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66. 21. März 1900. Nichtamtlicher Teil. 2251 und beanspruchen für sich auch wieder eine eigene »Herrenmoral-, nicht die für die gemeinen gewöhnlichen Leute geltende. (Zuruf links.) — Jawohl! — Und für wen gilt dann noch die allgemeine Moral? Für das gewöhnliche, arme Volk, das man mit oi?ser gemeinen Moral noch in Gehorsam halten will. Ja. meine Herren, mit einer solchen Theorie ist die Ordnung der Gesellschaft nicht aufrecht zu erhalten. (Sehr richtig! in der Mitte und rechts.) Wenn die oberen Schichten der Gesellschaft von dem Gottesgebot sich frei machen wollen, dann ist die Gesellschaft überhaupt reif zum Untergang (lebhaftes Bravo in der Mitte und rechts), weil die Zügellosigkeit aus den oberen Schichten immer weiter in die unteren Schichten durchsickert. Zu dieser allmählichen Auflö sung der moralischen Ordnung in der Gesellschaft trägt es bei. wenn man solche Sätze von der Freiheit der Kunst und Wissen schaft und Politik ausstellt und deren Unabhängigkeit von Moral und von Recht behauptet. Aus diesen prinzipiellen Gründen müssen wir uns gegen solche verfehlte, gemeingefährliche Jrrtümer aussprechen. (Widerspruch und Heiterkeit links.) — Sie lachen darüber? Sie könnten gar nicht in einem Staat existieren, in welchem man solche verkehrte Ideen allgemein zur Durchführung bringen wollte! (Sehr wahr! in der Mitte und rechts.) Das Leben in Staat und Gesellschaft ist nur erträglich, so lange die große Mehrheit des Volks auf dem entgegengesetzten Stand punkt sieht, also eine Moral und ein Recht verlangt, und aufrecht erhält, das für alle gleich ist. in dem Bewußtsein, daß wir alle für unsere Handlungen dereinst zur Verantwortung vor den all wissenden Gott kommen werden. (Lebhaftes Bravo in der Mitte und rechts.) Bebel, Abgeordneter: Meine Herren, wenn man die Philip pika, niit der eben der Abgeordnete Gröber gegen unsere öffent lichen Zustände geeifert hat, insbesondere gegen die Anschauungen, welche bei unseren Künstlern und Schriftstellern bestehen sollen, hörte, sollte man glauben, in Deutschland hätten wir überall die absolute Zügellosigkeit, Gemeinheit und Roheit. (Widerspruch rechts und in der Mitte. Zustimmung links.) Man sollte glauben, man befände sich in einem Lande, dessen öffentliche Zustände so traurig und so verwahrlost seien, daß der Name -Kulturstaat- als ein wahrer Hohn auf Deutschland ange wandt werden müßte. (Sehr wahr! links.) So liegen doch die Dinge wahrhaftig nicht. Nach Herrn Gröber sollte man glauben, es gäbe in Deutschland keine Staatsanwälte, keine Strafgerichte und keine Richter. (Sehr richtig! links.) Wenn die Zustände in der That so entsetzlich wären, wie es nach den Worten des Herrn Abgeordneten Gröber der Fall zu sein schien, dann hätten die Herren schon gar nicht so lange warten dürfen, ehe sie mit einer Aenderung der Gesetzgebung kamen; dann hätte es eine ihrer vornehmlichsten Aufgaben sein müssen, diese entsetzlichen, gemeingefährlichen Zustände schon längst zu beseitigen. (Sehr richtig! links.) Meine Herren, die Dinge liegen aber — das weiß der Abge ordnete Gröber ganz genau — nicht so, wie er sie darstellt. Es heißt das Ansehen Deutschlands nach außen hin geradezu herab setzen, wenn man die Dinge so darstellt, wie er es gethan hat (sehr gut! links), insbesondere auch in dem Sinne, wenn er glaubt, mit der Dar legung von Strafgesetzen kommen zu müssen, die im Auslande, sei es bereits Geltung erlangt haben, sei es in der Vorbereitung sind und in Kürze Geltung erlangen werden. Meine Herren, ich lege auf derartige Vergleiche wenig Wert aus dem einfachen Grunde, weil es vor allen Dingen darauf an kommt, wie die Strafrechtspflege in fremden Ländern gehand- habt wird (sehr richtig! links), wie die öffentlichen Anschauungen sind, die in Bezug auf das, was Recht, Moral, Sitte ist, bestehen, wie die Richter die Dinge be urteilen und wie die bestehenden Gesetze ausqeleqt und anqe- wendet werden. (Sehr richtig! links.) Und da behaupte ich nun, mögen zum Beispiel in Frankreich noch drei- oder viermal schärfere Gesetze bestehen als bei uns in Deutsch land, mögen die französischen Gesetze weit über das hinausgehen, was selbst jetzt für Deutschland rechtens werden soll, die Art und Weise, wie die französischen Richter die Gesetze auslegen und anwenden, ist himmelweit verschieden von der in Deutschland. (Sehr wahr! links.) Wenn irgend etwas den schlagendsten Beweis für diese meine An schauung erbringt, dann die Thatsache, daß die Elsaß-Lothringer erst begriffen haben, was für Strafgesetze in Frankreich existierten, als sie Deutsche geworden waren. (Sehr wahr! links.) Erst da sahen die Elsaß-Lothringer zu ihrem eigenen Schrecken, daß in der Rüstkammer der französischen Gesetzgebung eine solche Menge reaktionärer Bestimmungen enthalten war in Bezug auf die Einschränkung der öffentlichen Freiheiten, von der sie vorher keine Ahnung gehabt hatten, bis deutsche Richter kamen und diese anwandten mit jener Jnterpretationskunst, deren deutsche Richter speziell fähig zu sein scheinen. (Sehr wahr! links.) Der Herr Abgeordnete Stockmann hat vorhin gewarnt, man möge hier durch juristische Auslegungen den Richtern nicht noch an die Hand geben, wie sie künftighin dieses Gesetz auslegen sollen. Der Herr Abgeordnete Stockmann hat ganz und gar vergessen, daß für die Redner, die diese Beispiele anwandten, es sich um gar nichts weiter handelte, als vorzuführen, was heute bereits in Deutschland geübt worden ist. (sehr wahr! links), um an der Hand der Thatsachen nachzuweisen, was mit einer so dehnbaren Gesetzgebung, wie sie hier geschaffen wird, weiterhin möglich sein wird. Daß wir unseren Richtern hier keine Anleitung zu geben brauchen, wie Gesetze ausgelegt werden sollen, meine Herren, da erinnere ich Sie zunächst an den Grobenunfugspara- graphen (sehr wahr! links), über den vor einigen Tagen der Herr Abgeordnete Gröber bezüg lich seiner Interpretation selbst in sehr mißfälliger Weise sich aus gesprochen hat. Ich erinnere an die wunderbare Auslegung des Majestätsbeleidigungsparagraphen, an den 8 130, Erregung von Klassenhaß, den 8 131, Verächtlichmachung von Staatseinrichtungcn wider besseres Wissen, an den H 166, Religionsschmähung u. s. w. (Sehr richtig! links.) Es giebt neben den erwähnten noch Dutzende von Paragraphen in unseren Strafgesetzen, die im Laufe der Jahrzehnte von deutschen Richtern, und zwar bis zum Reichsgericht, eine Auslegung erfahren haben, an die seinerzeit der Gesetzgeber niemals gedacht hätte, daß sie möglich sei. Auf Grund dieser Erfahrungen sind heute die Ausführungen der Redner gemacht worden, die sagten, wenn Sie noch weitere so dehnbare Bestimmungen treffen, wie A 184a und b, dann hat die Auslegungskunst gar kein Ende mehr nach dem, was schon jetzt mit der Handhabung des K 184 möglich war. Man sagt hier, die Künstler in den Versammlungen, die gegen diese Paragraphen protestierten, wären sich nicht so klar gewesen, was diese Paragraphen hedeuteten, und was sie bezwecken sollten. Meine Herren, ich gebe zu, daß bei der Entrüstung, die in diesen Kreisen ausgcbrochen ist, nachdem die Beschlüsse des Reichstags zweiter Lesung bekannt wurden, manches Wort gefallen ist, was über die Schnur ging. Das geschieht aber überall, und am aller wenigsten sind die Herren da drüben (nach rechts) in der Lage, sich dagegen gefeit zu erklären. (Sehr richtig! Sehr wahr! links.) Ich meine, das Wort, was einer der Künstler anführte, -nur schreien, schreien und wieder schreien, das hilft-, ist von einem der Herren Agrarier erfunden (sehr wahr! sehr gut! links), und nicht etwa von einem Sozialdemokraten. Dort drüben hat man gesagt: schreit, je lauter wir schreien, desto eher werden wir gehört. Wenn also die Künstler jetzt den gleichen Weg betreten, so freut mich das, denn die Herren Künstler haben bisher geglaubt, sie bildeten eine besondere Welt in dieser Welt (sehr gut! bei den Sozialdemokraten), sie hätten nicht nötig, sich um die öffentlichen Angelegenheiten zu bekümmern. Das Befassen mit Politik galt ihnen bisher als eine Art unsauberes Geschäft, als eine Sache, die man nur Leuten überläßt, die von den höheren Begriffen und Bestrebungen des Lebens keine Ahnung hätten. Jetzt aber, wo ihnen gezeigt wird, wie ihnen mit der Politik selbst auf den eigenen Leib gerückt werden kann, welche Einschränkungen ihre künstlerische Entwicke lung uud Bethätigung finden soll, sind sie auf einmal zur Be sinnung gekommen. Schließlich kann man es aber den Leuten, die nicht gewohnt sind, öffentlich zu reden, und keine juristische Schulung haben, nicht übelnehmen, wenn sie bei dieser Art der Erörterungen mitunter etwas über die Schnur gehauen haben und Dinge gesagt haben, die nicht haarscharf mit dem überein stimmen, was durch das Gesetz getroffen werden soll. (Sehr wahr! links.) Aber es ist eine Opposition, die ihre vollständige Berechtigung hat, und es war dringend notwendig, daß man endlich in den beteiligten Kreisen einmal anfing, sich zu melden, weil die Oppo sition, die von Anfang an in diesen Fragen hier im Hause in der Minorität war, naturgemäß erlahmen muh, wenn sie fortgesetzt 301*