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Nationale Tageszeitung für die Landwirtschaft/ WilSdruff-DrcSden Telegr.-Adr.: „Amtsblatt TIH Poslscheü- Dresden 2(i4(. Donnerstag« den 8. Dezember 1932 für Lürgettum, Beamte, Angestellte u. Arbeiter ÄL"K«,W F - r »s p r - ch - r - Am« Wilsd-Usf Rr. « ".8LL°'SL" --«SÄ LLS5LÜ W°ch-"d-°'i!-«Wi<sd,usf m Umgegend MMWi! »ein Anspruch aus Lieferung der Zeitung oder Kürzung des Bezugspreises. Rücksendung ^n^sandter^christstüche erfolgt nur, wenn Rückporto beiliegt. " — ^rvrr vraoanansprucy ernicyr, wenn ver Betrag durck re» > rv» tt» . — Nage eingczogen werden muh oder der Auftraggeber in Konkurs gerät. Nr. 287 — 91. Jahrgang Wiederum SUgerei lm Reilhstuge. Die Stellvertretuiig des Reichspräsidenten. Es hatte doch alles so ruhig angefangen! Zunächst wurde den Abgeordneten offiziell mitgeteilt, was sic alle schon wußten, daß nämlich das gestrige Kuriosum — Entscheidung durch das Los nach einer Stichwahl, die den beiden Kandidaten die gleiche Stimmenzahl gebracht hatte — nun wieder rückgängig gemacht worden war. Das Haus ent scheidet gegen den Antrag der Nationalsozialisten, die Wahl nochmals zu wiederholen, entscheidet in langer namentlicher Abstimmung, und verstohlen hält der französische Gesandte Francois Poncet, der in der Diplomatenlogc dieser Sitzung beiwohnt, sich die Hand vor den Mund, um ein herzhaftes Gähnen zu verbergen. Das Gähnen sollte ihm bald vergehen. Kaum, oder vielmehr nur kurze Zeit, wird das Haus bei der Trauer über das Premnitzer Unglück gestört durch ein Paar agitatorische Hetzworte eines Kommunisten, die von den brausenden Pfuirufen aus allen Parteien rasch zerquetscht werden. Aber das sollte doch die Fanfare für schlimmere Kämpfe werden! Zum Stellvertretungsgesetz spricht ein kommu nistischer Redner; fast nur seine Fraktion ist im Saal. Aber die wüsten Beschimpfungen, die er gegen den Reichsprä sidenten hinausbrüllt, führen erst zu Ordnungsrufen, dann rasch zur Wortentziehung. In der rechten Zuschauer- tribüne, wo in der Hauptsache nur durch Abgeordnete per sönlich eingesührte Zuschauer sitzen, entsteht ein Tumult, weil dort jemand die kommunistische Attacke aus Hindenburg durch ein mehrfaches beifälliges „Nieder mit Hindenburg!" be gleitet hatte und seine Nachbarn sich das nicht gefallen ließen Unter wildem Tumult de« Kommunisten ordnet nun der amtie rende Vizepräsident Esser die Räumung dieser Tribüne an, und als dies durchgesührt wird, tritt ein SA.- und ein SS.-Mann hinein, packen den Delinquenten und befördern ihn zur Tür hinaus. Hinter der Seite des Sitzungssaales, wo der Präsidenten sitz und die Negierungstribüncn sich befinden, ist „parla mentarisch heiliger Boden", und durch diesen Gang dürfen sich gewöhnlich Sterbliche gar nichl hindurchwagen. Nun aber stürmen durch ihn hindurch die Kommunisten von links nach rechts hinüber und prallen dort aus einige ent gegentretende Nationalsozialisten. Der sich nun ent- spinnende Kamps kostet einem Telephonapparat, mehreren Tischen, vielen Wassergläsern und Aschbechern das Leben, weil sie als Kampfwasfen benutzt wurden. Außerdem wurde ein Kronleuchter schwer beschädigt. Die Nationalsozialisten riegeln den Zugang ab, um den Zugang neuer Kräfte des Gegners zu verhindern. Natürlich ist die Sitzung inzwischen längst unte r- brochen. Verwundete konnten zunächst durch die allgemeine Neugierde nicht erspäht werden, und der Kampf vollzog sich unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Aber Beulen hat es neben den Scherben auch gegeben! Doch das ist auch wieder nur eine Episode, eine recht be zeichnende allerdings, denn dann ging die Sitzung weiter. In zwischen wird im Hintergründe eine Untersuchung über den Kampf veranstaltet. Sie dauert lange, sehr lange, denn es war ein politischer Kampf — und für einen solchen gilt das Wort eines Abgeordneten, der zugleich Staatsrechtsprofessor ist, ein Wort, das nämlich heißt: „Nicht um eine Rechts-, sondern um eine Macht frage handelt es sich hier!" Dr. Pr. Sitzungsbericht. (2. Sitzung.) OL. Berlin, 7. Dezember. Präsident Göring teilt zunächst das Ergebnis der Schrift- i führcrwahl mit. Dann macht der Präsident aus das veränderte j Zählergebnis der Wahlen zum Dritten Vizepräsidenten auf merksam. Nach der endgültigen amtlichen Feststellung sei Ab geordneter Löbe (Soz.) mit 205 Stimmen gewählt worden, während der Abgeordnete Hugo (Dt. Vp.) nur 204 Stimmen erhalten habe. Daraufhin beantragt Abg. Dr. Frick (Rat.-Soz.) Wiederholung der Wahlen, da nach Ansicht seiner politischen Freunde das Ergebnis nicht einwandfrei fcsistehe. Löbe (Soz.) Dritter Vizepräsident. Es erfolgt über diesen Antrag eine namentliche Ab stimmung, die das Resultat hat, daß der Antrag Frick mit 28S gegen 205 Stimmen abgclehnt worden ist. Abg. Löbe erklärt daraufhin, die Wahl anzunehmcn, da durch den Antrag Frick und seine Ablehnung eine Klärung darüber erfolgt sei, daß die gestrige Abstimmung nicht mebr angezweifelt werden könne. Es folgt die erste und zweite Beratung des Gesetzentwurfes der Nationalsozialisten und der Baperischen Volkspartei über die Änderung des Artikels 51 der Reichsvcrfassung bezüglich der Stellvertretung des Reichspräsidenten durch den Präsidenten des Reichsgerichts. Abg. Schneller (Komm.) nennt den Neichsgerichtspräsidcn- ten den Repräsentanten der Klassenjustiz und der schlimmsten kommunistischen Verfolgungen. Als der Redner schwere Be schuldigungen gegen den Reichspräsidenten ausbringt, wird er vom Vizepräsidenten Esser zur Ordnung gerufen und daraus hingewiesen, daß er im Falle weiterer Beleidigungen des Reichspräsidenten zu schärferen Maßnahmen übergehen werde. Das nutzt aber nichts. Der Redner wiederholt seine belei digenden Ausdrücke, woraufhin ihm unter stürmischen Protestrufen der Kommunisten das Wort entzogen wird. Lärm und Schlägerei. Auf der Zuschauertribünc entsteht gleichfalls ein Zwischenfall. Ein Besucher, der die beleidigenden Ausdrücke des kommunistischen Redners mit Beifallsrufen begleitet hatte, wird von den übrigen auf der Tribüne anwesenden Personen herausgcdrängt. Bei den Kommunisten entstand daraus hcstigc Erregung. Sie verlangten mit stürmischen Rufen die Besei tigung derjenigen, die aus der Tribüne den Zwischenruser ent fernt hätten. Während Vizepräsident Esser vergeblich die Ruhe wiedcrherzustcllcn sich bemühte, rief es dauernd: „Raus, raus!" Auf der Tribüne macht sich überall große Unruhe bemerkbar. Ebenso herrschte im Sitzungssaal großer Lärm. Schließlich ordnete der Vizepräsident die Räumung der Tribüne an, auf der sich der Vorfall ereignet hatte, und hebtschlietz lich die Sitzungaus. Auf der Tribüne kommt es dann zu Auseinandersetzungen zwischen Tribüncnbesuchcrn und einigen nationalsozialistischen Abgeordneten, die zur Tribüne herauf gegangen waren und dort einen Äcsucher herauswarsen, der sich durch Zurufe tzrrrcrLcwu hatte. Die kommmlistischcn Abgeordneten waren inzwischen hinter dem Präsidium zu den Wandclgüngcn der Nationalsozialisten vorgedrungen und gerieten mit diesen in ein heftiges Handgemenge, in dessen Verlauf die Kommunisten wieder zurückgedrängt wur den, wobei cs verschiedene Verletzte gab. Zu diesen Zusammenstößen außerhalb des Sitzungssaales wird ergänzend bekannt, daß die Kommunisten auf die Nationalsozialisten ein- gcdrungcn find und nach dem Abg. Lohse mit einem Fern- sprechapparat warfen, der einen Kronleuchter zer trümmerte, so daß die Glassplitter hernmflogcn, die den Ab geordneten Lohse erheblich am Kopse verletzten. Ebenso warfen die Kommunisten einen Tisch gegen die Na tionalsozialistcn, der wieder znrückgeschleudert wurde. Weiter ist fcstgestellt worden, daß es sich bei den, ruhe- störcnden Zwischenruf» auf der Tribüne um einen komm« nistifchen mecklenburgischen Landtagsabgcordneten handelte. Nach Wiedereröffnung der Sitzung stellt Vizepräsident Esser fest, daß die tief bedauerlichen Vor gänge durch Störung von der einen Tribüne veranlaßt worden seien. Leider hätten auch Mitglieder des Hauses in den Konflikt eingegriffen. Präsident Göring habe eine Untersuchung ein geleitet, deren Ergebnis dem Haufe noch mitgeteilt würde. Abg. Torgler «Komm.) erklärt, daß sich SS.- und SA.- Leute als Hilfspolizisten im Auftrage des Präsidenten in einem Wandelganq aufhielteu (Widerspruch bei den Naiionalsoz.). Es wird die Aussprache über das Stellvertretungsgesetz fortgesetzt. Abg. von Frehtagh-Loringhovcn (Dtn.) erklärt, es müsse auf den ersten Blick besonders einleuchten, daß es sich empfehle, dem obersten Repräsentanten der Rechtspflege vertretungsweise die Rechte des Neichsoberhauptes zu geben. Einer näheren Prüfung halte dieser Gedanke aber nicht stand. Der Reia)s- qerichtspräsidenl werde unter Gesichtspunkten ausgesucyt, du ihn gerade zum Vertreter des Reichspräsidenten ungeeignet machten. Das beweise geradezu schlagend das jüngste Leipziger Urteil, das völlig unzweifelhaft einen unerträglichen Eingriff bedeute. Die Komödie, die heute in Preußen vor sich gebe, sei Rauch. Lobe. der Staatsautorität abträglich und zeige klar, wie unzweckmäßig die Einsetzung des Reichs- gertchtsprastdenten als Stellvertreter sei. Vor allem sei dies auch Zedern parlamentarischen Gedankengang widersprechend, die Justiz über die Vollzugsgewalt hinauszuheben und den Machtgedanken hinter den des Rechtsstaates zurttcktreten zu lassen. Deshalb lehnten die Deutschnationalen diese Art der Stellvertretung ab und beantragen statt dessen, dem Reichspräsidenten selbst die Bestimmung. seines Vertreters zu überlassen. Er solle das Recht haben, durch ein politisches Testament den Vertreter für die Zeit bis zur Neuwahl zu bestimmen. Abg. Dr. Breitscheid (Soz.) meint, wenn die Sozialdemo kraten dem vorliegenden Antrag zustimmen, so leite sie dabei der Gedanke, eine Dauerrcgelung der Stellvertretung des Reichspräsidenten herbeizuführen. Allerdings geschehe das aus geuau den entgegengesetzten Gründen wie bei den Deutschnationalen. In den Kreisen des Herrenklubs sei schon die Rede davon gewesen, daß der ehemalige Kronprinz als Stellvertreter des Reichspräsidenten in Aussicht genommen worden sei. Die Sozialdemokraten wollten verhindern, daß aus solchen Plänen eine tatsächliche Gefahr für den Bestand des republikanischen Staatswesens erwachse, und würden deshalb dem Gesetzentwurf ihre Zustimmung geben. Abg. Dr. Bredt (Techn. A.-G.) stellt sich namens der Fraktion der Arbeitsgemeinschaft ebenfalls auf den Boden des Gesetzentwurfes. Es folgt dann die Abstimmung. Rach Zurückziehung des Gesetzentwurfes der Bayerischen Volkspartei wird der nationalsozialistische Gesetzentwurf in erster und zweiter Lesung gegen die Deutschnationalen und Kommunisten angenommen. Es folgt dann die Beratung der Anträge verschiedener Fraktionen auf Änderung bzw. Aufhebung von sozialpolitischen Bestimmungen der Notverordnung vom 4. September, ferner auf Winterhilfe, Arbeitsbeschaffung usw. Ein Antrag des Abg. Torgler (Komm.), zu dieser Be ratung den Reichskanzler herbeizurufen, wird gegen Kommu nisten und Sozialdemokraten abgelchnr. Abg. Kersten (Soz.) bezeichnet als verantwortlich für die Notverordnungen diejenigen Parteien, die es der Reaktion so außerordentlich leichtgemächt hätten, ihre verderbliche Politik zu betreiben. Wenn im Reichstag wieder eine Mehrheit der Vernunft vorhanden sein wird, werden auch wieder Verbesse rungen möglich sein und kommen. Abg. Börger (Nat.-Soz.) fordert die Aufhebung der Not- Verordnung vom 4. September in ihrem sozialpolitischen Teil und empfiehlt eine Weibnachts- und Winterbeihilse in Form von Lebensmitteln, Kleidungsstücken usw. für die norletdende Bevölkerung sowie eine Arbeitsbesckiafsungsaktion. ins besondere durch öffentliche Aufträge Mit dem freiwilligen Arbeitsdienst, der sich vielfach geradezu zur Sklavenarbeit aus wachse, könne man das Problem der Arbeitslosigkeit auch nicht bewältigen. Das könne erst geschehen, wenn jedem Deutschen das Recht auf Arbeit zuerkanni werde und wenn diejenigen ausgerottet seien, die von der Arbeit anderer lebten. Nur wer dem deutschen Volke eine neue geistige und seelische Grundlage gebe, könne auch seine materiellen Nöte nieistern. Abg. Pieck «Komm.) polemisiert gegen die bürgerlichen Parteien und die Sozialdemokraten. Der Streik der Berliner Verkehrsarbeiter sei der NSDAP.-Gauleitung erst durch kom munistischen Druck abgezwungen worden. Abg Dr Schmidt-Eichwalde (Dtn.) erinnerte daran, daß das deutsche Elend der Arbeitslosigkeit aus den Konng-Plan zurückzuführen sei. Hugenberg habe auch unter der Regierung Papen gegen die Notverordnungen protestiert. Man müsse Einspruch dagegen erbeben, daß man hier in wenigen Stunden Lebensfragen des deutschen Volkes über das Knie brechen wolle. Diese ganze Arbeit sei hin fällig, wenn man nicht wisse, w!e die Regierung zu den An trägen stehe Redner fordert Milderung der Not der Klein rentner und schließt: Wir kämpfen weiter unter der Fahne Schwarz-Weiß-Rot, die die Nationalsozialisten verlassen haben. Abg. Schwarzer-Oberbavern «Bavr. Vp.) erklärt, zwischen den Taten Brünings und Papens sei ein wesentlicher Unter schied. denn Brüning habe niemals die sozialen Leistungen gekürzt, ohne nicht auch gleichzeitig anderen Bevölkerungs kreisen neue Lasten ausznerlegen Darauf wurde die Aussprache abgebrochen. Die von den Fraktionen einaebrachten Amnestieanträae wurden der Aus schußberatung überwiesen. — Nächste Sitzung Freitag. Tages ordnung: Weiterbcratnng und Abstimmungen. * Zahlreiche Verletzte. Bei den Zusammenstößen zwischen kommunistischen und nationalsozialistischen Abgeordneten im Reichstag sind mehrere Personen verletzt worden. Schwerere Per letzungen haben insbesondere Kriminalbeamte erlitten, die sich zwischen die Streitenden stellten. So hat ein Beamter eine tiefe Kopfverletzung und ein weiterer eine Verletzung des Ellenbogenqelenks davongetragen. Die beteiligten Abgeordneten scheinen mit leichteren Verletzungen davon gekommen zu sein, abgesehen von dem nationalsozialisti schen Landtagsabgeordncten Lohse und dem kommunisti schen Neichst'agsabgcordncten Hörnle, die Kopfverletzun gen erlitten haben. nie Reichstagsverwaltung hat nach Vernehmung der in Frage kommenden Zeugen einen eingehenden Bericht fertiqqcstellt, der dem Neichstagspräsidenten zugeleitet werden wird. Es ist dann Sache des Präsidenten, die Fol gerungen aus diesem Bericht zu ziehen. Die Reichstags- Verwaltung bedauert die Vorgänge insbesondere deshalb, weil diese ihren Ansgang von einer bev o r zug - ten Tribüne genommen hätten, nämlich der Tribune, auf der Angehörige und Ehrengäste des Reichspräsidenten.