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Vie neuen I^ökne der Stsatsarbeiter. Vom 1. Avril ab. Die schwierigen Verhandlungen, die Über die Neu regelung der Staatsarbeiterlöhnr zwischen Regierung und Arbeiterverlrctern geführt wurden, haben bekanntlich zu einer Einigung geführt. Nach den getroffenen Verein barungen stellt sich nunmehr der Stundenlohn wie folgt: Lohnklafse I II III IV V VI VII VIII Ortsklasse L.. An-an-slsbn 10.30 10,— 9,70 9,40 9,15 8,90 5,95 4.W (mit 18 I.) Höchstlohn 12,55 12,25 11,95 11,65 11,40 11,15 11,— 8,25 (mit 24 I.) Ortsklasse k: Awanaslohn 9.80 9,50 9,20 8,90 8,65 8,40 5.45 4,25 Höchstlohn 12,05 11,75 11,45 11,15 10,90 10,65 10.50 7.85 Ortsklasse 6: Ansangslohn 9,80 9,— 8,70 8.40 8,15 7,90 4.95 3,85 Höchstlohn 11,55 11,25 10,95 10,65 10,40 10,15 10,— 7,45 Ortsklasse V: Ansangslohn 8,80 8,50 8,20 7,90 7,65 7.40 4.45 3,45 Höchstlohn 11,05 10,75 10,45 10,15 9,90 9.65 9.50 7,05 Ortsklasse Ansanqslohn 8,80 8,— 7,70 7,40 7,15 6,90 3 95 3,05 Höchstlohn 10,55 10,25 9,95 9,65 9.40 9,15 9,— 6.65 Zu den Löhnen treten die bisherigen Überteuerungs zuschüsse. Tie Kinderzuschläge sind nicht erhöht. Dagegen ist, da auch bei den Beamten eine Zulage von 1000 Mark pro Jahr für die Ehefrau als Frauen zulage gezahlt wird, auch eine solche Zulage für die Ehefrau des Ar beiters eingeführt worden. Die Zulage beträgt 0,40 Mark pro Stunde und wird nur für die Ehefrau des Arbeiters gezahlt. Eine Zahlung dieses Zuschlages an andere den Haushalt des Arbeiters führende Personen ist ausge schlossen. Der Zuschlag für B e a m t e n d i e n st beträgt vom 1. April ab für Tätigkeit der Besoldungsgruppe II 0,25 Mark pro Stunde, für Tätigkeit der Besoloungs- gruppe III 0,50 Mark pro Stunde, für Tätigkeit der Be soldungsgruppe IV 0,65 Mark pro Stunde. Diese Regelung gebt besonders die Eisenbabnarbeiter an. Für die weiblichen Arbeiter, deren Beschäftigung einer Tätigkeit eines männlichen Arbeiters in höherer Tarifklassc gleichkommt, ist der hierfür gewährte bisherige Zuschlag von 0,10 Mark pro Stunde auf den Betrag von 0,30 Mark pro Stunde erhöht worden. Segen die Änssaugnng Deutschland?. Ein Protest der Gewerkschaften. Wenn der Erfüllnngswille der deutschen Parteien mit ganz besonderem Nachdruck gerade von links der immer wieder betont worden ist, so wird es um so stär keren Eindruck machen, wenn jetzt die Führer der Ange- stellten- und Arbeiterschaft in einem Aufruf daraus Hin weisen, wo dieser Erfüllungswrüe eine Grenze finden muß. Es wird vor allem betont, daß von den 1I,4MilliardenGold- mark, die Deutschland bis zum 31. Dezember 1921 an Re parationszahlungen geleistet hat. nur 2.8 M i l l i a r d e n dem eigentlichen Wiederaufbau zugute gekommen sind, während der Rest für andere Zwecke, darunter über 4,3 Milliarden allein für die Besatzung und für die interalliierten Kommissionen in Deutschland, verbraucht worden ist. Neuerdings bezieht ein englischer General in Deutsch land 3 619 500 Mark, und selbst ein einfacher englischer Soldat 362 620 Mark, also weit mehr als die höchsten Be amten der deutschen Republik. Diese Riesenbeträge müssen aus der deutschen Arbeit aufgebracht werden. Sie erfordern ungezählte Milliarden, Lie für den tatsächlichen Wiederaufbau verloren gehen. Die deutschen Gewerkschaften er- heben öffentliche Klage über diese Vergeudung Les Ertrages deutscher Arbeitskraft und deutschen Arbcits- sleißes. Unterzeichnet ist dieser Aufruf vom Allgemeinen Deutschen Gewerlschaflsbund und von der Afa. für beut und morgen. Neue Zeugengebühren. Eine neue Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige für das Reich ist in Kraft getreten. Tie Zeitversäumnis wird mit 1 bis 15 Mark für jede angefangene Stunde vergütet. Dabei wird der Erwerb berücksichtigt. Für jeden Tag werden nicht mehr als zehn Stunden vergütet. Handarbeiter, Handwerker und kleine Gewerbetreibende erhalten die Entschädigung auch ohne Zeitversäumnis. Sachverständige bekommen bis zu 20 Mark für die Stunde, für besonders schwierige Leistungen bis zu 30 Mark. Besteht ein üblicher Preis, so gilt dieser. Für einen Weg von mehr als zwei Kilo metern wird eine Entschädigung nach billigem Ermessen oder für jeden angefangenen Kilometer 50 Pfennig ge währt. Für einen auswärtigen Aufenthalt sollen nicht mehr als 50 Mark, für das Nachtquartier nicht mehr als 30 Mark vergütet werden. Notwendige Begleiter für Jugendliche und Gebrechliche erhallen dieselben Entschädi gungen. Zahlkarten für SteuerentrichLung und Kapitalertrag steuer werden demnächst eingeführt werden; man will da durch einen bequemen und billigen Weg für die Abführung der Einkommen-, Umsatz-, Erbschafts- usw. Steuer, des Neichsnowpfers sowie der Kapitalertragstcuer für Hypo thekenzinsen an die Finanz- und Steuerlasten schaffen. Für Buchungszwecke bei diesen Kasten sind die Abschnitte auf der Rückseite mit einem Vordruck versehen worden, den der Absender auszusüllen bat. Einen gleichen Vordruck, der ebenfalls auszusüllen ist, trägt die Rückseite des Postein lieferungsscheines. Durch Vorlegung des von der Post- anstalt vollzogenen Posteinlieferungsscheines kann der Ab sender der Zahlkarte die Entrichtung der Steuer jederzeit nachweisen. Deutscher Reichstag. (Nus der 190. Sitzung.) Vor ungemein schwach besetztem Hause wurde die Be ratung des Mantelgesetzes zu den Steuervorla gen fortgesetzt. Die Belastung des ZeiLungsgewerbes. Abg. Emminger (Bayer. Volksp.) bemerkte auch diese Steuern kommen aus den Druck der Entenu Yin zustande Bei der Umsatzsteuer kann die I n s e r a l e n st c u e r nicht heraus genommen werden. Wenn wir das ganze Zeitungswesen her- ausnchmcn würden, so würde eine zu große Lücke entstehen. Tie Notlage des ZeinmgSgewerbes hPigl zwar mit Meier Be lastung zusammen, der Hauptgrund liegt aber nicht in der Steuer, sondern in der Bewegung der Holz- und Papierpreise. Wir sind bereit, bei der Jnjnaksastener bis an die äußerste Grenze dessen zu gehen, was notwendig ist. Aber alle die großen Opier, die vieles Gesetz verlangt, reichen nickt aus. Tas Reparcuions- faß und auch das Faß unseres Haushalts hoben keinen Boden. Au dem Steuerkvmpromiß ist die Bayerische Vottspartei nicht beteiligt. Wir waschen unsere Hände in Unschuld. Wir stim men dem Kompromiß aber zu, weil wi> nicht wollen daß wir ohne Gnade in tue tiefsten Diesen des Abgrundes rollen Wir sind technisch wirtschaftlich und moralisch steucrmäßig so be lastet, daß endlich mit allen Steuern Schluß gemacht werden muß. Abg. Dr. Geyer-Sachsen (Komm Arbeitsgemeinschaft) führte aus. dis Ari, wie wir jetzt unsere Vollsitzungen abhallen, führt dazu, daß lediglich iheoretische Vorlings gehalten werden Wir könnten unsere Ausführungen dem Stenographen über reichen und aus Vollverfammlniigen ganz verzichten. („Sehr angenehm!" ries hier unter allgemeiner Heiterkeit der Abg. Schultz-Bromberg (Deutschn.) dazwischen) Wir lehnen die sämtlichen Vorlagen ab, weit sie eine ungeheure Belastung der Arbeiterschaft varsteüsn. Die Inflation wird dadurch nur noch vermehrt und die Arbeiterschaft zu immer neuen Lohnbewegun gen veranlaßt. Die Bourgeoisie ist draus und dran, die Ver elendung der Arbeiterschaft für sich auszunutzcn. Abg. Koenen (Komm.): Wenn die Arbeiter sehen würden, wie ihnen hier das Fell über die Ohren gezogen wird, sie wür den die ganze Gesellschaft davonfagen. Die Eisenbahnerbe- wegung war der Anfang. Durch die Steuern nimm* man den Massen die geringen Mehreinkünfte. Die Kriegsopfer verlangen ebenfalls schleunige Aufbesserung ihrer Bezüge. Der Redner ging dann au; die Teuerung ein. wobei er erwähnte, daß das Brot auf 60 bis 72 Mark kommen soll. Alle, die diesen Zu ständen ihre Zustimmung geben, erklärte er, machen sich des Mordes an Millionen schuldig. Wir werden die Erben ihrer Bankrottwirtschast sein. Die großen Streiks sind die ersten Sig- nale dazu D:c erste Lesung des MantelgesetzeS war damit beendet, und die Sitzung wurde geschloffen. Von und fern. Verteuertes Loitrricspiel. Im Rahmen der Beratung Les Etats der Lotterieverwaltung wurde im Hauptaus schuß des Preußischen Landtages mitgeteilt, daß der Preis für die Lose der Klassenlotterie von 400 auf 600 Mark er höht wird. Tie Nachfrage nach Losen übersteigt erheblich das Angebot und Lie Lotterieverwaltung rechnet mit einer weiteren Steigerung. Die Achtellose werden beibehalten. Eine neue englische Zeitung in Berlin. In Berlin erscheint jetzt eine neue Zeitung in englischer Sprache, der „Daily Herold". In der Redaktion befinden sich mehrere amerikanische Journalisten. Die Zeitung will sich haupt sächlich an die in Europa weilenden Amerikaner wenden. Der Preis beträgt fünf Mark für die Nummer. Das Deutsche Hygienemuseum in Dresden. Der Stadtrat von Dresden beschloß, in Anbetracht der großen kulturellen Bedeutung des Deutschen Hygienemuseums in Dresden den jährlichen Beitrag auf 200 000 Mark zu er höhen umer der Bedingung, daß der sächsische Staat den seinen auf 300 000 Mark und das Reich den seinen auf 500 000 Mark erhöht. Ferner bewilligte die Stadt Dres den zum Bau des Museums drei Millionen Mart unter der Bedingung, daß das Reich sechs Millionen und der Staat drei Millionen Mark bewilligen. Beim Wildern erschaffen. Im Neitzensteiner Forst bei Schwerin a. d. Warthe wurde der Anführer einer Wilderer bande, der Arbeiter Leo Dobkowicz aus Landsberg a. d. Warthe, von einem Berliner Kriminalwachtmeister gestellt. Als der überraschte ein Gewehr anlegte, erhielt er einen Schuß in den Unterleib, durch den er getötet wurde. Den andern Wilddieben ist man auf der Spur. Ein Kollektivbräutigam. Ein angeblicher Eugen Nonn, der sich in Lehe unangemeldet aufhielt, hatte es ver standen, sich im Laufe eines Jahres 33 Bräute anzuschafsen, von denen er sich mit Geld und Wertsachen beschenken ließ. Jetzt ist er mit einer Kaufmannsangestellten, die ihrem Arbeitgeber 30 000 Mark unterschlagen hat, geflüchtet. Von Bremen hat der Don Juan an sämtliche Bräute geschrie ben, daß er bald wiederkommen werde. Wie die sich freuen mögen! Ein törichter Racheakt. Drei Heizer des Sceschleppers „Markus", der von Hamburg nach Vrunshafen fuhr, hatten sich über ihren Kapitän geärgert. Aus Rache machten sie sich über die Signalkammer her und feuerten alle Raketen, Kanonenschläge usw. ab. Außerdem warfen sie die an Bord befindlichen Arzneien über Bord. Bei Rückkehr deS Dampfers in den Hamburger Hafen wurden die drei rachcdurstigen Seeleute der Polizei übergeben. Durch Brunnengase getötet. In Mülheim an der Ruhr sind bei der Untersuchung eines nicht benutzten Brunnens der Invalide Holtkamp und der Maurer Dörn- Haus durch Einatmen von Brunnengasen erstickt. Der Bruder des Dörnhaus, der sich in den Schacht hinablassen wollte, um nach den Vermißten zu sehen, wurde betäubt, konnte aber noch gerettet werden. Ungarische Hilfe für den Exkaiser Karl. Die unga rische Regierung hat den ganzen Betrag der in Rumpf ungarn vorhandenen Liegenschaften des Habsburgische« Familienbesitzes in Höhe von 5 Millionen Kronen dem ehemaligen König Karl zur Sicherung seines Lebensunter haltes zur Verfügung gestellt. Die Verwaltung des Ver mögens wurde mit Zustimmung der ungarischen Regie rung dem Bevollmächtigten des Königs, Dr. Gratz, über lassen. Das Ende einer Attentäterin. In der Irrenanstalt Münsingen (Schweiz) ist die Russin Tatjana Leontjew gc, storben. Sie wurde zu einer europäischen „Berühmtheit", als sie im Jahre 1906 im Hotel Jungfrau in Interlaken den Kurgast Müller aus Paris, den sie für einen russischen Minister hielt, erschoß und deshalb zu vier Jahren Zucht haus verurteilt wurde. Die Rhein Main-Donau-Gescllschaft. In der Generalver sammlung der Rhein—Main—Donau-A.-G. kam zum Ausdruck, daß die uberteuerung der Bauten unter den jetzigen Verhält nissen nicht zu vermeiden sein wird. Deshalb empfiehlt der Vorstand, weitere Mittel zur Verfügung zu stellen. Dafür sei eine große Emission (vielleicht unter Verdoppelung des Aktien kapitals) in Aussicht genommen. Die Banken haben sich, be reits zur Übernahme der in Aussicht genommenen großen Summen bereit erklärt, es sind nur noch Verhandtungen mit Bayern und dem Reiche zu führen, nm die geforderten Mittel aufzubringen. Die Arbeitslosigkeit in der Schweiz. Die Zahl der Arbeits losen auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt hat sich vom Ja nuar au! Februar um 2400 aus 99 541 erhöht. Dazu kommen noch 46 764 teilweise Arbeitslose, so daß die Gesamtzahl der von der Arbeitslosigkeit betroffenen Personen 146 305 betrügt. 6ericdtsk2tte. Verurteilung eines KricgSvcrräterS Der vereinigte 2. und 3. Strafsenat des Reichsgerichts verurteilte den ehemaligen Fremdenlegionär Joses Hauck aus Eigenbühl zu 3!4 Jahren Zuchthaus Hauck hatte während des Krieges an Frankreich deutsche Pläne von Unternehmungen, die sich gegen Marokko richleicn, verkauft. Am die Heimst. Roman von Bruno Wagner. 4) (Nachdruck verboten.) Der See hatte sich ganz verwandelt. Mächtige Wellen kamen von seinem Nordende und rollten südwärts. Der Schaum sprühte ins Boot, und Johannes Jessen lachte vor Freude, wenn der MonL einen Augenblick durch brach und wie eine ungeheure gelbe Kugel, die aus einer Niesenkanone abgeschossen zu sein schien, durch die Wolken flog- Dann schimmerten die Schaumkronen silberweiß. Es wurde ganz finster. Der Mann im Boot sah nichts als ein fernes Licht links seitwärts am Wcstufer. Das war im oberen Stockwerk des Gntshauscs von Poggen hagen. Und die Begegnung mit Lem Wagen Les Herrn von Bählow, der dort drüben wohnte, trat vor des ein samen Mannes Seele. Er fuhr zusammen. Hatte da nicht jemand um Hilfe gerufen? Ldcr war eS eine vom Stu m aufgescheuchie Möwe gewesen, die ihr Nest nicht wiederfinden konnte? Wieder der Laut? „Wer da?" schrie er jetzt laut in die Nacht hinaus. Ein greller Blitzstrahl zerriß mit einem Male die Finsternis mit blauweißem Leuchten. Fast un mittelbar darauf ein schmetternder Donner. Das hatte in die See geschlagen. „Wer da?" schrie Johannes abermals in die Nacht hinaus. Ein neuer Blitz zuckte, — ein blauer Flächenblitz, der den ganzen See einen Atemzug lang hell erleuchtete. Dicht vor dem Bug des Fischerbootes trieb etwas, das wie ein gekentertes Boot anssah. Und nun sah Johannes, daß sich Menschen daran festgeklammert hielten. „Hilfe!" klang es jetzt. Eine halb erstickte Stimme, wie von einem Weibe. „Festhalten!" schrie Johannes. „Ich komme." Aber es war nicht leicht. Er durfte nicht hart an das Doot heranfahren, sonst hätte er vielleicht die Mensche« hsruntergeschleudert oder mit dem schweren Fischerboot er drückt. , , Es gab nur ein Mittel. Er mußte sein Boot zum Stillstand bringen, wenn es dicht bei den Verunglückten war. Wie gefährlich das war, wußte er. Als einzelner Diann Segel und Ruder bedienen, war bei diesem Sturm keine Kleinigkeit. Aber es mußte fein. Mit aller Kraft holte er das Segel schärfer heran, daß der Wind sich fester dagegen legte. Dann mit fast über menschlicher Anstrengung das Ruder hart rechts angelegt. Das Boot drehte genau gegen den Wind. Das Segel flat terte schlaff. Und im nächsten Augenblick berührte der Bug mit leichtem Knirschen das in den Wellen treibende Doot, das auf der Seite lag. Jessen halte einen Bootshaken gefaßt und hielt sei« Boot fest an Lem anderen. An dem Mast des umgeschlage nen Fahrzeuges, der dicht neben dem Rettung bringende» Boole lag, krochen die beiden Menschen herüber und klam merten sich an Jessens Boot fest. Nun hingen sie an der Seite. Der eine schwang sich dabei tief in das Fischerboot hinein, das sich dabei tief zur Seite neigte. Und nun ließ Jessen den Bootshaken los, und beide Männer — oder war der andere nur ein Knabe? — zogen die Frau herein. Das Segel klatschte wie eine riesige Flagge und drohte seitwärts zu fliegen. Der junge Mensch packte die Leine gerade noch im letzten Augenblick. Und nun füllte der Wind das Segel wieder, und Jessen saß am Steuer, und in rascher Fahrt ging cs durch die spritzenden Wellen gerade ans das Licht von Poggenhagen los. In zehn Minuten fuhr das Boo! auf den Strand. Es lag hier in geschützter Bncht. Der Regen goß in dichten Strömen herunter. Jo hannes half der Dame aus dem Boot. Sie war klitschnaß und fror. Neben ihr stand der Knabe. „Wir erneuern die Kinderbekanntschaft auf seltsame Weiss," sagte Alice von Bählow, indem sie Jessens Hand mit festem Griff umspannte. „Das kommt von lyrerlaub« ten Bootfahrten bei- romantischem Vollmondschein. Hof- scntlich schadets dem Jungen nicht. Er quälte so, daß ich ihn mitnehmen mußte, wenn ich überhaupt hinaus wollte. Und nun gute Nacht, Herr Jessen. Wollen Sie mir ver sprechen, nichts zu verraten? Ihr Ehrenwort? Gull Deins -er Vorsicht auch, Bernhard! Aber verstanden. wirklich Manneswort! Nicht petzenl Und nun endgültig: gute Nacht!" Jessen sah den beiden nach. Dann stieg er ins Boot und holte das Wrack herein und legte es am Strande fest. Und nun suhr er nach Neuendamm. Drittes Kapitel. TlS Iohannes am nächsten Morgen gegen halb acht Uhr von seiner Dachkammer herunterkam, hörte er schon im Schulzimmer das taktmäßige Aufsagen eines Gesang- buchverses auS siebenzig Kindermündern. Jetzt sprach der Vater den Kindern die nächste Strophe vor, klar und deutlich, aber wenig ausdrucksvoll, und wiederholte dann die erste Zeile. Nun plärrte wieder der Chor: „Ach bleib' mit deinem Worte. . ." Johannes schüttelte den Kopf. Der Inhalt von vier- zig Lebensjahren — immer wieder das — jahraus, jahr ein. Und das auch seine Zukunft! Er schritt langsam an der Schulstube vorüber und trat in das aus der ande ren Seite des Korridors gelegene Wohnzimmer. Der Kasfeeüsch war noch gedeckt: über die Kanne war die dicke wollengestrickte Haube gestülpt, die den Kaffes warm halten sollte. In der Ecke am Fenster saß im hohen Lehnstuhl von braunem Rohr eine klägliche Gestalt, — schmalbrüstig, verwachsen, mit großem Kopf und blöden Augen. Johannes trat näher und streichelte dem armen Ge schöpf die Hand. Da kam etwas wie Leben in die toten Augen; mit einem Ausdruck ängstlicher Zärtlichkeit hefteten sie sich auf des jungen Mannes Gesicht, während zwei ab gemagerte Hände krampfhaft seine Rechte umklammerten. In dumpfen Lauten kam es aus dem Munde des unglück lichen Wesens: „Hierbleiben — nicht sortgehen." Das war Lehrer Jessens älterer Sohn, der von Kind heit an durch dreißig Jahre sein Elend trug. (Fortsetzung folgt.)