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Die Verständigrmgsmöglichkeiten. In der Presseabteilung der Reichsregierung fand ein Empfang der Presse statt, bei dem der Reichskanzler das Wort zu einer längeren Rede ergriff. Nachdem er eine Darstellung der Wirtschafts- und Finanzlage gegeben hatte, fuhr er fort: Offenheit ist besser als Illusion und deshalb wollen wir es offen aussprechen: Ohne Lösung des außenpolitischen Konfliktes ist eine Lösung der Finanzfrage nicht zu finden. Die Regierung hat sich vom ersten Tage ihres Amts antritts an die Lösung des Ruhrkonflikts zur Autzabe gestellt. Das Ziel des passiven Widerstandes konnte nur sein, das Ruhrgebiet zu befreien. Von dem selben Standpunkt ausgehend hat die Regierung ge handelt. Sie würde sich das größte Verdienst erwerben, wenn sie den Ruhrkonflikt soweit als möglich abkürzen könnte. Aber die bisherige Fühlungnahme zeigt zugleich die bestehenden Schwierigkeiten. Für uns ist entscheidend die Frage der Souveränität über das Rheinland und die Wiedergewinnung der Freiheit des Ruhrgebiets. Dafür sind wir bereit, reale Garantien zu geben. Der französische Ministerpräsident hat kürzlich in einer Rede ausgeführt, er zöge die positiven Sicherheiten, die Frankreich in der Hand habe, den schönsten theoretischen Rechten vor. Was ich in meinen Darlegungen vorge schlagen habe, betraf Lie unmittelbare Heran- ziehungdes privaten Besitzes und geht des halb über den Versailler Vertrag hinaus. Die Heran ziehung des privaten Besitzes ist ein realisier bares Pfand, während die Sicherheiten des Ver sailler Vertrages dies zurzeit nicht sind. Wenn auf Reichsbesitz und Privatbesitz der Wirtschaft als Pfand recht an erster Stelle Hypotheken zugunsten des Reiches eingetragen werden, und zwar in Höhe eines bestimm ten Prozentsatzes dieses Besitzes, so könnten diese Hypo theken als ein reales und mobiles Wertobjekt in eine Treuhandgesellschaft eingebracht werden, an deren Verwaltung die Reparationsgläubiger beteiligt werden könnten. Diese wäre in der Lage, auf Grund der Hypotheken und Zinserträgnisse durch Aus gabe von Obligationen Anleihen aufzunehmen. Dadurch wäre die Möglichkeit gegeben, auch Frank reich sofort in Besitz größerer Zahlungen zu setzen, wodurch die von französischer Seite aufgestellten For derungen für die Räumung des Ruhrgebiets er füllt wären. Eine derartige Leistung ist sicherlich eine reale Tatsache. Sie bedingt zu ihrer Verwirklichung die Wiederver fügung über das Ruhrgebiet und die Wiederherstellung seiner Souveränität über das Rheinland. Sie ist ge eignet, die Frage des passiven Widerstandes zu erledigen, wenn man uns die Sicherheit dafür gibt, daß auf Grund einer solchen Vereinbarung das Ruhrgebiet geräumt wird, und im Rheinland die alten Rechte wieder herge stellt werden. Gibt man uns die Sicherheit, daß jeder, der Rhein und Ruhr seine Heimat nennt, frei der Heimat wiedergegeben wird, so besteht kein Grund mehr da gegen, dieses große einst blühende Wirtschafsgebiet zu seiner alten Arbeitsfreudigleit wieder zurückzu- geben. Ich hoffe auf die Möglichkeit einer solchen Regelung. Frankreich hat durch seinen Ministerpräsidenten wieder holt erklärt, daß es keine Annektion beabsichtige. Für uns ist die Frage, ob die deutsche Wirtschaft die ihr zu- gemutete Belastung wird tragen können. Ich darf mit Genugtuung daraus Hinweisen, daß dem gegenwärtigen Kabinett von führenden Persönlichkeiten der Wirtschaft Leistungen angeboten worden sind, in der Höhe, die uns die Ausführung der heute von mir vorgeschlagenen Zah lungen ermöglichen wird. Es handelt sich um das Leben und Sterben des deutschen Volkes. Irgendeine Verständigung ist allerdings davon ab hängig, ob man glaubt, daß eine Stimmung zwischen Frankreich und Deutschland geschaffen werden kann, auf der sich eine solche Verständigung.aufbauen läßt. Im zweiten Teil seiner Ausführungen ging der Reichskanzler auf die Rede des französischen Minister präsidenten ein. der sich mit dem Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland nach dem Kriege von 1870/71 befaßt hatte. Der Kanzler schloß mit den Worten: Wenn heute unter anderen Verhältnissen Deutschland, das bereit ist, die Folgerungen aus einem verlorenen Kriege auf sich zu nehmen, dem Frankreich der Gegenwart gegenübersteht, so möchte ich wünschen, daß auch diejenigen Persönlichkeiten, in deren Hand heute mehr als das Geschick Frankreichs liegt, sich von dem Gesichtspunkt leiten lassen mögen, daß es jetzt gilt, den Frieden zu wollen, den Frieden zuerhalten durch eine Politik der Gerechtigkeit, die geeignet ist, nationale Leidenschaften zu beschlichten und damit die Garantie für einen wirtschaftlichen Frieden zu geben. Eine Dollaranleihe für Deutschland? London, 13. September. (Eig. Drahtber.) Die „Neuyork Times" glauben zu wissen, daß das Programm einer Dollaranleihe für Deutschland in seinen Erund- zügen bereits festgelegt ist. Die Anleihe würde durch die Vermittlung des Völkerbundes begeben. Der An teil Amerikas an der Anleihe würde 25V Millionen Dollar, d. h. den vierten Teil, ausmachen. Eine Unterredung mit Mussolini. Die Fiumefrage. Der römische Sonderberichterstatter der „Daily Mail" veröffentlicht eine Unterredung mit Mussolini. Der italienische Ministerpräsident machte ihm ausführ liche Angaben über die Stimmung italieni scher Kreise gegenüber England. Man dürfe nicht verhehlen, meinte Mussolini, daß die Hal tung der englischen Presse in Italien große Unzu friedenheit hervorgerufen habe. Indessen habe Italien den Wunsch, freundschaftliche Beziehungen zu Großbritannien zu unterhalten. Im übrigen kam der Ministerpräsident dann noch ausführlich auf den italie nisch-griechischen Streitfall zu sprechen und wiederholte seine frühere Erklärung, wonach Korfu erst nach völliger und restloser Erfüllung der Griechenland auferlegten Bedingungen ge räumt werden soll. Zu der Fiumefrage äußerte Mussolini: Wir haben seit langem durch die direkten Verhandlungen zwischen Italien und Südslawien eine Lösung erstrebt. Da noch kein Erfolg erzielt werden konnte, so ist es unwahrscheinlich, daß ein neues Verfahren zu einem befriedigenden Ergebnis führen wird, zumal wenn man den Schiedsspruch einer Macht anruft, die mit der Frage nicht vertraut ist. Ich habe bereits Beweise meines guten Willens und der Mäßigung gegenüber Südslawien an den Tag gelegt, indem ich den drit ten Teil der dalmatischen Zone räumen ließ. Dieser Schritt war in Italien keineswegs popu lär. Vordem hatte Italien bereits seine Versöhnlich keit in der Fiumefrage gezeigt, als es un t e r g ro ß e n Opfern der Aktion gegen d'Annunzio beitrat. Bei dieser Gelegenheit feuerten italienische Truppen auf ihre Waffenkameraden. Ferner war Ita lien bestrebt, Herrn Zanella an die Spitze der Regie rung von Fiume zu stellen. Was Italien vor allem wünscht, ist die friedliche Lösung eines widerwärtigen Streites. Ich wünsche, daß Fiume ein Band und nicht ein Zankapfel zwischen Italien und Südslawien werde. Keine Vermittlung im Fiumestreit. Offiziös wird erklärt, daß keine dritte Macht im Fiume-Streit vermittelt. Italien könnte eine derartige Vermittlung auch nicht annehmen. Es will die Frage vielmehr direkt mit Siidsla- wienregeln. Trotz der Pariser Reise des Minister präsidenten Pasitsch wird sich Frankreich nicht zugunsten Südslawiens einsetzen. Raub, Mord, Vergewaltigung. In Essen wurden drei Beamten des Bergbauver eins 30 Milliarden Mark Lohngelder von den Fran zosen abgenommen. Bei der Eerresheimer Gie ßerei wurden 25 Milliarden Mari Lvhngelder von den Franzosen geraubt. In Buer beschlagnahmten die Franzosen 61100 Millionen Mark städtisches Notgeld. In Gelsenkirchen unternahmen gestern mor gen französische Offiziere in Begleitung französischer Soldaten einen Zug gegen das Rathaus. Mit vor gehaltenen Revolvern drangen sie in das Rathaus ein und zwangen die vollkommen überraschten Kassenbeam ten die Geldbehältnisse zu öffnen. Auf diese Weise raubten sie den Bestand von 41,9 Milliarden Mark. Sanktionen für Porck. Dortmund, 13. September. (Eig. Drahtber.) Die Franzosen besetzten, anscheinend als Sanktionen für das letzte Attentat auf der Lippebrücke, die Ortschaft Porck. Sic durchsuchten die Behausungen nach Waffen. In Porck wurde der Amtsgerichtsrat und der Polizeimajor von Detten verhaftet und abtransportiert. Zurzeit wird von den Franzosen die Abholzung linksrheinischer Wälder in großem Umfange be trieben. So wurde am Bahnhos Trier ein umfang reicher Holzverkehr in Richtung Diedenhofen beobachtet. Das Holz wurde aus Richtung Herbesthal herangebracht. Der Postschaffner Reuter vom Postamt 2 in Trier wurde seit dem 27. August vermißt. Wie die amtlichen Nachforschungen jetzt ergeben haben, befand er sich in der Nacht zum 27. mit einer bei ihm zu Be such weilenden Frau auf dem Heimweg auf der Land straße von Ruwer nach Trier, drei Marokkaner überfielen die beiden. Während Reuter ermordet wurde, versuchten die Schwarzen, die Frau zu verge waltigen; jedoch infolge des heftigen Widerstandes der Frau und infolge der Hilferufe sowie Herannahens eines Autos, ließen die Verbrecher von ihrem Opfer ab und ergriffen die Flucht. Die französische Militärbehörde wurde benachrichtigt. Ein Ergebnis der Untersuchung liegt bis jetzt noch nicht vor. An einem der letzten Abende wurden auf dem Wege von Buer nach Hassel eine 25jährige Bureaubeamtin und eine 16jährige Klavierspielerin von einem belgischen Feld webel und einem belgischen Soldaten überfallen und vergewaltigt. Die beiden Soldaten konnten fest- gestellt und verhaftet werden. Rüdesheim, 13. September. (Eig. Drahtber.) In einer Anzahl von Gemeinden im Rheingau sind die Franzosen jetzt dazu Lbergegangen, die Kartoffeläcker mit der ganzen Ernte zu beschlagnahmen. Die Kartof feln sollen zur Ernährung der Truppen dienen. Aushungerung in Rauxel. Zn Rauxel haben die Franzosen ein großes Lebensmittellager sowie die großen Lebensmittelge schäfte geschlossen und die Waren beschlagnahmt und da mit die Ernährung der Beamten- und Ar beiterschaft unterbunden. Sämtliche Lebens mittelverkäufer mit ihren Familien haben Auswei sungsbefehl erhalten. Den Arbeitern wurde be fohlen, die niedergelegte Arbeit in den Gruben wieder auszunehmen. Hierzu haben sich nur wenige, meist pol nische Arbeiter, zur Verfügung gestellt. Severing dankt Der preußische Minister Les Innern spricht in einem Erlaß an die Beamten und an dieRedak - teure und Verleger Les besetzten Gebietes den Dank für Las rühmliche Ausharren im Abwehrkcrmpf aus mit der Hoffnung auf Las ungeschwächte weitere Verharren im Abwehrwillen. Politische Tagesschau. Rücktritt der thüringischen Regierung. In der letzten Landtagssitzung stand der Mißtrauens antrag der bürgerlichen Parteien und der Mißbilligungs antrag der Kommunisten zur Beratung. Der Antrag der Verschlungene Wege. Roman von Walter Burkhardt. i. Fortsetzung. (Nachdruck verboten.) Frau Hortense, die zu ihrer Bedienung eine sehr an spruchsvolle französische Zofe und zu ihrer Freude einen noch anspruchsvolleren Mops mitbrachte, stellte die ganze Hausordnung auf den Kopf, indem sie bis gegen Mit tag schlief. Während dieser Zeit trieben die drei Kinder, mun tere lustige Knaben, ihr Unwesen, trotz aller Bitten des Hauslehrers und der Drohungen ihrer englischen Pfle gerin. Sie taten, was alle Kinder gern tun: verschlepp ten ihr Spielzeug, machten alle Korridore unsicher, be drohten Spiegel und Fensterschebien mit ihren Bällen und nahnren es nicht so genau mit Tintenflecken hier und dort. Der Vater dieser hoffnungsvollen Sprößlinge aber schloß sich halbe und ganze Tage lang mit seinem Sekre tär ein. Als Abgeordneter eines liberalen Wahlkreises und ^Sekretär des Handelsministeriums hatte er fort während zu arbeiten. Depeschen zu lesen und abzusenden. Er konnte nur wenig seiner kostbaren Zeit der Gesell- schäft seines alten Vaters widmen. Wer wollte es dem an Ruhe und Regelmäßigkeit gewöhnten Herrn von Rühling verargen, daß er jedes- mal aufatmete, wenn sein Weihnachtsbesuch wieder ab gereist war! Er erkannte die Vorzüge seines Sohnes voll an. Richard hatte eine gute Karriere und durch seine Heirat eine brillante Partie gemacht; er durfte stotz auf ihn sein. Das war er denn auch; aber sonst gab es zwischen Vater und Sohn wenig Bande, die sie vvemander fesselten. Wenn Richard nach Räcknitz kam, hatte er eine unangenehme Art, überall Fehler und Nach lässigkeiten zu wittern, Verbesserungen vorzuschlagen, überall Uebelstände ab stellen zu wollen, von welchen er nicht begriff, wie sein Vater sie dulden konnte. Der alte Herr hing aber an seinen alten Gewöhn- heiten und Einrichtungen. So kam es, daß Vater und Sohn sich nie reckt verstanden; sie wurden nicht warm miteinander und treimten sich ohne großes Bedauern. „Was wird Richard dazu sagen, daß ich Hermione aufnehme?" Dieser Gedanke beunruhigte ihn einigermaßen. Er kannte die Ansichten seines Sohnes genau, wußte, daß dieser die Achsel zucken und von „der großen Unklug- heit" sprechen würde, die darin lag, dem „unbekannten Mädchen" eine Heimstätte zu bieten. Und doch, wenn das Kind am Abend ankam, konnte man es unmöglich von der Tür weisen. Selbst Richard würde das nicht tun. Das Schicksal mußte seinen Gang gehen; es war keine Zeit zum Ueberiegen geblieben, und offen gestanden, war er zufrieden damit. Ruhelos ging er während dieses endlos langen Tages umher, wieder in Gedanken die Zukunft ausmalrnd. Wie wird es sein und werden. Wie alt ist Hermione eigentlich? Braucht sie noch Lehrer und Erzieherin? Viel leicht ist sie schon eine erwachsene junge Dame, die Zer streuung und unterhaltende Gesellschaft wünscht? O. welch unangenehme Aussicht eröffnet sich da vor den ent setzten Augen des alten Herrn: Bälle mitmachen und geben! Ueberhaupt sind junge Mädchen ja unberechen bar! „Du ladest da eine schwere Verantwortung auf dich!" grollte eine Stimme. „Du bereitest deinem Alter eine süße Freude", flüsterte eine andere. Und die Stun den schlichen langsam, langsam dahin. Endlich übertönte das Nollen des Wagens büoe Stimmen, und Herr von Rühling konnte seiner Enkelin entgegengehen. Ein schlankes, zierliches Persönchen stand vor ihm. Tiefblaue, wunderschöne Augen leuchteten aus dem lieb lichen blassen Gesichtchen. „Keine Spur von Ähnlichkeit mit Walter", dachte Herr von Rühling in großer Enttäuschung. Als sie dann aber die ersten Worte sprach, da jubelte das Herz des alten Mannes auf: dieser weiche, metallene Klang, ja, den kannte er, das war die Stimme seines Kindes! „Kannst du mir verzeihen, Großpapa, daß ich ge- kommen bin? Und willst du mir eine Heimat geben?" Er küßte sie auf die Stirn, und seine Stimme zit- terte, als er antwortete: „Schon lange sollte dieses Haus deine Heimat sein, mein Kind." „So lange meine Mutter lebte, gehörte ich zu ihr, jetzt aber habe ich sie verloren", antwortete sie schnell. „Du mußt nun allen Kummer vergessen", tröstete sie der alte Herr. „Ein neues Leben beginnt für dich, mein Kind." Da glänzte es seltsam in den Augen des jungen Mädchens auf, große Tränen zitterten an den langen Wimpern. „Ein neues Leben — ja, Großpapa, das muß und werde ich beginnen. Aber niemals werde ich Leid und Freude des vergangenen Lebens, niemals meine ge liebte Mutter vergessen. Sie war die beste, die edelste Frau, die je auf Erden lebte." (Fortsetzung folgt.)