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Ottendorfer Zeitung : 23.12.1914
- Erscheinungsdatum
- 1914-12-23
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1811457398-191412232
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1811457398-19141223
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-1811457398-19141223
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Ottendorfer Zeitung
-
Jahr
1914
-
Monat
1914-12
- Tag 1914-12-23
-
Monat
1914-12
-
Jahr
1914
- Titel
- Ottendorfer Zeitung : 23.12.1914
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Vorweihnachten in Straßburg. Straßburg (Elsaß), im Dezember. Etwas später als andere Städte des deut schen Westens bat Straßburg sich von den Kriegssorgen , freimachen können. Lange Monate war das öffentliche und künstlerische Leben io gut wie erstickt. Das Stadttheater, das sonst im September zu spielen begann, stellte seine Räume diesmal der privaten Wohltätigkeit zur Verfügung, und in den Wandelgängen und im Royer, im Varkett und in den Logen, wo sonst die Strasburger Literatur- und Munkgemeinde sich ihr Stell dichein gab. bauten sich Kisten, Kasten und Körbe mit Liebesgaben, die nach und nach an die Tapferen im Feld geschickt wurden. Erst als die deutschen Waffeneriolge im Westen zeigten, daß rnit einer Belagerung der Stadt kaum noch zu rechnen sei, unü nach dem selbst das dem Kriegsschauplatz viel näher hegende Metz sein Theater aufgetan hatte, entschloß die Straßburger Staütverwaliung sich sür eine beschränkte Spielzeit, die Anfang Januar beginnen wird. Auch im Konzertleben wird es bald reger werden. Bisher hatten nur die Verwundeten in den fünfzig Festungslazaretten, soweit sie dam imstande waren, Gelegenheit, jeden Sonntag und manchmal auch in der Woche gute Must! zu hören. Diese Soldaien-Unter- hallungen oder Vaterländischen Veran staltungen fanden meist in der Aubette, Straß burgs altem Konzerthaus am Kleberplatz, statt. Neben Mitgliedern der Oper und des Schauspiels, die für diese künstlerischen Liebes gaben sich gern zur Verfügung stellten, kamen dann und wann auch auswärtige Künstler zu Gehör die meist im Waffenrock vor die dank baren Zuhörer traten, ehe das rauhere Kriegs handwerk sie ins Feindesland rlef. Der Zivil bevölkerung waren diese musikalischen und deklamatorischen Nachmittage so gut wie ver- schloffen, und um diesen Mangel wenigstens einigermaßen zu beseitigen, sind nun, gleich falls von Neujahr ab, größere Volkskonzerte und Symphonieabende in Aussicht genommen. Das sonstige Kunstleben wird in diesen kriegerischen Zeitläuien sich wohl kaum er heben. Die beiden Straßburger Kunstsalons, die leider nur selten andere als eltäsiische oder — französische! — Künstler gelten ließen, werden voraussichtlich weiter schlummern. Kein Mensch denkt hier an eine größere künst lerische Veranstaltung: der Mangel an führen den Geiuern aut diesem ebenso reichen wie dankbaren Gebiet, der schon in Friedenszeiten die Entwicklung der bildenden Künste hemmte, macht sich jetzt doppelt sühlbar und schädigt besonders die einheimischen Künstler, die sonst in der Vorweihnachtszeit kleine Austräge und freundliche Käufer sanden. Fast unberührt von solchen Kriegseinflüssen, nur etwas weniger umfangreich als sonst, blieb der altehrwürdige Christkindelsmarkt, der eben jetzt seine trauliche Budenstadt wieder ausgeschlagen hat. Wie zu Großvaters Zeiten finden Jugend und Kleinbürger hier den alten lieben Tand und die mannigfachen Leckereien für den Weihnachtstisch. Nament lich die Gertweiler Lebluchen, ein alt berühmtes elsässisches Gebäck, das den Nürn berger Honigwaren erfolgreiche Konimrenz macht, werden vom weihnachtlichen Straß burg in gro en Massen gelaust und diesmal auch in das Feld gesandt. In den Spiel warenzelten marschieren wie sonst die Zinn soldaten und Holzgrenadiere auf, auch an Puppen, Musik-Instrumenten, Büchern unü allerlei Scherzartikeln ist kein Mangel. Nur die herkömmlichen „ stiou-Piou" aus farbiger Pappe, die aus Straßburgs Franzosenzeit sich in die Gegenwart gerettet hatten, scheint der rauhe Mars ein für allemal aus den Buden gefegt zu haben. Dafür wachsen nun aber wieder die deutschen Tannenoäume aus dem Stra enpstaster, und bald werden ihre bunten Kerzen selbst in der ärmsten Straßburger Familie als liebes Symbol echtdeutscher Weihnacht ihre Friedenslichter leuchten lassen. Von stak unä fern. Pflege der Kriegergräber in Belgien. Die Präsidenten der Zivilverwaltungen der belgischen Provinzen sind vom Verwaltungs ¬ chef beim Generalaouverneur angewiesen worden, sür die Erhaltung und Pflege der Grabstätten der Gefallenen Sorge zu tragen. Die Gräber sind zu be-eichnen, beziehungs weise die vorhandenen Bezeichnungen wetter fest zu machen und durch Eintragung in gemeindeweise anzufertigende Karten festzu legen. Folgenschwere Explosion. Im Kaiser- Wilhelm - Institut in Dahlem bei Berlin explodierte ein Gla^geiäß. Der Abteilungs vorsteher Prof. Dr. Otto Sackur wurde durch Glassplitter so schwer verletzt, daß er wenige Stunden nach der Katastrophe verstarb. Dem Stellvertreter des Direktors Prof. Dr. Ger hard Just wurde die rechte Hand abge rissen. Der Direktor Geheimrat Professor Dr. Fritz Haber, der im Augenblick der Explosion den Raum betrat, ist unverletzt ge blieben. Das Gebäude und der Raum selbst haben nur geringen Schaden erlitten. Entflohen — doch wieder gefangen. Füni aus dem Gefangenenlager in Ingolstadt entflohene sran-ösische Offiziere, welche Zivil- kleiüung trugen, wurden bei dem Versuch, die österreichische Grenze zu erreichen, festge nommen und nach Füssen in der Schweiz ein geliefert. Eine türkische Moschee in Budapest. Der Gemeinderat in Budapest hat unter Sympathiekundgebungen die Kosten der Er richtung einer türkischen Moschee mit Nück'cht darauf bewilligt, daß sich in Budapest 2000 Mohammedaner ständig aushalten. Durch Minen vernichtet. Der Dampfer „City" landete in Tyne zwö f Gerettete von dem englischen Dampier „Elterwaler", der aut eine Mine stieß und sank. Der Kapitän der „City" erzählte, er habe später noch zwei andere Dampfer in die Luit fliegen sehen. — Ein kanadischer Regierungsdampfer ist mit Mann und Maus untergegangen. Man glaubt, daß das Schiff an der Rordküste von Irland auf eine Mine stieß: Auch das Kohlenschiff „Sharon", das vor länger als einem Monat aus Sidney (Neuschottland) abgefahren ist, wird vermißt. Die Besatzung bestand aus 30 Mann. Hochwasser in Oberitalien. Mehrere Tage andauernde wolkenbruchartige Regen güsse und schwere Gewitter haben den Arno über seine Ufer treten lassen. Besonders auf dem Lande in der ganzen Umgegend wurde schwerer Schaden angerichtet. Auch aus Pisa, Pi «oia, Pontedera und der gesamten Arno gegend werden große Schäden durch Über schwemmung gemeldet. Auf den Feldern steht das Master 160 Meter hoch. Florenz ist in'olge der Beschädigung des Elektrizitäts werkes ohne elektrisches Licht. Ein neuer italienischer Kanalbau. In Novara fand die feierliche Grundsteinlegung sür einen neuen Kanal zwiicken dem Lago Maggiore und Domodoffola statt, dessen Bau kosten aus etwa acht Millionen Lae geschätzt werden. > er neue etwa 24 Kilometer lange Kanal soll der Schiffahrt dienen und gleich- zeitig die Gewinnung von 20 000 Pferdekräiten aus dem Ge'älle gestalten. VolkswirllNafEckes. Haferflocken als Boltsnahrungsmittel. Bei der Beköstigung der Gefangenen in den dem preußischen Ministerium des Innern unterstellten Strafanstalten ist schon' vor mehreren Wochen die Verwendung von Haferflocken angeordnet wor den. Bei der erheblichen Bedeutung, die jede Einführung eines neuen ebenso billigen wie guten Nahrungsmittels in der jetzigen Kriegszeit sür die weitere Sicherstellung unserer Volksernährung hat, wird sich aber auch außerhalb jener Anstalten die Verwendung von Haferflocken sür die tägliche Nahrung dringend empfehlen. Um die Sache tunlichst zu fördern, hat der preußische Minister des Innern durch einen neuerlichen Erlaß auch den Oris- und Kreiskommunai Verwaltungen an heimgeben lasten, sür ihre Anstalten ähnliche An ordnungen in Erwägung zu nehmen wie sie für die Stralanstalten getroffen sind. Die Ge meindeverwaltungen werden der Sache auch noch weiter dadurch Förderung zuteil werden lassen können, daß sie mit den am Orte bestehenden Wohlfahrtseinrichtungen — Rotes Kreuz, Vater- ländycher Frauenoerein u. a. — wegen Verwen dung von Hafirflocken in den Volks- und Not- stanosküchen und ähnlichen Anstalten m Ver bindung treten. Die Haierflocken sind nur von inländischen Firmen zu beziehen. Bevorstehende Änderung des Gesetzes über Höchstpreise. Gegenwärtig finden in den Ausschüssen des Bundesrats Beratungen über eine Abänderung des Gesetzes betr. Höchstpreise vom 4. August d. Js. statt. Nachdem das Gesetz nunmehr über vier Monat in Geltung ist, reichen die inzwischen gemachten Erfahrungen aus, um eine Reihe von Abänderungen vorzunehmen. Unter anderen werden auch die Bestim mungen über die Beschlagnahme eine Um gestaltung erfahren. — Es ist ferner schon in nächster Zeit eine Bundesratsverordnunq zu er warten, durch welche die früheren Verordnungen über die Festsetzung von Höchstpreisen sür Gerste, Hafer und Kleie abgeändert werden. Es dürften dabei eine Reihe von Wünschen aus den Kreisen der Interessenten berücksichtigt werden. Der Hauptzweck der Abänderungen ist eine Erleichte rung der Versorgung des Marktes mit diesen Waren. Graulame Kriegführung. Anklagen gegen die Franzosen. Gegen die französische Kriegführung wird in der .Frankfurter Vo'ksstimme' nachstehen der Protest von einem Mann erhoben, der bet den lebten Reichstagswahlen sozialdemo.ra- tischer Kandidat war. ..... Überhaupt komme ich mehr und mehr zu der Überzeugung, daß die Franzosen gegen ihr eigenes Land und ihre Leute keine Rück 'cht kennen. Vor einigen Tagen wurden ein Mädchen von etwa SO Jahren und zwei kleine Kinder schwer durch eine französbche Granate verletzt. Die Franzosen schreiben von deutschen Barbaren: sie sollten nur mal sehen, wie ihre Bevölkerung einzig und allein durch uns ernährt wird und welch freund licher Verkehr zwilchen uns und der Bevölke rung herrscht, dann würden die Herrschaften bald mit ihren Vor würfen zu Ende sein. Was sagt die zivilisierte Welt aber zu folgender Tatsache? Gestern blieb in einer Schießscharte an unseren Schützengräben ein französisches Jnsanteriegeschoß stecken. Als wir es herausmachten, fanden wir, daß das Ge schoß vorn platt geieilt war und hinter der Spitze eingekerbt ist, also zurecht gefeilt ist, daß es viel schlimmer als ein Dum-Dum- Geschoß wirken muß. Wer einen solchen Schuß bekommt, ist verloren, denn ein solches Geschoß reißt faustgroße Löcher. Das gefundene Geschoß ist dem Bataillons stab 2/88 übergeben und wird jedenfalls ans Haup quartier geschickt. Ich hätte es selbst nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Unsere ganzen Kame raden sind über eine solche Kampesweise empört. Sorgen Sie dafür, daß es der zivilisierten Welt bekannt wird. Wir reinigen unsere Geschoße von jedem bißchen Schmutz, und die Gegner betreiben solche Gemeinheiten. Was, so srage ich als Sozialist, sagen dazu unsere Genoffen in Frankreich, was sagen Guesde, was Viviani dazu? Sie sind als Staatsmänner mit für solche Missetaten ver antwortlich, und ich weiß nicht, was ich noch von allen Haiten fast, wenn sie nicht bald dafür sorgen, daß solche barbarischen Gemein heiten unterbleiben. Ich wünschte, diese meine Zeilen erreichen diese Genossen, denn ich nehme an. sie wissen selbst nicht, was in ihrem Heere geschieht. Wehrmann M. Sch. (Hanaut. Vermischtes. Die Zigarre des Kaisers. Wie hollän dische Blätter melden, wurde in London vor einigen Tagen eine Zigarre, die Kaiier Wilhelm H. einst dem Lord Londsdale ange boten hat, versteigert. Anläßlich eines Be suches hatte der Kaiser dem Lord die Zigarre aus seiner Taiche überreicht. Dieser bewahrte sie auf und schenkte sie später einem Gulsbe- sitzer in Hamoledon. Diese Zigarre wurde nun zugunsten des Roten Kreuzes versteigert. Sie erreichte den Breis von 14 Pfund 10 Shilling (rund 300 Mark) und ging darauf in das Eigentum einer GroßMächterei über. Kaiser und Feldpost. Ein württem- bergischer Offizier aus der Front teilt folgen des Vorkommnis mit: Die Frau eines Unter offiziers vom 119. Infanterie-Regiment hatte sich mit ihren Beschwerden über dis Feldpo: direkt an den Kaller gewandt. Sie schrieb da u. a.: „Erhabener Landesherr! Mit der Post stimmt's aber gar nicht. Mein Mann erhält keinen einzigen von meinen Briefen. Bitte, tun Sie mir den einzigen Gefallen und sehen Sie einmal selber nach bet der Post." Der Brief kam bis ans Reichskanzleramt und die Oberieldpostbehörde mußte genaue Er hebungen anstellen. Da stellte sich dann her aus. daß die Frau sämtliche Briefe falsch adressiert batte. Kriegsereignis!e. 12. Dezember. Die Franzosen verlieren in Flandern bei einem vergeblichen Angriff 200 Tote und 340 Gefangene. Französische Vorstöße bei Souain und im Argonner Walde werden zmückgewiesen. ebenso der Apremont und bei Markirch. Die Deutschen erobern im Argonner Walde einen wichtigen Stützpunkt des Feindes. — An der off, preußischen Grenze wirft deutsche Kavallerie russische zurück und macht 350 Gefangene. - In Südpolen schlagen österreichisch-unga rische und deutsche Truppen russische Angriffe zurück. — Franzö ische Niederlage bei Ftney. Französische Verluste 600 Gefangene, viels Tote und Verwundete, deutsche Verlüde nur 70 Verwundete. - In Nordpolen Sieg über die R flen, 11000 Gefangene, 48 Maschinen gewehre erbeutet. — Dre Österreicher schlagen die Russen bei Limanowa (West galizien). 13. Dezember. Französische Angriffe in den Vogesen abgewieien. — Die Österreicher müssen wegen des Auftretens starker serbi scher Krä'te die Offensive in Südserbien vor läufig auffchieben. 14. Dezember. Die Österreicher besetzen in Westgalizien Dukla. Sie machen in den Karpathen 9000 russische Geiangene. 15. Dezember. Bei vergeblichen Vorstößen er leiden die Franzosen starke Verluste. — Die Österreicher dringen in Westgalizien vor. 31000 Russen werden gefangengenommen. 16. Dezember. Auf dem westlichen Kriegs schauplatz Abweisung eines abermaligen Versuchs des Feindes, über Nieuport mit Unterstützung durch das Feuer von Kriegs schiffen vorzustotzen. 450 -Franzosen bleiben gefangen in den Händen der Unseren. Eine von den Franzosen zäh gehaltene Höhe bei Sennheim wird von den Deutschen erstürmt. — In Norüpolen verlieren die Russen mehrere starke Stützpunkte. Die Deutschen nehmen 3000 Mann gefangen und erbeuten vier Maschinengewehre. — Die Türken erringen im nautasus und an der persischen Grenze weitere Erfolge gegen die Russen. Ein deutsches Kreuzergefchwaöer beschiesst die befestigten Küstenplätze Scarborough, Hartepool und Whitby an der Ostrüste Englands. — In Galizien und Südpolen wiro der fliehende Femd von den Öster reichern verfolgt. — Die Türken erobern im Wilajet Wan die russische Stellung bei Sarai. 17. Dezember. Großer Sieg über die Russen in ganz Polen. Die russischen Armeen über all zum Rückzug gezwungen. Sie werden energisch verfolgt. — Auf dem westlichen Kriegsschauplatz werden mehrfache Angriffe der Franzosen zurückgewieien. 6oläene (LLorte. Alles Glück auf Erden, Freunde, gibt der Kampf! Ja, um Freund zu weroen. Braucht es Pulverdampf! Eins in Drein sind Freunde: Brüder vor der Not, Gleiche vor dem Feinde, Freie — vor dem Lod! Nietzsche. Das köstlichste Gut, die deutsche Sprache, die alles ausbrückt, das Tiefste und das Flüchtigste, den Geist, die Seele, die voller Sinn ist: die deutsche Sprache wird die Welt beherrschen. Schiller. Viel erringt männlicher Schweiß: Doch schenkt ein Gott nur, welchem er will, Unsterblichkeit. Unter diesen Umständen war es kein Wunder, wenn das Leben bald wieder seinen alltäglichen Verlauf nahm. Der französische Oberbefehlshaber hatte bekannt gegeben, daß er vorläufig von Verhaftungen unter der männlichen Bevölkerung absehen wolle, so lange nicht Beschwerden über das Verhalten der Bevölkerung einlaufen und unter der Voraussetzung, daß es keine deutschen Wehr pflichtigen in der Stadt gebe. Er hatte dem gemäß auch alle Primaner unter strenge Aufsicht stellen lassen. Aber der alte Professor Lange war nicht ein Mann blasser Furcht. Mehrere seiner jungen Leute hatten schon wiederholt gebeten, noch zu einem zweiten Notexamen zugelassen zu werden. Anfangs hatte sich der Direktor gesträubt, aber nach einer gemeinsamen Be sprechung der Lehrerschaft darein gewilligt daß sich noch vier Primaner einer solchen Prüfung unterzogen. Das Gymnasium, ein altehrwürdiger Bau, der noch aus der Zeit der Franzosenherrschaft im Elsaß stand, lag abseits der Stadt, hart an dem Wege, der nach Mülhausen führte. Um S Uhr vormittags sollte das Examen be ginnen. Als gerade der Direktor feine An sprache an die jungen Leute gehalten hatte,, drang ein dumpfer Donner aus der Ferne — die deutsche Artillerie hatte Falkenhausen und Willweiler angegriffen, die etwa einen Kilo meter ostwärts vor der Stadt lagen. Und nun wurde wohl das seltsamste Examen abgehalten, das je in einer deutschen Lehranstalt stattgefunden hat. Unter Be gleitung des schaurig-gewaltigen Duells zwischen deutscher und französischer Artillerie wurde zwischen Lehrern und Schülern Fragen und Antworlen ausgetauscht, bis in später Nach mittagsstunde das Ziel erreicht war. Vier hoffnungsfrohe junge Leute batten den Nach weis erbracht, bie Zeit der Schule gut ange wendet zu haben. Mit den Segenswünschen des Direktors verliehen sie die Anstalt. Freudestrahlend eilten sie nach Hause — es handelte sich für sie jetzt nur noch darum, un gesehen nach Straßburg zu kommen. In der Kreisstadt herrschte fürchterliche Aufregung. Gegen Mittag verbreitete sich das Gerücht, daß Willweiler von den Deutschen nach schwerem Kampfe genommen worden sei. Eine Stunde später erschien im Granatfeuer der Franzosen ein deutscher Flieger, der eine Botschaft abwarf. „Liebe Landsleute," las der Pförtner der kleinen Brauerei, der unge sehen die Botschaft aus dem Garten, in den sie gefallen war, geholt hatte. „Um den Feifid aus dem Lande zu jagen, müssen wir morgen eure Stadt beschießen. Wlll's Gott, ist das Elsaß in wenigen Tagen frei!" Der Pförtner wußte wohl, daß der franzö sische Generalmajor strengsten Beseht gegeben hatte, derartige Fundstücke auf dem Rathauie abzugeven. wie überhaupt von allem Ver dächtigen dort Meldung zu machen: aoer er wußte doch auch, doch diele Nachricht sür die Einwohner der Kreisstadt von ungeheurer Bedeutung war. Er barg deshalb den kost baren Zettel in der Innentasche seiner Bluse, während er das Fahnentuch, das der Bot schaft als Hülle gedient hatte, an dem Platze liegen ließ, an dem es ntedergejallen war. Seine Vorsicht erwies sich als not wendig: denn kaum hatte er seinen wertvollen Fund geborgen, als auch schon einige französische Reiter herangesprengt kamen, die offenbar das Niederfallen des Fahnentuches genau beobachtet hatten. Sie durchsuchten den Garten in allen Winkeln, schließlich aber begnügten sie sich mit dem Fahnentuch, das sie in Fetzen rissen. Der Pförtner Pigall aber schlenderte unangefochten über den Marktplatz, die enge Rußbrenner gasse hinab zum Hohen Bars, an Lessen Ende, dort, wo die Straße ins Feld führte, Las „Löwenbräu" lag. Vater Pigall war eine bekannte und be liebte Persönlichkeit in der Stadt. Er wurde darum am Stammtisch mit großem Jubel empfangen. Seit die Franzosen in der Stadt herrschten, hatte der Stammtisch sich in einem kleinen Hinterzimmer niedergelassen, in das nur Leute tamen, die seit Jahren hier bekannt waren. „Vater Pigall bringt Neuigkeiten," erscholl es von ver,chiedenen Seiten zugleich. Der Alte legte den Finger auf den Mund, griff in feine Blusentasche unü entnahm ihr oas Schreiben, bas der deutsche Flieger heruntergeworM hatte. Wortlos reichte er das Blatt dem Zunächstsitzenden, dem Fteischermeister Hädecke. Am Tisch war es plötzlich still geworden. Einer nach dem andern las das Blatt, und in die Stille, die bleiern über dem Zimmer lag, in Lem sonst Scherzworte und laute Reden, Gesang und Gläserklang erschollen, drang von Minute zu Mmute heftiger werdend Kanonendonner. „Dann ist es am besten, man zieht nu los," sagte endlich Hädecke. „Denn wenn sie hier miteinander kämpfen, bleibt doch kein Stein aut dem anderen." Niemand vermochte etwas zu er widern. Mit einem Male empfang man den Geist der neuen Zeit. Als die deutschen Truppen aus der Grenzgarnison durch die kleine Stadt kamen, hatte man befreit aufgeatmet. Hier also würde es nicht zum Kampfe kommen. Als dann die Franzosen kamen und täglich neue Ver sprechungen machten, während sie täglich neue versteckte Drangsalierungen ersannen, stieg zum ersten Male in einigen Denkenden heimliches Weh auf. Nun aber pochte das Schicksal mit ehernem Finger an die Pforie und plötzlich, aus aller Not der Stunde, ward ein neues Nationalgesühl in diesen Menschen geboren. Mit einem Male durch zuckte biese sonst so gleichgültigen Herzen der heiße Wunsch, Deutschland möge siegen, rnit Urgewalt eroberte auch diese Seelen die Liebe zur Scholle, die sie beackert und auf der sie gelebt hatten. . Sie begriffen den Sinn dieses Krieges. Es galt nicht mehr die Frage um den Besitz der beiden Provinzen zu entscheiden, es handelte sich vielmehr um Weiv und Kind, um Recht und Freiheit, mit einem Wort: um die Heimat, oie in den 44 Jahren deutsch geworoen war, wie sie es einu gewesen. Freilich waren auch einige unter ihnen, die seit je mit Frankreich gelied- äugelt hatten: aber auch sie konnten sich in diesem Augenblick, da die Entscheidung nahte, keine Rechenschaft darüber geben, weshalb sie zu Frankreich neigten. Da waren wohl Kind- heitsertnnerungen am Werke, UverlieferungerL Ru i« (Fortsetzung wlgt.-
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