in allen Winkeln der Erdlngel hinaestellt werden, mit dem gleichen Recht und Anlaß als fixe Idee gekennzeichnet werden. Die Sowjetregierung bedauert überaus den in der britischen Note festgestellten unbefriedigenden Stand der englisch-sowjetrussischen Beziehungen, glaubt jedoch, daß, wenn man diese traurige Erscheinung auf die gegenseitigen Beschuldigungen und den feindseligen Ton der Presse beider Länder zurllckführe, dies den Grund für die Folge und umgekehrt ausgeben hieße. Im weiteren Verlause der Note heißt es: Die eng lische Negierung weiche bewußt von den allgemein üblichen internationalen Normen und Ecpfloaenheiten und selbst von den elementarsten Anstandsreqeln ab. Sie erlaube sich, mit der Sowjetregierung im Tone einer Drohung mit einem Ultimatum zu reden und die Ver fassung der Sowjetunion zu ignorieren, indem sie in ihren Noten hartnäckig versuche, Parteiorgane oder selbst internationale Institutionen an die Stelle der formellen Negierung der Sowjetunion zu setzen. Sie habe sich ferner einen unerhörten und präzedcnzlosen Ton gegenüber Tschitscherin erlaubt. Nach einem Hinweis auf neuerliche Enthüllungen über Versuche einer Verständigung einzelner Mitglieder der englischen Negierung mit ehemaligen zaristi schen Diplomaten und Vertretern der Gegen revolution. führt die Note weiter aus: Der enalisch-sow- jetrussische Handelsvertrag, wie auch die Wiederherstel lung der diplomatischen Beziehungen habe den Inter essen beider Länder entsprochen. Wenn die britische Regierung glaube, daß der Ab bruch der englisch-sowjetrussischen Beziehungen dem britischen Reiche und der Sache des allaemeinen Friedens zum Vorteil diene, so werde sie natur gemäß dementsprechend handeln und die volle Ver antwortung für die Wirkung übernehmen müssen. Die Sowjetregienmg bekräftigt zum Schluß die Erklä rung Krassins über die Erwünschtheit der Be hebung sämtlicher Differenze n und der Wieder herstellung vollkommen normaler Beziehungen und er klärt, sie werde ein Entgegenkommen der britischen Re gierung auf dem Wege zum Frieden aufrichtig begrüßen. Ein russischer, offiziöser Kommentar. Die „Iswestija" schreibt zu der russischen Antwort note: Für die in der Note Englands vertretene Haltung gäbe es zwei Möglichkeiten: Entweder wolle England seine Beziehungen zu Rußland verbessern, dann Hütten Beweise für die Beschuldigungen gegeben werden müssen, oder England wolle die Beziehungen ver schärfen. Das Londoner Kabinett stehe unter dem Druck eines Teiles der Kabinettsmitglieder, die keinen Frie de» mit Rußland, sondern den offenen Bruch zwischen beiden Nationen wünschten. Dann habe die englische Note freilich nicht ins Ziel getroffen. Die Sowjet- regierung lehnt jede Verantwortung für einen etwaigen Bruch ab, da ein solcher von ihr nicht aewünscht und nicht provoziert sei. Protestkundgebungen in Nutzland Wie aus Moskau berichte: wird, finden unier größter Beteiligung in ganz Rußland Massenversamm lungen als Protest gegen die britische Note an Sowiet- rußland. die als eine Kriegsdrohung ausgeleqt wird, statt. Die Garnisonen in Charkow und Moskau nah men eine Resolution an, in der es heißt, daß Rußland zur Abwehr und zum Angriff bereit sei. Die Negierung solle den hochmütigen englischen Herrschern die rechte Antwort geben. In einem von 5000 Arbeitern einer Moskauer Fabrik angenommenen Beschluß wird gesagt, daß die sowjetrussische Union keinen Krieg wünsche. Aber wenn man sie angreifen würde, so würde die ganze Nation aufstehen. Die Prawda glaubt, daß die Note die Hochkonservativen in England ermuti gen werde, auf einem vollständigen Abbruch der Be ziehungen zu bestehen. Englische Annullierung des Handelsvertrages? Reuter meldet: Die Antwortnote Sowjeckrußlanos ist in Wendungen gehalten, die englischerseits erwartet worden sind. Man hatte nicht angenommen, daß die Sowjetregierung irgendwelche Verantwortlichkeit für die Propaganda zugeben oder sich irgendwie sonst eine Blöße geben würde. Diejenigen Anhänger der Regie rung, die an der englischen Note Kritik geübt haben, weil sie zu milde sei, betrachten die russische Antwort ais unverschämt und werden einen starken Druck ausüben, um die Annullierung des Handelsvertrages und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen durchzusetzen. In diplomatischen Kreisen ist man der Ansicht, daß die englische Regierung im Sinne der Note auch handeln werde, und es werde als möglich angesehen, daß die Re gierung das Handelsabkommen annulliert, während sie die diplomatischen Beziehungen weiterbestehe» läßt. Die enM-MWi We-MM Eine Vernhigungspille. ^8. Februar 1927 Der diplomatische Korrespondent des Daily Tele graph berichtet, daß die Besorgnis der deut schen öffentlichen Meinung über die gegen wärtige englisch-russische Spannung von der deutschen Regierung und dem deutschen Auswärtigen Amt ge teilt werde. Stresemann habe sich bereits mit der Frage beschäftigt, ob es nicht ratsam sei, vor ver nächsten Tagung des Völkerbundsrats nach Berlin zu rückzukehren. Seine ursprüngliche Absicht sei gewesen, sich direkt von der Riviera nach Eens zu beg-eben, aber wahrscheinlich werde er den gegenwärtigen Schwie rigkeiten aus dem Wege gehen durch Ent sendung des Unlerstaatssekretärs von Schubert, der in der Lage sein würde, ihn über die Berliner Auf fassung zu unterrichten. In der Zwischenzeit habe Dr. Stressma n n Lord d'Abernon in Nizza getroffen, der in der Lage gewesen sei, den deutschen Außenminister hinsicht lich gewisser in Berlin vorherrschender Auffassungen über die Prinzipien, die die britische Politik beherrschen, zu beruhigen. Beispielsweise seien in ganz Deutschland und Europa Gerüchte im Umlauf, nach denen Groß britannien Polen eine Anleihe in Höhe von zehn Millionen Pfund versprochen habe, und Poren sich seinerseits verpflichten werde, dieses Geld zum An kauf britischen anstatt französischen Kriegsmate - r i a l s zu verwenden. Ferner Gerüchte, nach denen ole Revision des deutsch-polnischen Vertrags in einer Periode von 15. 20 bezw. 25 Jahren gestellt werde und das Fehlen des Räumungsproblems des Rheinlands auf dem Programm der bevorstehen den Völkerbunds-Tagung ebenfalls aus polnischen D r u ck zurückzuführen sei. Der Berichterstatter saun fort, es sei kaum nötig, darauf hinzuweisen, daß eine Anleihe," die Polen möglicherweise in London suchen werde, nur für kommerzielle Zwecke ver wendet würde. Sir A u ste n C h a m b e r I a i n habe immer wie der die Absicht. Polen oder die Randstaalen zu politischen Abenteuern zu ermutigen öffentlich in Abrede gestellt. Die britische öffentliche Meinung würde nie zu irgend einer Garantie der zweifelhaften Ostgrenzen Europas ihre Zustimmung geben, obwohl einige der Nandstaaten zweifellos e?ne derartige Garantie zu erhalten wünschten. Ueberdies sti sich Dr. S 1 resema n n bewußt, daß das Anschnei- aen der R h e i n l a n d f r a g e im kommenden Monar infolge der Haltung Poincares lediglich die Wie derbelebung der bitteren deutsch-französischen Koniro- aerse bedeuten würde. Moskauer Erregung über die englisch-polnischen Verhandlungen. Wie aus Moskau gemeldet wird, hat die Nachncht von den englisch-polnischen Verhandlungen in Danzig in Sowjerkreisen große Erregung hervorgerufen. Ein englisch-polnisches Bündnis werde, so wird erklärt, nicht nur die Sowjetunion, sondern den gesamten Osten Europas bedrohen. Die Sowjetregierung werde alle zur Verfügung stehenden Maßnahmen für ihre Sicher heit ergreifen. WnesW EinWchM Wen EnM? 28. Februar 1927 Die englischen Truppen überschritten die Grenze der Fremdenniederlassung und besetzten die Gegend des Ießfield-Parts, wo. auf chinesischem Hoheitsgebiet, eines der vornehmsten Wohnviertel liegt. Das englische Truppenkommando verweigerte die Auskunft darüber, ob weitere Eebietsbesetzungen geplant seien: die Maß nahme wurde mit der Notwendigkeit des Schutzes für große Werte im Ießfield-Viertel begründet. Von chinesischer Seite wird die Besetzung dieses Gebietes durch englische Truppe» als offener Völkerrechtsbrnch bezeichnet. Der Oberkommandierende der englischen Truppen, Duncan, ist mit weiteren 1600 Mann in Schanghai eingetrosfen. Sperrung des Wusungfluges. Die Generale Suiujchuanfang und Tschangtschufan sind in Schanghai eingetroffen und nach kurzer Zeit nach Tunkiang weilergefahren. Hier sollen voraussicht lich die neuen Verteidigungsstellen gegen die Sud- truppen bezogen werden. Der Kommandierende Gene ral der chinesischen Truppen in Schanghai. Lipuscheg, Hai den Befehl erlassen, daß die Mündung des Wujung- flusses. der den einzigen Zugang nach Schanghai von der See her darstellt, in der Zeit von 6 Uhr abends bis 6 Uhr früh gesperrt werde, um so Angriffen der süd chinesischen Flotte gegen Schanghai vor zubeugen. Die konsularischen Behörden haben gegen diese Maßnahme Einspruch erhoben. Voraussichtlich wird jedoch eine freundschaftliche Regeluna erzielt werden. Deutscher Reichstag. Sitzung vom 26. Februar 1927. Der deutsch-türkische Handelsvertrag wird in allen drei Lesungen ohne Aussprache angenommen. Darauf wird die zweite Lesung des H a u s h a I t s p l a n s d e s Reichsarbeitsmini st eriums fortgesetzt. Abg. Becker-Arnsberg (Zentrum) fordert ein langfristiges Bauproqramm, mit einer Mietserhöhung müsse eine Erhöhung der Gehälter Hand :n Hand gehen. Notwen dig sei die Beseitigung des Ueberstundenwesens. Sonn tagsarbeit müsse in ganz besonders engen Grenzen ge halten werden. Der Redner beantragt, stillgelegte Unternehmungen, die innerhalb eines Jahres wieder in Betrieb genommen werden, zu zwingen, die Entlasse nen wieder einzustellen. Das Kernproblem der Sozial politik sei die Entproletarisierung der Massen durch Eigenheime und Gewinnbeteiligung ohne Beschränkung der Freizügigkeit Abg. Thiel (DVP.) wirft die Frage auf. ob mau nicht die Schulzeit um ein Jahr verlängern sollte, um die Zahl der jugendlichen Erwerbslosen zu vermindern. Den gesteigerten Anforderungen des Lebens gegenüber sei dies durchaus erwägenswert. Der Redner fordert, beschleunigte Besserstellung der Kriegsbeschädigten. Das Reichsehrenmal müsse bis zum 80. Geburtstage des Reichspräsidenten feriiggestellt sein. Zur Hebung der deutschen nationalen Wirtschaft müsse mit manchen sozialdemokratischen Vorstellungen gebrochen werden. Die Deutsche Volkspartei werde die Sozialpolitik fort setzen, aber nicht im Geiste der Sozialdemokratie, son dern im Geiste der Arbeiterbewegung in den bürger lichen Parteien. Abg. Rüdel (Komm.) bezeichnet die Selbstbeweihräucherung der Sozialdemokratie in der gestrigen Rede des Abgeordneten Hoch als etwas gerade zu Ekelhaftes. Die Haltung der Sozialdemokratie in den letzten zehn Jahren habe die heutige trostlose Lage der Arbeiterschaft verschuldet. Darauf werden die Be ratungen abgebrochen. Das neue Arbeitszeitnotgesetz. Das „Berliner Tageblatt" veröffentlicht den Wort laut des neuen Arbeitszeitnotgesetzes, das dem Reichs rat zur Beschlußfassung zugegangen ist. Die Verord nung über die Arbeitszeit vom 21. Dezember 1923 wird danach wie folgt geändert: 1. Der 8 6 erhält folgenden Absatz 3: „War die Arbeitszeit tarifvertraglich geregelt und ist der Tarif vertrag seit nicht mehr als drei Monaten abgelaufen, so dürfen die im Absatz 1 bezeichneten Behörden nur Arbeitszeiten zulassen, die nach dem Tarisvertag zulässig gewesen wären." 2 Der 8 6 erhält folgenden Absatz 4: „Wird die Mehrarbeit nach Absatz 1 aus allgemein wirtschaft lichen Gründen zugelassen, so Hal die zulassende Behörde sie davon abhängig zu machen, daß den Arbeitern über den Lohn für die regelmäßige Arbeitszeit hinaus ein angemessener Zuschlag gezahlt wird. Als angemessen gilt mangels einer abweichenden Vereinbarung ein Zu schlag von 25 v. H. Kommt über die Berechnung des Zuschlags keine Einigung unter den Beteiligten zu stande, so entscheidet darüber die zulassende Behörde endgültig. Die Vorschrift des Satz 1 gilt nicht für Lehr linge." 3. Der bisherige Absatz 3 des 8 6 wird Absatz 5. 4. Der 8 9, Absatz 1. erhält folgenden Wortlaut: „Die Arbeitszeit darf bei Anwendung der in den 88 3 bis 7 bezeichneten Ausnahmen zehn Stunden täglich nicht überschreiten: eine Ueberschreitung dieser Grenze ist nur in Ausnahmefällen aus dringenden Gründen des Gemeinwohls mit befristeter Genehmigung Ler im 8 6, Absatz 1. bezeichneten Behörde 'zulässig." 5. Der 8 11. Absatz 2, und der 8 12 fallen weg. In der Begründung wird ausgeführt, daß die starre Durchführung des Achtstundentages der deutschen Wirt schaft Lasten auferlegen würde, die sie heute nicht zu tragen vermag. Eine Notregelung — und um sie allein könne es sich hier handeln —. dürfe nicht das geltende Arbeitsrecht völlig umstürzen und die endgültige Rege lung vorwegnehmen, die das bereits dem Reichsrat vor liegende Arbeitsschutzgesetz bringen soll. Sie müssen sich vielmehr auf die dringendsten Abänderungen der Arbcitszeitverordnung beschränken. Zn der Begründung wird betont, daß eine st a r r e Durchführu n g des Achtstundentages der deutschen Wirtschaft Lasten auferlegen würde, die sie heute n i ch : z u trage n v e r m ö g e Sie ginge nicht nur weit über die Regelung des Washingtoner U e b e r e i n k o m m e n s hinaus, sondern auch über alles, was in irgendeinem Lande der Welt bisher ge setzlich verwirklich: morden sei. Eine Neuregelung dürse nicht das geltende Arbeitszettrecht völlig Umstürzen und die endgültige Regelung vorwegnehmen, sie müsse sich vielmehr auf die dringlichste n Abände rungen der Arbertszeitverordnungen beschränken, beson ders auf Beseitigung der Vorschriften, die unter den heutigen veränderten Verhältnissen nicht mehr berech tigt oder erforderlich erscheinen. D i e E n 1 s ch e i d u n g über Mehrarbeit ganz dem freien Ermessen der Tarifparteien zu überlassen, sei nicht länger haltbar: deshalb werde vorgeschlagen, die Mehrarbeit ü b e r zehn Stunde n hinaus stets vo n e i n e r b e - hördlichen Genehmigung abhängig zu m a ch e n und damit die Anwendung der Ausnahme auch wirklich aus diejenigen Fälle zu beschränken, in denen die Rücksicht ausdie B eIangede r A l l - gemcinheit sie geboten erscheinen läßt. Durch die Streichung des 8 li Absatz 3, womit die Möglichkeit freiwilliger Mehrarbeit ohne behördliche Genehmigung fortfallen würde, stehen einzelne Betriebe, und darunter recht wichtige, vor der Gefahr, künftig den Strafen M verfallen, mit denen unzulässige Mehrarbeit bedroh! wird. . . -