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Ottendorfer Zeitung : 19.11.1922
- Erscheinungsdatum
- 1922-11-19
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Gemeinde Ottendorf-Okrilla
- Digitalisat
- Gemeinde Ottendorf-Okrilla
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1811457398-192211195
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1811457398-19221119
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1811457398-19221119
- Sammlungen
- LDP: Bestände der Gemeinde Ottendorf-Okrilla
- Zeitungen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Ottendorfer Zeitung
-
Jahr
1922
-
Monat
1922-11
- Tag 1922-11-19
-
Monat
1922-11
-
Jahr
1922
- Titel
- Ottendorfer Zeitung : 19.11.1922
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Nie DoekLeit in Doorn. Eine prunklose Feier. Jin Hause Doorn hat nunmehr die Vermählung des früheren Deutschen Kaisers mit der Prinzessin Hennins zu Schönaich-Carslath, geb. Prinzessin Reuß ä. L., statt gefunden. Die standesamtliche Trauung vMzog der Bürgermeister von Doorn, die kirchliche der frühere Pots damer Hosprediger Dr. Vogel. Als Trauzeugen waren zugegen vier holländische Herren und zwei in Holland ein gebürgerte Deutsche: der frühere Adjutant des Kaisers Hauptmann a. D. v. Jlsemann, der mit einer Tochter des Grafen Karl Bentingk-Zuylestein (der gleich falls als Trauzeuge fungierte) verheiratet ist, und der ehe malige Baltikumführer Gras v. d. Goltz, der jetzt in Arnheim lebt. Nach der Ziviltrauung, die in einem Vor- gebände des Schlosses stattfand, fuhr das Brautpaar in einem geschlossenen Auto, dessen Vorhänge herabgelassen waren, Zum Schloß selbst. In der Halle des Schlosses hatte sich eine kleine Schar von Gästen versammelt, unter ihnen der frühere Kronprinz, Prinz Eitel Friedrich, des Kaisers Bruder Prinz Heinrich, zwei Schwestern des Kaisers und mehrere Herren und Damen aus dem engeren Freundes- und Verwandtenkrcise des Braut paares. Dr. Vogel hatte der Traurcde den vom Kaiser selbst gewählten Text: „Run aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größcste unter ihnen" (1. Korinther 13, Vers 13) zugrunde gelegt. Er sprach in der Rede auch von der v e r st o r b e n,e n Kaiserin, die er als das Ideal der deutschen Hausfrau und Mutter bezeichnete. Das Volk habe ihren Tod als einen großen Verlnst empfunden, weit mehr aber noch ihr kaiserlicher Gemahl, der Trost im Leid, Geduld gegen Ver leumdung und inneren Sieg über allen Schmerz nur in einer neuen Liebe finden konnte. Leises Orgelspiel be gleitete den Ringwechsel. Die Gemeinde sang dann:, „So nimm denn meine Hände". Es folgte Gebet. Vaterunser, der Segen und zum Schluß der Choral: „Harre, meine Seele". Während des Nachspiels verließ das neu getraute Paar die Halle und nahm in einem Nebenzimmer die Glückwünsche des Hauspersonals und darauf die der Gäste und der Familie entgegen. Im Speisesaal, wo alles in Lila, der Lieblingsfarbe der Braut, gehalten war, wurde das Hochzeitsmahl serviert. Die Speisenfolge — Brühe in Tassen, MeinlachZ, Schinken in Cumberlandtunke, Geflügelauflauf, Römischer Punsch, Obst und Nachtisch — war auf einer Karte, die eine bunte Ansicht des Schlosses Doorn Zeigte, gedruckt. Nach dem ersten Gang erhob sich Prinz Heinrich zu einem Trinkspruch, in dem er die Braut zu ihrem Eintritt in die Hohenzollerufamilie beglückwünschte: er leerte sein Glas auf das Wohl „Seiner Majestät des Kaisers u n d I h r e r M a j e st ä t d e r K a i s e r i n !" Der Kaiser dankte mit wenigen Worten. Das Hochzeitsmahl dauerte kaum 45 Minuten, und fast alle Gäste haben bald nach Auf hebung der Tafel Schloß Doorn wieder verlassen. Die große Schar der Neugierigen, vor allem der Presse vertreter aus dem In- und Auslands, ist bei der Hochzeits feier kaum auf ihre Rechnung gekommen, da das Braut paar für alle diejenigen, welche nicht zu den Hochzeits- gästcn gehörten, so gut wie unsichtbar blieb. Der „große Hochzeitsfilm", der bereits in die ganze Welt verkauft ist, dürfte infolgedessen zum großen Teil mißglückt sein und nur Nebensächliches Wiedergaben. Einem eigens aus Lon don herübergekommeneu Flieger, der für die „Times" Schnellaufnahmen machen wollte, wurde iu Amsterdam das Weiterfliegen unmöglich gemacht, so daß auch diese „photographische Expedition" ein Reinfall war. AepÄrMonskrilis. Die Franzosen gegen Wirths Vorschläge. Die deutsche Regierung hat am 5. November nun auch die in Aussicht gestellten positiven Vorschläge in der Wäh- rungsfrage,. die man im Anschluß an die Denkschriften er wartete, den Delegierten der Reparationskommission über reicht. Diese Vorschläge werden amtlich zwar gcheim- tzehalten, aber cs verlautet, daß sie im wesentlichen auf die Forderung nach einer äußeren Anleihe hinauslanfen, die zur Stabilisierung der Mark dienen soll. Die Anleihe soll nach diesem Vorschlag 500 Millionen Goldmark betragen. Wie man aus den Kreisen der Berliner Ententedelegisrten hört, sind besonders von den Franzosen diese Vorschläge sehr ungünstig beurteilt wor best. Man steht also einer neuen kritischen Wendung in der Reparation sfrage gegen über, obwohl ein anderer Inhalt der deutschen Vorschläge kaum zu erwarten war. Es ist immer wieder betont wor den, daß alle inneren Maßnahmen in Deutschland allein niemals Sinn und Zweck haben können, wenn nicht das Ausland an der Stabilisierung der Mark durch eine Anleihe (vor allem aber durch Herabsetzung der Repara tionsschulden!) mitwirkt. Die Franzosen aber verlangen offenbar von uns ein Programm derartiger innerer Maß nahmen, welches der Kanzler doch nicht mit der Überzeu gung von seiner Zweckmäßigkeit vertreten könnte. Es scheint, als ob noch eine Verständigungsmöglichkeit nach anderer Richtung besteht, die allerdings, indem sie die äußere Krisis vermeidet,/zugleich eine innere Krisis herbeiführen würde. Die Pariser Blätter behaupten näm lich bei der Beurteilung der deutschen Vorschläge durch weg, daß der Reichskanzler Dr. Wirth zu wenig Entgegen kommen und Einsicht zeige, wogegen man mit Reichs- finanzminister Hermes viel weiter kommen könnte und sicher positive Ergebnisse erzielt hätte, wenn Hermes selb ständig hätte beschließen können. Denn Hermes habe Verständnis und Willen, auch die erforderlichen inner deutschen Maßnahmen zur Stabilisierung der Mark — vor allem Steigerung der deutschen Arbeits leistung — vorrunehmen. Der „Matin" deutet sogar an, daß die Folgen dieser Meinungsverschieden heiten zu einer Kabinettskrise in Ber lin führen würden. Im übrigen spricht man davon, daß die Pläne des Finanzministers Hermes mit einer deutschfranzösischen Zusammenarbeit auf industriellem Gebiete in Zusammenhang stehen, daß aber die eigentliche Reparationsfrage der für den 5. Dezember in Aussicht genommenen Brüsseler Konferenz Vorbehalten bleiben müsse. -i- Berlin. Zu den von Paris verbreiteten Gerüchten über Unstimmigkeiten innerhalb der deutschen Reichsregierung be merkt die Bossische Zeitung, es habe allerdings keinen Zweck, weiter zu verheimlichen, daß schon seit geraumer Zeit zwischen dem Reichskanzler'und dem Reichsfinanzminister schwerwiegende Differenzen beständen, die einem einheitlichen Zusammen arbeiten des Kabinetts nicht gerade förderlich seien. Diese Diffe renzen hätten sich bis zu einem Grad zngespitzt, daß cs sehr schwer erscheine, sic wieder auszugleichen. "Von und fern. Buch das „Sitzen" wird teurer. Durch eine gemein same Verfügung des preußischen Justizministers und des preußischen Ministers des Innern wird mit Wirkung vom 1. Oktober d. I. ab der Haftkostensatz für Personen, die eine Zuchthaus-, Gefängnis- oder Haftstrafe verbüßen, so wie für die Nntersuchungs-, Zivilhaft- und Polizeigefanac- nen auf 30 Mark, für die Festungshaftgefanaenen auf 40 Mark für den Dag erhöht. Bei Selbstbeköstigung er mäßigt sich der Satz für Festungsgefangene auf 28 Mark, im übrigen auf 20 Mark. Man wird es sich Hinfort also gründlich überlegen müssen, ob man sich einsperren lassen soll! Das Ende eines Schwerverbrechers. Einer der ge fährlichsten Verbrecher Berlins, der Mörder und Einbrecher Willy Opitz, wurde im Kampf mit Kriminalbeamten er schossen. Opitz, dem mehrere hundert Einbruchsdiebstähle und vier Morde zur Last gelegt wurden, ist fünfmal aus Gefängnissen und Zuchthäusern ausgebrochen, zuletzt im August d. Js. aus der Strafanstalt in Tegel. Als er jetzt wieder ergriffen wurde, gab er auf die Beamten, die ihn fcstnehmen wollten, acht Schüsse ab. Ein Beamter erwiderte das Feuer und streckte ihn durch zwei Kugeln nieder. — Der zum Tode verurteilte Raubmörder Paul Meschede, der vor kurzem aus dem Zuchthaus zu Sonnenburg aus brach, ist in einem Berliner Vorort ermittelt und wieder festgenommen worden. Aushebung einer Falschgeldsabrik. Eine Geldschein fälschung großen Stiles ist von der Falschgeldabteilung der Reichsbank aufgedecküworden. Der in Berlin ver haftete Fälscher ist ein Bttchdruckereibesitzsr Otto Wiehle. In seiner Druckerei fand man einen ganzen Stapel von falschen Fünfhundertmarkscheinen der weißen Hilfsbank note vom 7. Juli 1922. Wiehle ist wegen Verbreitung un züchtiger Schriften wiederholt mit den Gerichtsbehörden in Konflikt geraten und erst im Frühjahr d. I. deshalb verurteilt worden. Damals hatte man bei ihm auch Plat ten für falsche Fünfzigmarkschcine gefunden und beschlag nahmt. Zum Vertrieb hatte er alle die Leute gewonnen, die früher Bücher für ihn vertrieben haben. Mehrere dieser Verbreiter konnten ebenfalls verhaftet werden. Ausschreitungen in Forst. Aus Forst i. d. Lausitz meldet man Plünderungen. Eine große Menschenmenge er zwang in Butter-, Wurst- und Materialwarengeschäften die Verabfolgung von Lebensmitteln zu ungewöhnlich billigen Preisen. Dann wurden Schuhwarengeschäfte ge plündert und in anderen Geschäften Schaufenster und Ladcntüren zertrümmert. In überwiegender Zahl betei ligten sich Jugendliche an dem Treiben. Auch Kinder von 13 bis 14 Jahren waren dabei. Die Tuchlager zweier gro ßer Fabriken wurden ebenfalls ausgeraubt. Gewerkschafts- und Parteiführer, sowie besonnene Arbeiter ermahnten dis Menge zur Ruhe. Ihnen gelang es schließlich, die Menge von weiteren Plünderungen abzuhälten. Gegen 30 Ver haftungen wurden vorgenommen. Folgenschwere Überschwemmung in Neapel. Eine furchtbare Überschwemmung suchte die Stadt Neapel heim und verursachte den Einsturz, vieler Häuser. Bei Santa Maria alla Neve stürzte eine Mauer ein und begrub zahl reiche Feuerwehrleute und einige Zivilpersonen unter sich. 8 Feuerwehrleute und 2 Zivilpersonen wurden getötet, zahlreiche Verletzte mußten ins Krankenhaus gebracht werden. Vermilckres. Neue Aufgaben des Flugzeuges. Gegenwärtig wer den, ähnlich wie bereits in England, auch in Frankreich Luftfahrzeuge für die Verkehrsregelung verwendet. Diese Flugzeugesind ausschließlich für die polizeiliche Über wachung, wie sie bei Aufläufen oder sonstigen starken Ver- kehrsansammlungen notwendig wird, bestimmt und kreisen, mit Polizeibeamten bemannt, immer über belebten Plätzen, um die nächsten Polizeistationen von dem jeweiligen Stande des Verkehrs benachrichtigen zu können. Eine andere praktische Verwendung fand im verflossenen Som mer das Flugzeug in Holland zum Transport von Blumen. Die früh am Morgen in den großen holländischen Gärtne reien geernteten Blumen gelangten auf diese Weise noch am selben Tage auf die Märkte Londons. Sehr beliebt ist auch die Verwendung des Flugzeuges zu Reklamezwecken geworden. Die Pariser Polizei hat allerdings das Ab werfen von Reklamezetteln aus den Flugzeugen strengstens untersagt, dafür hat man aber eine andere wirkungsvolle Reklame ersonnen. Während der Abendstunden kreisen über der Stadt Flugzeuge, auf die zunächst die Schein werfer des Eiffelturmes gerichtet werden, so daß sie aller Augen auf sich ziehen. Blickt man dann näher hin, so strahlen sie irgend eine Lichtreklame aus. Diese aus der Dunkelheit groß und hell herausleuchtenden Worte sind so auffällig, daß man unwillkürlich zu ihnen hinaufblickt, so daß der Zweck der Reklame in vollem Maße erreicht wird. Wolkenkratzer auf Stelzen. In Newyork ist unmittel bar über den Schienen einer Endstation mit sehr lebbaftem Verkehr ein großer Wolkenkratzer im Bau. Die Schienen lausen in manchen Fällen in zwei Etagen unter dem neuen Gebäude her, das somit erst in der Höhe des zweiten Stock werkes beginnt und ganz kellerlos ist. Das ganze Ge bäude, das eine Höhe von Zwanzig Stockwerken erreichen soll, ruht mit seinem Riesengewicht auf einem Stelzen gerüst, das zwischen den Schienenpaaren auf den Fels grund hinabreicht. Der Bau wird durchgesührt, ohne daß der Zugverkehr deswegen auch nur eine Stunde unter brochen zu werden braucht. Deden unä Millen. Verbreitung einer tückischen Kinderkrankheit. An der spinalen Kinderlähmung, einer auch Erwachsene befallenden Krankheit, die als Schwester der Grippe angesprochen werden kann und seit einiger Zeit in der Gegend von Marburg epidemisch austritt, sind auch in Kassel etwa zwanzig Personen erkrankt. In der Provinz Hessen-Nassau sind bereits ver schiedene Todesfälle zu verzeichnen. Wie Professor .Eduard Müller-Marburg, der sich besonders der Erforschung dieser Krankheit widmet, in einem Vortrag vor den Kasseler Ärzten erklärte, muß man ein uns noch völlig unbekanntes „Etwas", abgesehen von dem ansteckenden Charakter des Leidens, zur Erklärung der Weiterverbreitung und der Entstehung der Epidemien annehmen. Die Durchschnittssterblichkeit bei frischer. Kinderlähmung beträgt 15 bei Erwachsenen ist sie höher. Neuerdings tritt die Krankheit auch in Thüringen auf. ALkiergui WwylwWo. Ostmärkischer Roman von Guido Kreutzer. S1 (Nachdruck verboten.) Für dieses junge Mädel kam nur ein Mann in Frage, dem die Zukunst große Karriere verhieß. Er aber gehörte nicht mehr dazu. Und als er unten vor der Haustür im rieselnden Flockenfall des frühen Dczemberabends stand und sich eine Zigarette ansteckte — da stieß er zwischen den Zähnen ein kurzes, scharf abgerissenes Lachen hervor. Er lachte über sich selbst und über den lockenden Traum, den er bisher geträumt. Und wußte es nicht einmal. 2. Kapitel. Nun gab es nichts mehr, das ihn hier nach hielt. Noch in derselben Nacht verließ er mit dem V-Zuge Berlin, um über Küstrin und Schneidemühl seinen Bestimmungsort zu erreichen. Die Anschlüsse klappten schlecht; in Schneidemühl mußte er umfingen und mehrere Stunden auf den Anschluß zug warten, so daß er erst im Morgengrauen das Ziel seiner Fahrt erreichte. Er hatte sich eine Fahrkarte erster Klasse genommen — nicht aus gedankenlosem Leichtsinn, wo es doch fortan-für ihn galt, mit jedem Pfennig zu rechnen ... sondern aus einer verhetzten Sehnsucht heraus — einer Sehnsucht nach Einsamkeit: einer Menschenscheu, die er bisher nie gekannt. Erst als der Zug die lange Reihe der Stadtbahnhofe durchlaufen hatte, als er in die Nacht hineinstarrte — erst da spannte ein erlösendes Aufatmen die Brust Hansjürgen von Schills. Kein Mensch weiter teilte sein Abteil. Jetzt war er allein mit sich und seinen Gedanken: für ein paar Stunden wenigstens: und unwahrscheinlich, daß in Küstrin oder Lands berg ein anderer Passagier seine Einsamkeit störte. Er hatte den Pelz ausgezogen, hatte sich in eine Wagen- ecke hineingcdrückt; rauchte langsam die unvermeidliche Zigarette und ließ sich von dem monotonen einschläfernden Nädergeraiter die erregten Nerven entspannen. Wie wohl das tat! Eine Hetzjagd war der heutige Tag gewesen: die Steile von Hamburg rurch Berlin; ein kurzer Abstecher nach seiner Wohnung, um diel Kleidung zu wechseln: die Unter redung mit dem Justizrat: der Besuch bei Annemarie Rink: abermals ein paar Stunden in seinem Junggesellenheim, weil es galt, in Eile die kaum geleerten Koffer wieder ein zupacken, das nötigste zu ordnen; ein hastig genossenes Abendessen bei Borchardt. Und nun endlich hatte er Ruhe. Für viele lange Stunden. Er hielt den Kopf an die Polster gedrückt, die Augen halb geschlossen. Ihm zu Füßen sangen die Räder ein Lied, dessen Sinn, dessen Worte er zu verstehen meinte: „zur Heimat geht's! zur Heimat geht's!" Zur Heimat! . . . Wieder nistete ihm das scharfe Lächeln um die Lippen. Wie Hohn dröhnte es ihm in den Ohren, dies verfluchte: „zur Heimat geht's!" Ging es denn wirklich zur Heimat? Besaß er denn überhaupt noch eine Heimat? Wer konnte sagen, ob er nicht vielleicht schon den Wagen, der ihn morgen früh von der Station abholen würde, der Gastfreundschaft oder Höflichkeit irgendeines ganz fremden Menschen verdankte? Wenn er es überlegte — es war solch Wahnsinn! Es war eine so brutale tückische Bosheit des Schicksals! Da hatte er das Gymnasium in der kleinen polnischen Provinz stadt glatt durchlaufen: hatte später die Universität bezogen; kein Semester vertrödelt, kaum je eine Stunde nutzlos vertan, immer das eine einzige Ziel vor Augen gehabt und mit eiserner Beharrlichkeit verfolgt: in der höheren Verwaltungs laufbahn, im politischen Leben des Landes einmal eine führende Rolle zu spielen! Ministerpräsident; Staatssekretär; oder zumindest Geheimrat. Und bot sich eine lockende Ge legenheit, dann kopnte man auch zur aktiven Politik ab- fchwenken, Abgeordneter werden. Herrgott im Himmel — wie lachendes Sonnenland hatte das Leben vor ihm gelegen; bis zum heutigen Tage hatten Fleiß und Erfolg ihm recht, seinen Träumen den Hoffnungsschimmer naher Verwirklichung gegeben. Wofür denn lebte schließlich ein Mann von Ehre auf der Welt? Doch nur, um Großes zu erreichen, um Hindernisse beiseite zu räumen, um seinem Namen den prunkenden Mantel des Erfolges umzuhangen, um Sieger zu bleiben und einsame Höhen zu erklimmen, wo pudere sich mit den breiten ausgetretenen Pfaden unten ün Tale be gnügten. Dazu nur lebte und arbeitete ein Mann von Ehre. Und nun alles zerschlagen — alles in Scherben getreten und zertrümmert! „Zur Heimat geht's!" . . . sangen die Näder. Vor wenigen Stunden noch, als er der kühlen, klugen Annemarie Rink in dem kleinen Salon gegenüber gesessen, da hatte er die Worte gesunden, mit denen er sich selbst betäuben, mit denen er ihrem leis erwachenden Mißtrauen eine Stauwehr entgegenbauen wollte. Hatte Worte gefunden non der Größe und Dankbarkeit seiner Aufgabe; hatte sich ausgeworfen zum Verteidiger eines der heiligsten Gedanken, die die Menschheit kennt: — Heimat und Kampf um das Vatererbe. Und saß nun hier zusammengekauert in der Ecke seines Abteils; und zog sich vor sich selbst bis auf den innersten Menschen aus; und betrachtete höhnisch im Spiegel der Selbsterkenntnis das Bild brutaler Wirklichkeit, das ihm entgegengrinste. Hatte Annemarie Rink nicht letzten Endes doch recht be halten mit ihrem Zweifel, ob für einen Menschen von seinem Schlage und seinen Fähigkeiten sich denn wirklich und wahr haftig die Aufgabe lohne: — vergraben im äußersten Winkel des Reiches Geist und Intelligenz, Kraft und Energie, Zähig keit und ein ganzes langes Menschenleben daran zu setzen, um eine armselige Handvoll Erde, um einen erbärmlichen Fetzen ererbten Landes sich zu erhalten?! Oh — tausendmal hatte sie recht schabt! Und würde recht behalten! Und er dachte des finsteren Bibelspruches von der Sünde der Väter, die bis ins dritte und vierte Glied die Kinder schlägt und unselig macht. Unselig war auch er; unglücklich würde er werden: und würde als ver bissener, menschenscheuer Sonderling ein armseliges, ent behrungsreiches Dasein führen — während in den Geheim ratszimmern des Ministeriums, während auf der Tribüne Les Reichstags Männer das Wort nahmen, deren Wille Hunderttauscnde lenkte, deren Geist der Führer eines Volkes war, deren Tatkraft das Staatsschiff sicher durch brausenden Wogenschwäll steuerte. Und da hatte er noch vor ein paar Stunden von dem heiligen Ernst der Ausgabe gesprochen, > die ihn erwartetes Narr, der er war! (Fortsetzung folgt.)
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