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Wilsdruffer Tageblatt : 25.07.1925
- Erscheinungsdatum
- 1925-07-25
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-192507254
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19250725
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19250725
- Sammlungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1925
-
Monat
1925-07
- Tag 1925-07-25
-
Monat
1925-07
-
Jahr
1925
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 25.07.1925
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Vriands SiWendmigtn gegen die Aste. Französische Vorbereitungen für die Antwort. Die Verhandlungen zwischen Paris und London über die deutsche Antwortnote sind bereits im Gange. Wie das Havasbureau offiziell mitteilt, hat der Minister des Aus wärtigen, Briand, die gründliche erste Prüfung der deut schen Sicherheilspaktnote vollendet. Briand richtete an den französischen Botschafter in London ein langes Schreiben, in dem er ihm das Ergebnis feiner kritischen Untersuchung auseinandersetzt und ihn beauftragt, Cham berlain die zahlreichen Vorbehalte der französischen Regie- rung zu unterbreiten. Die Kritik der Note bezieht sich aus folgende sechs Fragen: 1. Rheinlandbesetzung, 2. Deutschlands Aus legung des Schiedsspruchs, 3. Sanktionen zur Wiedergut machung der Verstöße gegen die Neparationsverpflichtun- gcn, 4. Sanktionen auf Grund von Verfehlungen gegen die Vbrüstungsklausel, 5. Garantierung der Schiedsgerichts- Verträge für die Ostgrenze, 6. Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund. Briand hatte eine lange Unter redung mit dem polnischen Botschafter. Es wird vermutet, daß hierbei besonders die Frage des Durch- marschrcchtes im Falle eines russisch-polnischen Konfliktes Gegenstand der Aussprache bildete. Auch die französischen Vertreter in Warschau und Prag wurden beauftragt, die polnische bzw. tschechoslo wakische Negierung zu unterrichten, daß, wenn auch die Antwort des Deutschen Reiches die Eröffnung von Ver handlungen mit Deutschland gestatte, sich dennoch daraus ernste Gegensätze zu der französischen Auffassung ergäben, einmal hinsichtlich der Auslegung des Artikels 16 des Völkerbundpaktes, der das Vorgehen der angeschlosse nen Staaten im Falle eines Konflikts regelt, und anderer seits hinsichtlich der deutschen Vorbehalte bezüglich des Schiedsgerichtsverfahrens. Frankreich wird nach Ein- holung der Ansichten aller am Pakt interessierten alliierten Mächte eine Antwort an Deutschland aussetzen, die in Berlin überreicht werden wird, nachdem sich die Alliierten über den Wortlaut endgültig geeinigt haben. iürin» vscbrlGlrn j Tagung des Auswärtigen Ausschusses. Berlin, 23. Juli. Der Auswärtige Ausschuß des Reichs tags behandelte den Gesetzentwurf über den deutsch-schwedi schen und den deutsch-finnischen Schiedsgerichts- und Vcr- gleichsvertrag. In der Eörterung kam insbesondere der Wunsch znm Ausdruck, daß dem Auswärtigen Ausschuß des Reichstags möglichst bald Gelegenheit gegeben werde, zu den Grnndproblemen ves Systems der Schiedsgerichtsvertrüge Stellung zu nehmen. Damit erklärte sich der Regierungsver treter einverstanden. Die Beratung wandte sich dann zu dem Gesetzentwurf betreffend den Warenaustausch zwischen Deutschland und dem Saarbeckengebiet in Verbindung mit einer Diskussion über die deutsch-französischen Handelsbe ziehungen. Zustimmung zum ZMompromiß. Berlin. 23. Juli. Im Handelspolitischen Ausschuß des Reichstages, der heute die Generaldebatte über die Agrarzölle fortsetzte, erklärte Reichsernährungsminister Graf Kanitz: Ich bedauere, daß die Mindestzölle sür Getreide gefallen sinv, weil gerade das Getreide nach den Erfahrungen der Kriegs wirtschaft das Hauptkernstück der deutschen Volkswirtschaft bildet und daher besonderen Schutz braucht. Die Reichs regierung sieht jedoch ein, daß bei einer gewissen Verschiebung innerhalb der Produktion heute Vieh und Fleisch einen viel größeren Wert einnehmen als früher. Der Reichsregierung er scheint die völlige Freigabe von Gefrierfleisch be denklich. Die Mckldestzölle sür Vieh und Fleisch, die einen gewissen Ausgleich schaffen, sind zu begrüßen. Auf die Frage des Abg. Breitscheiv, ob die Reichsregierung der Ansicht sci, daß eine qualifizierte Mehrheit sür den ErmächtigungSanlrag erforderlich ist, habe ich zu antworten: Die Reichsregierung bestreitet diese Auffassung. Auf die Bemerkung des Abg. Breit- schcid, daß bis znm gegenwärtigen Augenblick kein Beschluß der NeichLrcgicrung zum Kompromiß vorliege, erklärte der Reichs- ernährnngsminister weiter: Ohne ein Geheimnis preiszugeben, kann ich schon jetzt Mitteilen, daß die beteiligten Ressortminister, Wirtschafts- und Finanzministcr, bereits ihre Zusti m m u n g znm Kompromiß gegeben haben. Ableben der Schriftstellerin Diederichsen. Bremen, 23. Juli. Die bremische Heimatdichterin Anni L iederichsen, die im Verlag Karl Schünemann-Bremen bei der Redaktion der Zeitschrift Niedersachsen seit dem Jahre 1905 tätig gewesen ist, ist in Rotenburg im 70. Lebensjahr gestorben. Als ihre erfolgreichsten Werke, durch die sie in weitesten Kreisen bekannigeworden ist, sind der Gedichtband „Gladiolen" sowie namentlich das häufig aufgeführtc „Niedersächsische Trachten- cstfpicl" zu nennen. Schweres Sammlück in Siutigatt. Stuttgart, 23. Juli. Heute wichen die für die neue große Gtadtyalle, die im nächsten Monat durch den deutschen Katholikentag erstmalig in Betrieb genommen werden sollte, bereits ansgcnchteten sechs Hanptkonstruktionsbindcr dem Luft- M'uck und stürzten unter furchtbarem Krachen zusammen. Zahl reiche an dem Bau beschäftigte Arbeiter wurden unter den Trümmern begraben. Bisher sollen fünf Tote und etwa fünfzehn Schwerverletzte geborgen sein. Die Feuer wehr sowie Arzte und Pflegerinnen waren sofort zur Hilfe leistung erschienen. Bei der Notlandung verunglückt. Baden (Schweiz), 23. Juli. Gestern abend gegen 11 Uhr ging bei einer Notlandung in der Nähe von Uutersiggenthal (Kanton Aargau) ein deutsches Verkehrsflugzeug zu Bruch. Einer der Insassen, ein Dr. Lindenberg, Baden-Baden, ver unglückte tödlich; die drei übrigen Insassen erlitten leichtere Verletzungen. Reife des Kopenhagener deutschen Gesandten nach Jütland. Kopenhagen, 23. Juli. Der deutsche Gesandte von Mutlus ist von seiner Reise nach dem nördlichen Jütland zurückgekehrt, wo er die deutschen Konsulate besuchte. In Skagen legte er cm dem Grabe der deutschen Marinejoldaten, die in der Skagerrakschlacht ums Leben gekommen sind, Kränze, nieder und traf Vorkehrungen für die künftige Instandhaltung des Grabes. * Amerikanisch-chinesischer Zwischenfall. Eigener Fernsprechdienst des „Wilsdruffer Tageblattes". Neu York, 24. Juli. Der Vertreter der Bereinigten Staaten in Peking Hst bei der chinesischen Regierung ernste Vor stellungen über die Ermordung des amerikanischen Majors Pal mer erhoben. Die amerikanische Regierung sieht in dem Morde einen äußerst ernsten Vorfall und verlangt sofortige Bestrafung der Mörder und eine Sühneleistung an die Washingtoner Re gierung. Von China wird außerdem der Unterhalt der Familie > des Ermordeten verlangt. Der chinesische Gesandte in Wafhing- > ton erstattete den amerikanischen Regierungsstellen sosort einen ! Besuch ab und sicherte strengste Untersuchung des Vorfalles zu. I ( rr« unlerer keimst s j . z ! Wilsdruff, am 24. gM 1925. Merkblatt für den 25. Juli. Sonnenaufgang 4^° I> Mondausgang 8" V. Sonnenuntergang 8? ü Monduntergang 10^ N 1908 Der Maler Walter Leistikow in Berlin gest. * Kirschen KirschenMit! Die weißlichen, rosenroten, -blutroten und schwar zen Beeren zu Hausen getürmt in den Körben, uaf den Wagen der Straßenverkäüfer! Tausende Menschen, groß und Kein, in der Hand die Tüte mit der süßen Frucht und nebenbei die Bür gersteige voll gefährlicher Kirschkerne. Man kann sich vorstellen, daß es eine Zeit gegeben hat, in der man die Kirsche nicht «kannte? Erst die Römer vor einigen Jahrtausenden sollen die Zucht der Kirschbäume weiterverbreitet haben. Das ist wohl möglich; denn Kirschen haben die römischen Feinschmecker sehr gern geschmaust, besonders Lucullus, der Meister -der Verschwendungskunst und Tafelfreuden. — Der Kirschbaum mit seiner wundervollen -Blütenpracht, mit feinem reichen Früchtesegen ist ein Gegenstand von Sang und Sage, von Volkslied und Volksbrauch geworden. Merkwürdige Sitten verknüpfen sich mit den Zweigen des-Kirschbaumes. Der Mann, der das Gerücht in die Welt gesetzt hat, daß man zu ge wissen Zeiten auf keinen Kirschbaum steigen dürfe, da man sonst ' bestimmt das Genick bräche, hat es jedenfalls verstanden, diesem Glauben zu verschaffen. An vielen Orten gilt als sicher unheil bringend der 10. Juni, der Margaritentag, und der 24. Juni, der Johannistag '(Thüringen). Schlaue Kirschenfreunde, nicht nur jüngere mit kurzen Hofen und lüsternen Mäulern, klettern dafür schon einige Tage früher auf den Baum, vorausgesetzt, daß die Kirschen schon reif sind. Ernste und heitere Vorstellungen knüp fen sich an den Kirschbaum, harmlose, manche voll finsteren Aber glaubens. So sagt man, im Hause des Beisitzers sterbe 'ein Kind, wenn auf dem Kirschbaum Blüten und reife Früchte zu gleicher Zelt sich zeigen; welch schreckhafte Stunden muß das mancher an solche Torheiten glaubenden Mutter bereiten! (Brandenburg.) Der Kirschbaum -ist auch -ein Spottbaum, -er dient als Spott namen in den Gegenden, in denen man zur Psingstzeit unbelieb ten oder wegen, ihres Lebenswandels verdächtigen Mädchen solche Spottmaien vor die Tür setzt. Dazu benutzte man ost ein Kirsch bäumchen vielleicht wegen der roten Farbe der Kirsche, da ja rot die Farbe der leidenschaftlichen Liebe ist. — Der Tau, der auf den Kirschbäumen liegt, -gilt in Böhmen als Heilmittel gegen Fieber, zugleich auch als Schutzmittel gegen das „Beschreien". Fiebernde und solche, die fürchten, beschrien zu werden, sollen sich nackt unter einen Kirschbaum legen und sich mit dem Tau be spritzen. Für das berühmte Liebesorakel benützt man gleichfalls Krrfchzweige: man stellt -sie am Andreas- und Weihnachtsabend ins Wasser. Wenn sie hernach blühen, dann kann man erkennen, wen und wann man heiraten werde. — In der Liebe spielt die Kirsche gern den Vermittler. Mit großen Herren ist nicht gut Kirschen essen, aber -mit kleinen Mädchen. Man vergleicht ja auch die Lippen der Angebeteten mit der roten Kirsche und über die Sehnsucht, diese lebenden, warmen Kirschen zu pflücken, gibt es viele Gedichte und Lieder, gute und schlechte, solche, die man kennt, und andere, die längst Mieder vergessen find. Manche dieser Lieder erhallen sich mit unglaublicher Zähigkeit, und des halb gibt es wohl keine kirschenessende Gesellschaft, in der nicht jemand mit sehnsuchtsvoller Stimme zu singen an'fiüge: „Die Kirschen in Nachbars Garten, die sind ja so süß und rot - . * Hundstageheginn und Regen! Wider alles Erwarten wurde die richtige, echte Hundstagshihe der letzten Tage von einem er quickenden Regen a-bgelcst und dies ausgesprochen am ersten der nun beginnenden sogenannten Hmrdstage. Ihren Namen führen dieselben vom Sternbild des Hundes, in das die Sonne nun «n- geireten ist. Der Hauptstern dieses Sternbildes, zugleich der hellste Stern unseres nördlichen Sternenhimmels überhaupt, ist während der Hundstage einige Stunden lang dicht über dem Horizont sichtbar und zeichnet -sich durch sehr erheblich höhere Leuchtkraft und Lichtfülle vor allen anderen Sternen unseres Firmaments in auffallender Weise aus. — Für das ägyptische Land bedeuten die Hundstag-e den Zeitpunkt der Nilüberschwem mung -and damit des Beginns aller Fruchtbarkeit. Für die ein geborene Bevölkerung ist deshalb das -Sternbild des Hundes eine Art Symbol, dem -man nahezu göttliche Verehrung entgegen- brigl. Für uns ist die Hnndstagszeit die Zeit der Ernte. Schon ist die Sense verschiedentlich durchs Korn gefahren. Der Regen paßt nun gar nicht dazu. Andererseits war er über für Kartoffeln und Rüben von fruchtbarer Wirkung. Hoffentlich sind uns -nach ihm wieder eine Reihe schöner Tage beschieden, -echte rechte Hundstage, damit das Getreide gut geborgen werden kann. Die Gefahren der Straße. Gestern nachmittag kurz nach 1 Uhr wurde in -der Dresdner Straße nahe Ucbigaus Restaurant die Ehefrau -des Tischlers G. von hier von einem auswärtigen Motorradfahrer überfahren -und am Oberschenkel verletzt. Ob sie auch innere Verletzungen erlitt, steht noch -nicht fest. Das Rad wurde schwer beschädigt. Nach übereinstimmenden Zeugen aussagen hat -unvorsichtiges Uebbrschreiten der Straße den Unfall her-beMsührt. Der Mvtorf-ahrer hupte, die Frau -lief über die Straße, der Fahrer wollte -hinter -ihr wegfahren, da kehrte sie plötzlich um und das Malheur war -da. Man soll, wenn man einmal mitten auf der Straße ist, seinen Weg ruhig fort-setzen, das lehrt auch dieser Unfall wieder. Perfonalverändrrungen. Im Schulaussichtsbezirk Meißen -sind im ersten Halbjahr 1925 folgende Veränderungen vor sich gegangen: a) im Volksschulwesen: Gestorben: Lehrer Hochgemuth (Rüsseina), Oberlehrer Stelzig (Siebenlehn); an-gestellt: Gaum nitz von Nüchritz in Heynitz, Straßberger von Berthelsdorf bei Sohland in Weistropp; die Rechte der Ständigkeit erhalten: Simmgen in Me-isatal, Borsdorf und Schmidt in Coswig, Wen zel in Hirschfeld, Herbst und Ieifchik in Meißen, Witig in Rosten und Leuschner in Zehren; b) im Berufsschulwesen: Versetzt: Ober lehrer Meyer (Wilsdruff) nach Schöneck; angestellt: Schwank in Wilsdruff; c) bei höheren Lehranstalten: Angestellt: die Wirt schafterin Friedrich -bei der Deutschen Oberschule in Rosten. „Lore". Roman von Emma Haushofer-Merk. 27- (Nachdrückck verboten.) Lore sah wirklich die Welt von einer neuen Seite! Alles war fremd um sie Hec; die Menschen, die Verhältnisse, die Anschauungen, die Atmosphäre, in dec sie atmete! Sie verkehrte nur mit jungen Mädchen, die mit vollem Eifer einen Beruf anstrebten, mii vielen, die mit Sorgen zu kämpfen hatten. All den Ernst, all die vielen Küm mernisse, von denen sie bisher nur in den Büchern ge lesen, lernte sie jetzt in allernächster Nähe kennen. Lore hatte herzliche Sympathie für alle diese strebsamen, jungen Malerinnen, Lehrerinnen, Konservatoristinnen, mit denen sie in der Pension zusammentraf; sie schaute mit großen verwunderten Augen in dieses mühsame, bescheidene, lu stige Ringen um die Existenz um sich her; aber fremd mußte sie sich fühlen. Das einzige, was sie mit diesem Münchner Leben, mit dieser so gänzlich von ihrem bis herigen Dasein abgerissenen Gegenwart verknüpfte, war das Grab ihrer Mutter, an das sie oft herauswanderte und viele austauchende Erinnerungen an ihre Kinderzeit. Heute sollte Lore zum ersten Male wieder einem Men schen gegenübertteteu, der um ihr Schicksal wußte, der sie im Kreise ihrer Verwandten gesehen, der sie fragen mußte: „Warum sind Sie jetzt allein und schutzlos? Wie kam diese Wandlung über Ihr so wohlbehüteles Leben?" Es war ihr bang zumute! Wie lang das schien — der unvergeßliche Maitag, an dem er sie mit so lieben, warmen Augen anblickte. Und nun? Wußte er, was ge schehen war? Und wie würde er ihr bei diesem zweiten Wiedersehen gegenübertrcten? Konnte er ihren Schritt verstehen? Konnte er ihr nachfühlen, daß ihr keine Wahl geblieben, als eine verzweifelte Tat? Eine unwiderstehliche Sehnsucht hatte sie in seine Nähe getrieben. Sie fühlte so recht, wie sehr sie eines Freundes bedurfte in ihrer Heimatlosigkeit. Nur wenige Menschen waren in dem Zuhörerraum der großen Aula der Universität versammelt. Lore be grüßte das Ehepaar — einen Musiker mit seiner Frau —, die Albert kannten und von denen sie gesprächsweise feine Anwesenheit erfahren und nahm etwas verlegen und befangen neben ihm Platz. Sie war sehr einfach und dunkel gekleidet, aber ihre Erinnerung erregte rmmer Aufsehen und es war ihr peinlich, daß sich alle Blicke auf sie sichteten. Von den Thesen, die bei der Doktordisser- iation verteidigt werden sollten, verstand sie herzlich wenig, obwohl sie auch ein Formular in der Hand hielt. Die Buchstaben tanzten ihr vor den Augen und sie hörte förmlich die Schläge ihres Herzens, als der Dekan der Universität und die Professoren der Fakultät au dem Tische Platz nahmen und der Doktorand, gefolgt von einigen jungen Herren, eintrat und seine Rede begann. Einen Moment Hatje sie Alberts Gesicht gesehen, es schien ihr ernster, reifer, männlicher als im vorigen Jahre. Die Augen blickten nicht mehr so lebensfreudig'und über mütig. Aber der düstere Ausdruck, der ihr anfstel, mochte Wohl durch den feierlichen Moment hervorgerufen sein. Seiner kräftigen Stimme merkte mau allerdings nicht die geringste Befangenheit an; klar und sicher kamen die Worte von seinen Lippen. Er sprach über: „Wolken bildung bei Gewittern." Sie hörte eigentlich mehr den Tonfall; sie war viel zu ruhelos, um dem Sinn in der Rede zu folgen. Was lag ihr in dieser Stunde auch an den Wolken, an den Gewittern, die in Sommertagen aufsteigen? Sie wollte nur wissen, ob zwischen ihnen beiden noch der alte Sonnenschein leuchtet! Als dann die Verteidigung der Thesen begann, erhob sich auch unter den Zuhörern ein Gegner, der einen Einwand geltend mackste. Nun wendete der Doktorand seinen Kopf zurück. Nun trafen sie zum ersten Male seine Augen. Lore sah, daß er in einem sähen Schrecken zusammenzuckte, daß er blaß wurde, daß er wie geistesabwesend vor sich hinstarrte und ein paar Sekunden lang, wie verwirrt, die Antwort schuldig blieb. Im nächsten Moment hatte er sich wieder gefaßt und nur seine Stimme klang rauher schärfer als zuvor. Lore konnte sich nicht freuen über diesen mächtigen Ein druck, den ihr Anblick bei ihm hervorgerufen. Sein Blick hatte nicht aufgeleuchtet in frohem Erstaunen. Es war kein liebes Grüßen gewesen; finster und hart, feindselig hatte er sie angegrollt mit seinen dunk en Augen. Sie war so erregt, daß sie dem weiteren Verlauf der Promotion kaum mehr zu folgen vermochte. Das Blut hämmerte ihr ni den. Schläfen vor Ungeduld, mit Albert zu sprechen, ihn zu fragen, ob er denn seinen alten Spiel kameraden ganz mitleidsvoll verurteile? Zerstreut und geistesabwesend hörte sie, daß der Rektor der Universität, der feierlich, mit den zwei Pedellen voran, eingetreten war, ' Herrn Albert Martinger zum Doktor ernante. Sie at mete auf, als die Zeremonie zu Ende war, als sie mit den übrigen Zuhörern den Saal verlassen konnte. Sie ging langsamer die Treppe hinunter. Sehen mußte sie ihn. Draußen aus dem freien Platze, neben dem großen Brunnen, besten mächtige Wasserwelle fo hell in der Mittagssonne glänzte, stand sie still. In der kalten Lust konnte sie freier atmen. Endlich trat er heraus. So groß erschien er ihr, so fremd. Auch jetzt schaute er so ernst und sinster drein. Aber er war doch ihr Kindergesprele ihr ältester Bekannter! Warum sollte sie ihm in einer so freudigen Stunde nicht die Hand drücken dürfen? „Meinen Glückwunsch, Herr Doktor," sagte sie, ihm entegegengehend. „Ich danke Ihnen, mein gnädiges Fräulein!" erwiderte er sehr kühl und gemessen, und der Ausdruck seiner Züge war nicht freundlicher geworden. Das Blut stieg ihr in das Gesicht bei dieser förmlichen Begrüßung und sie hatte Mühe, in einem ruhigen, höf lichen Gesellschaftstone zu bemerken: „Ich habe erst ge stern erfahren, daß Sie seit längerer Zeit hier sind, Herr Doktor! Ich lebe ja auch seit einem Jahr in München." (Fortsitzunq folqt.)
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