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An das deutsche Volk! Der Reichspräsident Ebert erließ am versassungstage folgenden Aufruf an das deut sche Volk: In schwerer Bedrängnis rückblickend auf ein Jahr des Leidens und Duldens, vorwärts- schauend in dunkelverhangene Zukunft, begeht heute Deutschland seinen Verfassungstag. Jeder von uns kennt das ungeheure Ausmaß unserer Not und Bitterkeit. Und dennoch: Wir wollen den besonderen Sinn die ses Tages nicht vergessen. Das deutsche Volk hat sich seine Verfassung gegeben, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuen und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesell schaftlichen Fortschritt zu fördern. Diesen Willen wollen wir heute aufs neue bekunden und be kräftigen. Gerade auf den Tag sind heute siebenMonate vergangen, seit Franzosen und Belgier in unser Land eingebrochen sind. Sie haben unsere fleißige Arbeit stillgelegt, schuldlose Menschen, jung und alt, verjagt, ge peinigt, gemartert und getötet. Sie haben unser red liches Bemühen, Unerfüllbares erfüllbar zu machen, in tiefe Erbitterung verwandelt. Etwas Gutes für sich und für Europa haben sie nicht er reicht. Es sei denn, daß sie dies eine erreicht haben: Nie noch so felsenfest, nie noch so innigen Glaubens wie jetzt sind wir Deutsche unserer Stammeszugehörigkeit uns bewußt geworden. Unglückverbindet. Mannes faust schlägt ein in Mannesfaust, Frauenhand faßt Frauenhand: Deutsch sind wir und deutsch wollen wir bleiben! Wir blicken vergeblich in die Ferne, Schutz und Hilfe kommen von dort. Die Begeisterung für das Recht scheint draußen schlafen gegangen zu sein. Wo sie wach ist, fällt sie willkürlicher Gewalt nicht in den frevelnden Arm. Wir müssen uns selber helfen. Am Sonntag nachmittag hat Reichskanzler Dr. Luno dem Reichspräsidenten die Demission des Reichskabinetts mit folgendem Schreiben an- aezeigt: „Herr Präsident! Als ich Ihrem Rufe folgend die Leitung der Regierung übernahm, gab ich der Ueber- zeugung Ausdruck, daß angesichts des Ernstes der uns bevorstehenden Zeiten nur eine völlig einheitliche Zu sammenfassung aller Kräfte Deutschlands vor schwerem Unheil bewahren werde. Während der seitdem ver strichenen fast neun Monate ließ ich mich bei der Führung der Politik stets von dem Bestreben leiten, der Verwirklichung jener Zusammen fassung aller Kräfte den Weg zu ebnen. In der Tat haben die Grundlagen der auswärtigen Politik der Reichsregierung, hat ihre Stellung im Ruhr gebiet und am Rhein, haben wichtigste wirtschaftliche und steuerliche Maßnahmen, wie unlängst das Gesetz zur Sicherung der Brotversorgung, die eben verabschiedeten Steuergesetze und die Aktion der wertbeständigen An leihe die Zustimmung aller den Staats gedanken bejahenden Kräfte gefunden. Der Wille der Nation, sich im Kampfe um Leben und Freiheit zu behaupten, kam darin zum klaren und ein mütigen Ausdruck. Aus der Entwicklung der letzten Tage habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß nach einer in weiten Kreisen der berufenen Vertretung des Volkes vorherrschenden Ansicht der entschlossene Wille zur Selbstbehauptung nochstärker und nochnach - drücklicher durch eine Regierung verkörpert würde, die von einer Koalition großer Parteien gebildet und damit von einer starken, festen Mehrheit des Reichstags getragen ist. Ich bitte daher, Herr Reichspräsident, mein Amt und die Aemter der Herren Deutsche an Rhein, Ruhr und Saar: Ihr seid uns ein Beispiel, das uns immer wieder erheben soll. Ver zagt nicht: Noch nie hat ein Sieger im Rausche seiner Macht Recht behalten. Das lehrt die Weltgeschichte. Deutsche an allen freien Strömen des Vaterlandes: Laßt Euch nicht von Kleinmut niederdrücken und von Selbstsucht leiten. Für Genußsucht und Luxus läßt die Not des Volkes keinen Raum; fort daher mit all den häßlichen, heute besonders ver ächtlichen, die Darbenden aufreizenden Erscheinungen gedankenlosen Taumels. Seid Euch stets bewußt, daß der Kampf um Rhein und Euhr auch von Euch ge steigerte Opferkraft, daß die Not der Stunde von allen Gliedern unseres Volkes selbstlose und große Leistungen verlangt! Regierung und Reichstag sollen Mut und Tatkraft zeigen und Ent schlüsse finden, um durch eigene Kraftanstren gungen die Not dieser Tage zu meistern. Verzehrt Euch nicht in Zwietracht, im Kampf der Sonderinter essen, in Markten und Feilschen, sondern helft! Für Eure Brüder und Schwestern an Rhein und Ruhr ist heute eine große Sammlung vorbereitet. Gebt auch hier mit vollen Händen. Bedenkt, daß mit Geld wenig stens um ein Geringes unseren gequälten Volks genossen geholfen werden kann. Deutsche, laßt das Ergebnis dieses Tages mitten in der Not ein unerschüt terliches Bekenntnis sein, ein Bekenntnis zum einigen, unteilbaren, der Zukunft trotz allem ungebeugt ent gegengehenden Deutschen Reiche, zur deutschen Republik. Das deutsche Volk hat in seiner harten Geschichte schwerere Zeiten bestanden; es wird auch diese trüben Stunden überwinden, wennesstandhaftbleibt in treuem Zusammenhalten, in ZGe- § meinsinn, Ordnung, Arbeit und Opfer willigkeit. Reichsminister in Ihre Hände zurücklegen zu dürfen. Mit der Versicherung aufrichtigster Hochachtung bin ich Herr Präsident Ihr Ihnen sehr ergebener Cuno." Der Rücktritt des Cuno-Kabinetts kommt insofern überraschender, weil man seine Stellung nach dem Ver lauf der letzten bedeutsamen Reichstagssttzungen als be festigt ansah, denn neben der bürgerlichen Arbeits gemeinschaft stellte sich auch die überwiegende Mehrheit, der Vereinigten Sozialdemokratie hinter das innen politische Programm der Regierung. Bezeichnend ist es nun, daß die Reichst« gsfraktion der So zialdemokraten am Sonnabend nachmittag nach mehrstündiger Debatte folgenden Mißtrauensbeschluß gegen Cuno mit großer Mehrheit annahm: „Die Fraktion hält angesichts der schweren außen- und innenpolitischen Situation eine vom Vertrauen der breiten Massen mitgetragene und unter stützte Regierung, die stärker ist als die gegenwärtige, für notwendig. Sie hat zur Regierung Cuno nicht das Vertrauen, diesen Voraussetzungen zu genügen. Eine von der Sozialdemokratie zu Unter st ü tz e n d e R e g i e r u n g ist auf folgender Grundlage zu bilden: Energische Durchführung der beschlossenen Finanz maßnahmen. Durchgreifende Finanzreform auf Grundlage der Heranziehung der Wirtschaft mit garantierter Belastung ihrer Sachwerte. Währungsreform; schleunige Eindämmung der In flation, Goldkredite, Vorbereitung der Goldwährung. Loslösung der Reichswehr von allen illegalen Orga nisationen. Außenpolitische Aktivität zur Lösung der Repara tionsfrage unter voller Wahrung der Einheit der Nation und der Souveränität der deutschen Republik. Antrag auf Anmeldung zum Völkerbund." Der Rücktrittsentschluß des Reichskanzlers ist im wesentlichen auf obige Entscheidung der sozialdemokra tischen Reichstagsfraktion zurückzuführen. Die Tatsache, daß die sozialdemokratische Reichstagsfraktion zum Ausdruck gebracht hat, daß das Kabinett Cuno kaum in der Lage sein werde, die Volksmassen hinter sich zu ziehen, mußte ohne weiteres den Gedanken herbeifllhren, daß bei den außerordentlichen Schwierigkeiten der Lage ein stärkeres Kabinett notwendig sei. Dieser Beschluß hat auf Dr. Cuno einen großen Eindruck gemacht. Der neue Mann: Stresemann. Aus Berlin wird gemeldet: Der Reichspräsident beauftragte den Abgeordneten Dr. S t r e s e m a n n mit der Neubildung des Kabinetts. Dr. Strese mann hat den Auftrag angenommen und wird ver suchen, auf der Grundlage der großen Koalition die Regierung zu bilden. Bezüglich des Programms der neuen Regierung Stresemann glaubt man in parlamentarischen Kreisen, daß die Forderungen der Sozialdemokratie, die ja in wesentlichen Punkten auch Forderungen der Parteien der Arbeitsgemeinschaft sind, im einzelnen verschiedene Etnschränkungen bzw. Abänderungen erfahren werden. Als völlig feststehend gilt es, und damit hat sich die Sozialdemokratie in den bisherigen Verhandlungen ausdrücklich einverstanden erklärt, daß der außen politische Kurs der Regierung Cuno beibe- halten wird. Der passive Wider st and gegen den Einbruch ins Ruhrgebiet wird nicht nur fortgesetzt, sondern noch verstärkt werden. Die Verfassungsfeier im Reichstag. Zu der Verfassungsfeier im Reichstag hatte vor dem Reichstagsgebäude eine Ehrenkompagnie der Reichswehr Aufstellung genommen. Um V-12 Uhr betrat der Reichspräsident, nachdem er die Ehren kompagnie abgeschritten hatte, in Begleitung des Reichs- Ministers des Innern, des preußischen Ministerpräsiden ten, des Vizepräsidenten des Reichstages und des frü heren Ministers Preuß, des Schöpfers des Entwurfs der Reichsverfassung, die Mittelloge, während die Ver sammelten sich erhoben. Nach dem Vortrag der Hymne „Hör' unser Gott" durch den Berliner Lehrergesangverein, führte Pro fessor Dr. Gerhard An schütz, Rektor der Uni versität Heidelberg, u. a. aus: Diese Feiern sollen dankbare Freude daran erwecken, daß wir in all un serem Unglück noch ein letztes Gut besitzen: eine staat liche Organisation unserer nationalen Einheit, unser Reich. Wir feiern die Weimarer Verfassung nicht um ihrer selbst willen, sondern um ihrer Bedeutung für die nationale Einheit Deutschlands willen. Die Demokratie ist nicht unnational, Demokratie und Nationalismus sind keine Gegensätze, sondern Kinder eines Geistes. Der Nationa lismus will die Einheit des Volkes Herstellen in dem Bewußtsein des Volkes. Die Demokratie will sich be stätigen in dem Willen des Volkes. , Sodann führte Oberbürgermeister Dr. Zar res- Duisburg, Präsident des Rheinischen Provinziallandtages, u. a. aus: Wir waren und sind bereit, den uns auf- gezwungenen Gewaltfricden im Rahmen des irgend Mög lichen zu erfüllen, aber das deutsche Volk ertrug einen Gewaltakt nicht, der an die Stelle vernünftiger noch heute möglicher Verständigung die Folterpresse setzte. Deutschland steht unverkennbar, aber nicht unrettbar am Rande des Ruins, zweifellos aber hinter uns auch die Wirtschaft und Sicherheit Europas und der Welt auf dem Wege zum Abgrund. Nicht straflos und ungerächt wird ein starkes und fruchtbares Glied der Völkerge meinschaft verstoßen. Ms Rheinländer bekenne ich und Wertbeständige Löhne; wertbeständige, hinreichend erhöhte Sozialrenten und Erwerbslosenunterstützungen. Das Reichskabinett zurückgetreten. Eine von der Soziaidemokratie zu unterstützende Negierung soll gebildet werden st Schicksalswende. Roman von A. Seifert. 8L Fortsetzung. (Nachdruck verboten.) Nur ein paar Minuten lang schwankte er. Dann war sein Entschluß gefaßt. Er wollte trotzdem reisen. Er war nach wie vor willens, Almida ihr Recht zu verschaffen. Sein Argwohn, daß Franz Harnisch ein schweres Unrecht, ja ein Verbrechen begangen, kam nicht zur Ruhe. Er liebte Almida, und seine Pflicht war es, für sie zu retten, was zu retten war. 15. Kapitel. In jener Zeit, nachdem Franz Harnisch sein Mil lionenerbe angetreten, war er kaum zur Besinnung ge kommen. Ein Rausch hatte ihn erfaßt, der ihn in einen tollen Wirbel von Sehnsüchten und maßlosem Verlangen nach allen erdenklichen Genüssen Hineinriß. Zu bitter hatte er das Gebundensein, den Arbeits zwang, die Notwendigkeit, sich jeden kostspieligen Wunsch zu versagen, empfunden. Sein Gewissen war betäubt, die Selbstvorwürfe schwiegen. Er schwelgte. Er machte Pläne. Und wie so mancher in seiner Lage, mußte auch er die Erfahrung machen, daß im Plänemachen ein weit aus größeres Glück liegt, als im Genuß selbst. Er kam überhaupt zu keinem ordentlichen Genuß. Es war ein stetes Kämpfen in ihm. Früher gab er im Leichtsinn, ohne zu überlegen, Tausende aus. jetzt be sann er sich endlos. Denn er wollte wohl seinen Reichtum genießen, ihn aker nicht verschwenden, nicht erst in die Gefahr kom men, ein Schlemmer und Verprasser zu werden. Nein, das wollte er gewiß nicht. Das große, herrliche Ver mögen sollte nicht durch ihn vergeudet werden. Er war auf der Hut vor seinen Leidenschaften. Das mußte er. Denn er kannte sich. Hätte er nur ein mal die Zügel des festen Willens locker gelassen, so hätte es kein Halten für ihn gegeben, so wäre er verloren ge wesen. Seine Verwegenheit hatte über das Schicksal, über das. was sein Oheim beabsichtigt, den Sieg davon- aetragen? Er war der Erbs, war angesehen, durfte befehlen, über seine Zeit nach eigenem Belieben verfügen. Zu diesem berauschenden Bewußtsein gesellte sich bei Franz der Ehrgeiz. Der Eeschäsisapparat. den sein verstorbener Oheim zu einer vorbildlichen Vollendung ausgebaut, sollte auf dieser vollkommenen Höhe erhalten werden. Vertrauenswürdiges, tadellos eingearbeitetes Per sonal würde dafür Sarge tragen. Und nur einen Vorzug wollte Franz in vollen Zügen genießen. Er wollte keine Arbeitslast auf sich nehmen, keine bestimmten Vurea »stunden .innehalten. Mit dem Glockenschlag, wie sein Oheim es getan, im Bureau zu erscheinen, dann die vielen Fäden des Geschäftsbetriebes mit eigener Anstrengung zu leiten, dazu verspürte er nicht die geringste Lust. Ein freier Mensch wollte er sein, kein geschäftlicher Druck sollte auf ihm lasten, keine geschäftliche Verpflich tung ihn einengen: denn dazu waren ia seine Leute da, sein gut bezahltes, geschultes Personal! Daß Müßiggang aller Laster Anfang ist, und daß in der Arbeit ein unbegrenzter Segen, das höchste Glück ruht, wollte er sich nicht eingestehen. Arbeiten wollte und mochte er nicht.- Dabei bedachte er nicht, daß auch der allertreueste Beamte den Herrn, den Chef nicht er setzen kann. Er war erstaunt, wie unendlich lang solch ein Vor mittag sich ausdehnte. Früher waren die Stunden im Fluge gegangen. Jetzt schien die Zeit oft stillzustehen. Er unternahm weite Spazierritte: nach wenigen Tagen langweilten sie ihn. Er suchte die Gesellschaft von Sportsleuten. Aber auch sie strengten ihre Körper kraft bis zur äußersten Grenze an. Sie trainierten sich, stählten die Nerven und hatten nur Sinn für den Sport, den sie betrieben. Er suchte Anschluß an die Lebewelt. Aber dort mutete ihn alles so fade u. öde an, daß es ihn nicht lockte. Auch gab es dort zu viele Elemente, welche auf seine wohlgefiillte Börse spekulierten. Auch damit war es nichts. Er fühlte sich vereinsamt. Die Gedanken kamen, die dunkl en, murrenden, vorwurfsvollen: gleich WW len spülten sie heran anfangs flüsternd, raunend, kaum sich bemerkbar machens, dann düsterer, bewegter »ut bald rollend, alles überflutend, wie vom Sturm gesaa Die Reue machte Franz schwer zu schaffen. Er wehrte ihr. dann sann er auf Mittel, sie zu verscheuchen, er wollte sich sein Leben durch sie nicht verdüstern lassen. Aber die Bilder, die ihn jetzt peinigten, rückten mit je dem Tag deutlicher und! klarer aus der Vergangenheit herauf. Franz sah oft den flehenden, schmerzerfüllten Blick seines sterbenden Oheims auf sich gerichtet, vernahm seine heisere, fast gebrochene Stimme zu jeder Tages zeit, sie riß ihn sogar aus dem kurzen Schlaf, den er ge wöhnlich erst gegen Morgen sand. (Fortsetzung folgt.)