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Die Stimmung Es ist natürlich, daß man im Ruhrgebiet die Londoner Verhandlungen mit ganz besonderem Interesse verfolgt, da von ihrem Ausgang das nächste Schicksal in ganz besonderem Matze abhängig ist. Noch bis vor wenigen Tagen war die Stimmung in der Bevölkerung ziemlich allgemein hoffnungsvoll. Unter dem Eindruck der letzten Londoner Meldungen aber ist sieinstarkeNiedergeschlagenheit umgeschla gen. Der Korrespondent der Telunion nahm Gelegen heit, sich mit Angehörigen aller Vevölkerungskreise, mit führenden Wirtschaftlern, Gewerkschaftsführern usw. bis zum einfachen Mann auf der Stratze, über den Eindruck zu unterhalten, den die Nachricht von der Hinausschie bung der Räumung des Ruhrgebietes hier gemacht hat. Als Ergebnis dieser Umfrage ist zu betonen, bah man in der Räumung den Kernpunkt der ganzen Konferenz und des Dawesgutachtens sieht, daß die Haltung Herriots, die sich in keiner Weise von dem Standpunkt Poincares unterscheidet, mit starker Enttäuschung und Entrüstung gekennzeichnet wird. Allgemein ist man der Ansicht, datz es ganz ausgeschlossen ist, datz die Reichsregierung einer Lösung zustimmen könnte, die die militärische Räumung, die von der wirt schaftlichen nicht zu trennen ist, bis um zwei Jahre hin ausschiebt, zumal in London von den sogenannten Sank tionsstädten Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort anschei nend überhaupt nicht die Rede ist. Gerade weil die Presse des Reviers unter dem nach wie vor autzerordent- lich scharfen Zensurdruck der Militärbehörden nicht in der Lage ist, ihrer Ansicht Ausdruck zu geben, mutz betont werden, datz d a s R u h r g e b i e t e r wa r t e t, datz die deutsche Regierung alles aufbietet, um eine schnelle Räumung durchzusetzen und datz sie keinen Trumpf aus der Hand gibt für das blotze Versprechen einer Räu mung zu einem späteren Zeitpunkt, da sich inzwischen durch die Franzosen leicht ein Zwischenfall provozieren lätzt, der den Vorwand zur Verwirklichung der Besetzung bieten könnte. Englischer Gegenvorschlag zur Räumung Nach dem Londoner Berichterstatter des „Quotidieu" scheint man in gewissen englischen Kreisen geneigt zu sein, Frankreich und Belgien folgendes Kompromiss vor- zuschlagen: Falls die Besatzungsmächte bereit wären, ihre mili tärische Besetzung der Ruhr in spätestens einem Jahr zu beendigen, gerechnet vom Tage des Inkraft tretens des Sachverständigenplanes an, so würi^ dafür die englische Regierung ihrerseits sich damit einverstan den erklären, die militärische Besetzung der Kölner Zone bis zur Zurückziehung der französisch-belgischen Truppen aus dem Ruhrgebiet aufrecht zuer- halten. Direkte Verhandlungen mit Frankreich? Berlin, 1. Tjugust. (Eigene DralMieldung.) Zn den unterrichteten diplomatischen Kreisen verlautet, datz die Frage der militärischen Räumung des Ruhrgebietes fast ausschließlich auf dem Wege direkter Verhandlungen zwischen der deutschen Delegation und den französisch- belgischen Delegierten geregelt werden soll, so datz die Reichsregierung für die Londoner Konferenz neuerliche Dispositionen zu treffen haben wird. Die vorge sehenen Erörterungen mit Frankreich gehen nach Auf fassung der Berliner Regierungskreise weit über den Fragenkomplex der Londoner Konferenz hinaus. Trotz dem wird jedoch eine völlige Trennung dieser Fragen von den Beratungen über das Sachverständigengutachten nicht wahrscheinlich sein, da man deutscherseits die Auf fassung vertritt, datz die militärische Räumungsfragc in engsten Zusammenhang mit den technischen Einzelsragen der Durchführung des Gutachtens gebracht werden mutz. Tumult im französischen Senat. Zurücklegung des Amnestieentwurfs der Kammer. Der französische Senat hat am Mittwoch nach Be ginn der Sitzung eine Vorlage angenommen, wonach die Regierung nach eigenem Ermessen von ihrem Begnadigungsrecht Gebrauch machen kann. Der von der Kammer angenommene Amnestie entwurf ist vom Senat zurückgelegt worden. Die erzielte Lösung ist also nur eine vorläufige, falls die Kammer überhaupt ihre Zustimmung geben sollte. Als der Sena tor D e Mansier, der für das Amnestiegesetz sprach, auf den Fall Caillaux zu sprechen kam, wurden ihm von einem Senator der Rechten die Worte zugerufen: „Ihnen sitzt die Liebe zu den Boches im Herzen!" Es ent stand ein ungeheurerTumult. Ein anderer Se nator rief dazwischen: Das ist die ärgste Beschimpfung die einem Senator je zuteil geworden ist. Die Sitzung wurde unterbrochen. Der Prä sident begegnete den Vorwürfen, die ihm von seilen ver schiedener Senatoren gemacht wurden, mit der Begeg nung, datz er die beleidigenden Ausrufe nicht vernom men' habe und den Redner deshalb nicht zur Ordnung rufen konnte. Dies geschah bei Wiederaufnahme der Sitzung. Eine Entschließung der Senatsvpposition. Die republikanische Linke, wie sich die R e ch t e des Senats nennt, hat nach einer Debatte über dieaußen- politische Lage folgende Entschließung angenom men: Die Fraktion zählt darauf, datz die Regierung es versteht, die Rechte Frankreichs aufrechtzuerhalten und seine Interessen zu verteidigen auf der Grundlage im Ruhrgebiet. ! der bestehenden Verträge, die in ihrer Gesamtheit auf- ! rechterhalten werden müssen. Einigung mit der Mieum. Verlängerung der Verträge bis zum Inkrafttreten des Sachverständigengutachtens. — Ermäßigung der Ab- gabegebühren. Am Donnerstag wurde von der Sechserkommission und der Micum das bisherige Abkommen mit folgender Abänderung verlängert: 1. Das neue Abkommen gilt bis zu dem Zeitpunkt, der durch den im Sachverständigengutachten vorgesehe nen Neparationszahlungsagenten bestimmt werden wird. Indessen kann die Sechserkommission vom 15. August ab den Vertrag mit fünftägiger Frist kün digen. 2. Die Aus- und Einfuhrabgabe sowie die Zu- und Ab- laufgebühren, die im Juli in Kraft waren, werden vom 1. August ab auf die Hälfte herabgesetzt. 3. Die laufenden Kohlensteuern werden vom 1. August auf 25 Pfennig ermäßigt. 4. Um den Absatzschwierigkeiten, unter denen die Zechen im Monat Juli zu leiden hatten, Rechnung zu tragen, wird die Kohlensteuer für diesen Monat auf 5V Pfennig ermäßigt. Vom Ruhrkohlenbergbau wird uns hierzu geschrie ben: Bei den Verhandlungen über die Micumverträge spielte wiederum die Frage einer Entschädigung an die Zechen für gelieferte Reparations kohle die erste Rolle. Auf französischer Seite wünscht man eine Verlängerung der Juniabmachungen, da nach der dort vertretenen Auffassung die Reparationsfrage in absehbarer Zeit überhaupt eine Erledigung finden werde. Die Zechen haben sich an die Regierung gewandt, um Vorschläge auf die Neulieferungen zu er halten, nachdem das Reich Anfang Juli schon einmal um diesen Vorschutz angegangen worden war, sich aber ablehnend verhalten hatte, was dann die Kündigung des Abkommens durch den Sechserausschutz zur Folge hatte. Bezüglich der Frage der Umänderung des Nuhrkohlensyndikats ist ebenfalls in Aussicht genommen worden, den Syndikatsvertrag für ein bis zwei Monate provisorisch auf der bisherigen Grundlage zu verlängern, um Zeit für weitere Verhandlungen zur Erweiterung der Abmachungen zu gewinnen. Die Zechen, die dem Syndikat nur zum Teil angehören, vertreten die Auffassung, datz derAusfallderVerhand'- lungen in London speziell über die Reparations frage, soweit dabei die Ruhrkohle in Betracht kommt, auf die künftige Gestaltung der Verhältnisse der Nuhrzechen zu dem Syndikat von besonderer Bedeutung sein wird. Russische Beweise sür den französischen Kriegswillen. Anläßlich des zehnten Jahrestages des Kriegsbe ginns veröffentlichen die Moskauer „Jswestija" einen Ar tikel von Prof. Adamoff, in dem letzterer aus Grund einer Reihe historischer Dokumente beweist, datz Poin- cars und Millerand schon am Ende des Jahres- 1,912 versuchten, den Weltkrieg zu entfes seln. Sie forderten damals Ruhland auf, die Feind seligkeiten gegen Oesterreich zu beginnen, angeblich um Serbien zu Hilfe zu kommen, in der Tat aber, um Frank reich die Möglichkeit zu geben, zusammen mit Rußland und England den Kampf gegen Deutschland und Oester reich zu beginnen. Adamoss führt in seinem Artikel den Briefwechsel und die Unterredungen Poincaros mit dem damaligen russischen Botschafter Iswolski an, der die kategorischen Forderungen Poincarss vor der russischen Regierung unterstützte. Adamoff veröffentlicht zum ersten Male den Bericht des mi.itärischen Agenten Jgnatieff über eine Unterredung mit dem Kriegsminister Mille rand am 18. Dezember 1912; aus eine Erklärung Jgna- tiefss, Rußland wünsche nicht, den europäischen Krieg her vorzurufen, meinte Millerand: „das ist natürlich eure Sache, ihr müßt aber wissen, daß wir zum Kriege bereit sind, und das muß berücksichtigt werden." Ada moff kommt zur Schlußfolgerung, daß, wenn die Zaren regierung den Ratschlägen, die von Poincaro und Mille rand ausgingen, gefolgt wäre, der Weltkrieg im Jahre 1912 anstatt 1914 ausgebrochen wäre. Revidiertes Urteil über die Kriegsschuld Deutschland kommt erst in vierter Linie in Betracht. Pros. Barnes, einer der gründlichsten Gelehrten auf dem Gebiete historischer Forschungen, der weder in seinen Studien noch in persönlichen Dingen irgendwelche Beziehungen zu Deutschland oder Oesterreich hatte, und der während des Krieges durchaus proenglisch und pro französisch war, veröffentlicht im „Current History Maga- cine" in einer Abhandlung über die Schuld am Weltkriege eine Urteilsrevision auf Grund aller jetzt vorliegenden Dokumente. Er kommt zu dem Schluß, daß sich die Behauptung nicht aufrechterhalten lasse, wonach Deutschland die Alleinschuld am Welt kriege zuzuschreiben sei. Die Schuld treffe die beteiligten Staaten der Reihe nach wie folgt: Oesterreich, Rußlands Frankreich, Deutschland und England. Deutschland käme hiernach erst in vierter Linie. Jehn Jahre Weltgeschichte. August 1914—1924. Zwischen der Londoner Konferenz, auf der jetzt unter unsäglichen Schwierigkeiten eine Lösung zur Siche rung des europäischen Friedens gefunden werden soll und dem 1. August 1924, dem zehnten Jahrestag des Ausbruches des Weltkrieges, besteht ein unmittelbarer Zusammenhang, den hoffentlich die in London versam melten Staatsmänner begreifen werden, um der euro päischen Politik eine Entwicklung zu geben, die aus den Gefahren eines neuen Krieges heraussührt. Die furcht baren Folgen des Weltkrieges sind noch immer nicht überwunden, und wenn die europäischen Staatsmänner nicht die wirklichen Ursachen der Zerrüttung Europas erkennen werden, so wird sich das entsetzliche Unglück, das vor zehn Jahren über Europa hereinbrach, in nicht allzu ferner Zukunft in irgendeiner Form wiederholen müssen. Der Versailler Frisdensvertrag hat die Kon fliktstoffe Haufenfach vergrößert, anstatt sie zu beseitigen. Er hat eine Nation gegen die andere ausgespielt und kaum ein Land in ganz Europa voll befriedigen können, nicht einmal Frankreich, das sich heute vielleicht in einer Lage befindet, die viel gefährlicher ist als die kritischen Tage von 1914, wo es sich angeblich von einem mili tärisch gerüsteten Deutschland bedroht glaubte. Wenn Herriot die historischen Zusammenhänge zwischen dein i. August 1914 und dem 1. August 1924 richtig zu er gründen weiß, dann mutz ihm klar werden, datz Frank reich heute isoliert dasteht und Gefahr läuft, finanziell und wirtschaftlich von der ganzen Welt boykottiert zu werden. Auf der Londoner Konferenz zeigt es sich, dos! für die Forderungen Frankreichs außer Belgien kein einziges Land irgendwelches Verständnis besitzt und die Fortsetzung der französischen Politik überall schroff ab gelehnt wird. Herriot mutz erkennen gelernt haben, dos, die Zeiten endgültig vorbei sind, wo Frankreich sich in seiner Feindschaft gegen Deutschland von der halben Welt unterstützt wußte, und es kann ihm auch nicht ent gangen sein, datz dieselben Mächte, die 1914 nicht schnell an die Seite Frankreichs treten konnten, heute einen ge schlossenen Block gegen die französische Politik bilden. Der Weltkrieg hat keinen der beteiligten Nationen irgendwelche Vorteile gebracht. Diejenigen Völker, die sich mit der Waffe in der Hand gegenllbergestanden ho ben, müssen heute noch unter den schweren Folgen des Krieges leiden. In England ist es nicht gelungen, die Katastrophe der Arbeitslosigkeit zu beheben, Frankreich mutz in der Hauptsache aus eigener Schuld eine schwere Finanzkrise durchmachen, Rußland ringt um seine nackte Existenz und Deutschland hat seinen Wohlstand ein- bützen müssen. Nur Amerika, das aus dem Kriege ein Dollargeschäft gemacht hat, befindet sich in einem ge radezu märchenhaften Eeldüberflutz, der es jetzt zwingt, sein Kapital in Europa anzulegen, damit es nicht gänz lich unverwertet auf den Banken liegt. Außer den rück sichtslosen amerikanischen Kapitalisten, an denen im Kriege zusammengeschacherten Geldern das Blut Hun derttausender deutscher Soldaten klebt, die mit amerika nischen Waffen und amerikanischer Munition getötet wurden, gibt es noch andere Kriegsgewinnler, und zwar sind das die Polen, die Tschechoslovaken und einige Val- kanstaaten. Diese gänzlich unbrauchbaren Staatengebilde haben sich wie wucherndes Sumpfgewächs zur üppigen Blüte entwickelt und bilden weiterhin eine ständige Kriegsgefahr für Europa. Man sollte wirklich anneh men, daß die furchtbaren Erfahrungen der letzten zehn Jahre das Gewissen der Völker aufgerüttelt hätten, uM mit der unsinnigen Gewaltpolitik zu brechen, aber del Geist der Unterdrückung feiert wahre Orgien und läßt die Stimme der Vernunft mit seinem lauten Geschrei nicht zu Gehör kommen. Wenn Herriot wirklich ein überzeugter Anhänger der Politik der Verständigung sein will, dann muß er aber auch die Tatsache anerkennen, datz der Deutschland aufgezwungene Friedensvertrag von Versailles ein st ungeheuerliches Unrecht ist, daß an diesem Unrecht sist das Schicksal Frankreichs erfüllen mutz, wenn er sich nicht beeilt, es wieder gutzumachen. Man hat Deutschland nicht nur Elsatz-Lothringen abgenommen, sondern man hält seine wichtigsten Gebiete militärisch besetzt. Rein deutsches Land, wie das Saargebiet, Ostoberschlesien, Teile Ostpreußens, Danzig, das Memelland usw. hat man gewaltsam vom deutschen Staatskörper losgelöst und es unter Fremdherrschaft gestellt. Man hat Deutsch land nicht nur völlig entwaffnet, sondern auch der rück sichtslosen Herrschaft der Gewalt dadurch die Krone auf gesetzt, datz man mit Truppenmacht in friedliches deut sches Land eindrang und die Bevölkerung dem Terror einer farbigen Soldateska aussetzte. Der Einbruch i" das Ruhrgebiet ist eine blutende Wunde am deutschen Volkskörper, die nicht eher heilen kann, als bis der letzte französische und belgische Soldat zurückgezogeu worden ist. Herriot sträubt sich jetzt in London, die erforder lichen Zugeständnisse zu machen, damit auf der Grund lage des Sachverständigengutachtens eine vorläufige Lö sung des Reparationsproblems erfolgen kann. Glaubt er denn, datz er die von ihm geplante Politik der Ver ständigung auch nur einen Schritt vorwärts bringen kann, ohne dem deutschen Volk für die unerhörten Be leidigungen Genugtuung gegeben zu haben? Das deutsche Volk wünscht in seiner Mehrheit keinen neuen Krieg, aber die elementarsten Grundsätze der Logik zwin gen den Gedanken an ein derartiges Unheil ohne wei teres auf, wenn das an Deutschland begangene Unrecht nicht endlich wieder gutgemacht werden soll. Es wär' ein unverzeihlicher Irrtum, zu glauben, datz der durch den Versailler Vertrag geschaffene Zustand eine Grund lage für den Weltfrieden bildet. Das Gegenteil davon ist wahr! D e r V e r s a i l l e r V e r t r a g g i b t d e "> d c u t s ch c n V o l k e keine Möglichkeit, durch Arbeit und Friedfertigkeit einen wohl erworbenen Zu st and der Ruhe und des Wohlstandes zu erreichen. Er führt die voll ständige Verarmung einer Nation herbei, die als bemit- leidetste der ganzen Welt gelten darf, und von deren Wohlergehen nicht zuletzt auch das Wohlergehen der gon zen Welt abhängt. Cs ist eine Schmach für die Kultur, daß man immer noch glaubt, das deutsche Volk in seine" Rechten schmälern zu können, es ausbcuten zu müsse" und das Recht zur Zerstörung seiner Lebenskraft zu h" ben, nachdem eine zehnjährige Entwicklung gezeigt hab daß die europäischen Völker keine größere Pflicht aner kennen sollten, als den Wiederaufbau der furchtbare" Zerstörungen, die ein vierjähriger Krieg an der Lebens kraft der europäischen Nationen angerichtet hat.