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Lumpen — Zellstoff. Das Verbot und die Verhinderung der Einfuhr der Lumpen in die Vereinigten Staaten von Amerika war eine der Ursachen der in letzter Zeit eingetretenen Besserung der Lage des euro päischen Papier- und Zellstoffmarktes. Die Vertheuerung und Verminderung der Lumpen in Amerika hatte nämlich zur Folge, dass die dortigen Papierfabrikanten mehr Zellstoff verarbeiten mussten und grosse Aufträge nach Europa sandten. Zellstoff wurde hier knapp und theuer und verursachte in Verbindung mit knappem Wasser eine Verminderung der Erzeugung und Erhöhung der Papierpreise. Die amerikanischen Papierfabrikanten haben in den letzten Monaten kein Mittel unversucht gelassen, um das Verbot und die Erschwerung der Lumpen-Einfuhr zu beseitigen. Die Behörden der Vereinigten Staaten folgten jedoch der Volks- Stimmung, welche eine unbegrenzte Furcht vor der Cholera zeigte, und haben bis jetzt alle Gesuche der Papierfabrikanten abgelehnt. Am 14. Dezember v.J. machte eine Abordnung der amerikanischen Papierfabrikanten, darunter auch mehrere Kongress-Mitglieder, dem Schatz-Sekretar Minister Charles Foster ihre Aufwartung. Man wollte durch mündlichen Vortrag eine Zurücknahme oder Aenderung des Foster’schen Erlasses vom 9. August vor. Jahres herbeiführen, welcher die Entseuchung eingeführter Lumpen vor schreibt. Man führte aus, dass noch niemals durch Lumpen Cholera übertragen worden, also die vorgeschriebene Entseuchung nutzlos und überflüssig sei, und es wurde für diese Behauptung eine Reihe von Beweisen angeführt. Der Minister erklärte, dass er der Industrie keine Verlegenheit schaffen wolle, aber die Pflicht habe, die Cholera aus dem Lande zu halten. Da er nicht Sach verständiger sei, müsse er sich auf die Ansicht der Aerzte und besonders des mitanwesenden Generalarztes Wyman stützen. Letzterer legte eine Liste von Orten vor, in welche Cholera durch Lumpen eingeführt worden sei. Lumpen stammten übrigens haupt sächlich aus Kleidern, denen Cholera-Keime leicht anhafteten, und er verlas eine Liste von Städten, wohin die Seuche durch Kleider gebracht wurde. Die Furcht vor Uebertragung der Seuche auf diesem Wege habe auch verursacht, dass beinahe alle fremden Regierungen die Lumpen-Einfuhr verbieten. Dr. Wyman verlas auch ein Telegramm des Marine-Arztes Dr. Kingoun, der als Abgeordneter einer Versammlung der »American Public Health Association« in der Stadt Mexiko bei wohnte. Dr. Kingoun hatte die Ansichten aller anwesenden Sanitäts-Gelehrten erforscht und fand dieselben einstimmig der Ansicht, dass der Erlass vom 9. August in Kraft bleiben müsse. Dr. Wyman verlas ferner einen Auszug aus der »New York Sun«, wonach 75 pCt. der Lumpensammler von St. Petersburg, welche während der letzten Seuche dort ihrem Geschäfte nach gingen, an der Cholera gestorben seien. Der Minister fügte hinzu, dass die Regierung mit Rücksicht auf die Ausstellung in Chicago alles thun müsse, was in ihrer Macht stehe, um die Seuche fern zu halten. Infolge dieser Erklärung beschränkten sich die Papier fabrikanten darauf, um Erleichterung der Vorschriften für Ent seuchung zu bitten, und der Minister versprach nach dieser Richtung hin möglichst entgegenzukommen. Hiernach scheint es aussichtslos, dass der jetzige Zustand im kommenden Jahr irgendwie geändert wird, die Nachfrage aus den Vereinigten Staaten nach Zellstoff wird deshalb voraus sichtlich unverändert bleiben. In »The Paper Mill« lesen wir, dass der Dampfer Alabama am 8. Dezember v. J. 1000 Ballen Lumpen für Felix Salomon & Co. nach New York brachte. Dieselben wurden jedoch von den Ge sundheits-Beamten in Quarantäne gehalten, weil sie nach privater Mittheilung aus Europa in Gegenden Deutschlands gesammelt waren, wo die Cholera geherrscht hatte. Felix Salomon & Co. behaupteten dem entgegen, dass die Lumpen bei Geestemünde gesammelt und verpackt wurden, ehe die Cholera ausgebrochen war, und dass dort, während die Seuche herrschte, ebensowenig Cholerafälle vorkamen wie in New York. Die Lumpen gehörten zu den theuersten Sorten, die durch viele Hände gehen müssen, und seien vollständig rein. Der Beamte verweigerte jedoch die Ausladung, weil die Lumpen aus Deutschland kämen, und weil er überhaupt keine zulassen würde, welche aus Ländern stammten, in denen die Seuche während des Jahres 1892 geherrscht hätte. Er wisse übrigens auch, dass ein Theil der in den 1000 Ballen be findlichen Lumpen im vergangenen Sommer an Stellen von Hannover gesammelt wurde, wo die Cholera herrschte, habe auch kein Vertrauen zu der in anderen Ländern ausgeführten Ent seuchung und werde die 1000 Ballen keinesfalls landen lassen. Berichte unserer Korrespondenten. (Aus Russland.) St. Petersburg, Dezember 1892. Ich würde Ihnen gerne öfter Berichte über Russland und russische Verhältnisse senden, aber ich fürchte, »wess das Herz voll ist, dess läuft die Feder über,«. Ueber hiesige Verhältnisse berichten und die brennendsten Tagesfragen unberührt lassen, ist ebenso unmöglich, als sie berühren, ohne Politik und Sozialismus zu streifen. Vor dem Arbeiterstreik werden wir hier wohl noch lange gesichert sein, da die leisesten Versuche, die hier den ge fürchteten und verrufenen Namen »Bunt« führen, aufs Aller energischte sofort durch die polizeilichen Organe unterdrückt werden. Hierbei will ich auch gleich bemerken, dass die Inter essen der Arbeiter aufs Wärmste durch die erst unlängst ins Leben gerufene Institution der Fabriks-Inspektoren wahrgenommen werden. Fühlt sich ein Arbeiter in irgend einer Hinsicht be- nachtheiligt, so wendet er sich schriftlich oder persönlich an den Fabriks-Inspektor seines Bezirks, der die Angelegenheit zu unter suchen und ihm sein Recht zu verschaffen oder sein Unrecht nachzuweisen hat. Ich muss sagen, dass in den Fällen, die mir bekannt geworden sind, dies nicht ungefährliche Rechtsprechen mit Umsicht und Verständniss gehandhabt wurde und manchem unangenehmen Streite vorgebeugt hat. Namentlich hat auch die Thätigkeit dieser Inspektoren dem früher hier so sehr beliebten, übertriebenen Ausnutzen der Arbeiter, das darin bestand, dass junge Kräfte vom Dorfe bezogen, schlecht untergebracht, noch schlechter beköstigt und fast garnicht bezahlt wurden, einen Riegel vorgeschoben. Wenn nun auch das Schreckgespenst der Arbeiter-Ausstände hier noch fehlt, so macht sich leider eine unerfreuliche Ausländer hetze geltend. Während sich früher nur der nicht gerade beste Theil der Presse damit beschäftigte, ist man jetzt schon wieder einen Schritt weiter gegangen. Ein Herr Bjelow hat in einem Verein zur Hebung von Handel und Industrie einen langen Vor trag über die Gründe »des Ueberflügelns der russischen Industrie durch die polnischen Kolonisten« gehalten, und nachdem er nach gewiesen, dass die polnischen Fabriken hinsichtlich ihrer Rohstoffe, Löhne usw. eher ungünstiger als die russischen Fabriken liegen, den ganz richtigen Grund festgestellt, dass die meist höhere In telligenz der dort beschäftigten ausländischen Meister die Schuld an der Ueberflügelung trägt. So weit wäre ja alles ganz richtig; nun kommt aber eine merkwürdige Schlussfolgerung. Nach meiner Meinung müssten die bedrängten russischen Fabriken sich ebenfalls nach intelligenten Meistern umsehen, und ich als Fabrikant würde solche nehmen, ganz gleich ob Russe oder Japaner, statt dessen zieht Herr Bjelow den umgekehrten Schluss: »Die Ausländer müssen aus Polen heraus!« Ja, nicht nur Herr Bjelow zieht diesen Schluss, sondern die Versammlung spendete endlosen Beifall, und die Zeitungen sind voll des Jubels, dass endlich der richtige Ausweg gefunden sei, die russische Industrie zu heben. Der Vortragende hat auch versucht, den Beweis von der Niederträchtigkeit dieser ausländischen Meister zu liefern, die nach seiner Angabe nicht etwa herkommen, um unsere jungen Leute zu unterrichten, sondern ihr Wissen als Geheimniss be handeln. (Den Meister möchte ich sehen, der sein schwer errungenes Wissen und Können, das eben sein Kapital darstellt, zum all gemeinen Besten hingiebt!) Auch ein Beispiel wird für das verwerfliche Verhalten der ausländischen Meister angeführt: Ein polnischer Fabrikant wünscht, dass sein Sohn in alle Geheimnisse der Fabrikation eingeführt würde, und befiehlt dies seinen Meistern. Diese weigern sich aber, dem Befehl nachzukommen, und ziehen es vor, die Arbeit niederzulegen, sodass die Fabrik zum Stillstände kommt. Wie das nun weiter mit der Austreibung der verhassten Aus länder gehalten werden soll, scheint mir eine sehr schwer lösliche Frage, denn die wirklich nicht russischen Unterthanen bilden nur einen verschwindend kleinen Theil, während sich die Hetze gegen Alle »Nemtzi« richtet, womit der Russe bekanntlich alles be zeichnet, was nicht von russischer Abstammung ist, sodass der weitaus grössere Theil russischer Unterthanen aus den Ostsee- Provinzen, aus Polen und Finnland, Personen, die seit Generationen in Russland leben, die sich durch Fleiss und Intelligenz ihre Stellungen errungen haben, unter diese Bezeichnung fällt. Mancher Russe würde sich freilich sträuben, seinen Gehilfen, nur weil er ein »Nemetz« ist, zu entlassen. So ist mir bekannt, dass in den Druckereien der Haupthetzblätter »Nemtzi« in ersten Stellungen sind und darin sicherlich nicht ohne guten Grund gehalten werden.