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830 PAPIER-ZEITUNG. No. 29. Sonntagsruhe. Nachdruck verboten. Zu den wichtigsten Gesetzen, welche von dem gegenwärtigen »langen Reichstage« fertiggestellt worden sind, gehört das Gesetz über die Abänderung der Gewerbeordnung durch neue Bestim mungen über den Arbeiterschutz. Diese sogenannte »Gewerbe novelle« oder das »Arbeiterschutzgesetz« ist zwar soeben, am 1. April 1892, in Kraft getreten; ausgenommen hiervon sind aber einstweilen die Bestimmungen über die Sonntagsruhe, weil ihre Durchführung noch zu viele Vorbereitungen und Einzelbestim mungen erfordert. Bei anderen Gesetzen bildet die Regel die Hauptsache und die Ausnahme die Nebensache. Hier ist es fast umgekehrt. Der Regel, dass am Sonntag Ruhe herrschen solle, würde Jeder sich leicht fügen, wenn er nur wüsste, in welcher Weise die Ausnahmen gestaltet werden. Sollen bei Einführung einer strengeren Sonntags ruhe Handel und Gewerbe nicht leiden, so werden auf abseh bare Zeit hinaus noch viele Ausnahmen nothwendig sein. Zahlreiche Gewerbebetriebe haben um Gewährung solcher Ausnahmestellung gebeten, unter ihnen Holzschleiferei und Zell stofffabrikation. Die Bewerbungen liegen, wie in Nr. 27, Seite 762 mitgetheilt wurde, dem Bundesrath vor, werden aber ihrer grossen Zahl wegen erst in einigen Monaten Erledigung finden können. Inzwischen kann der bisherige Brauch beibehalten werden. Unsere neueren Gesetze sind leider nicht in einer Sprache ab gefasst, welche Jedermann leicht verständlich ist. Wir glauben daher unsern Lesern einen Dienst zu erweisen, wenn wir ihnen nachstehend eine in leicht verständlicher Sprache von Dr. J. Jastrow, Privatdozent an der Berliner Universität, ausgear- beitete Erläuterung der Bestimmungen des neuen Gesetzes über die Sonntagsruhe vorführen. 1. Allgemeine Bestimmungen. Vom 1. April ab dürfen Arbeiter in Fabriken an Sonn- und Festtagen nicht beschäftigt werden. Die Sonntagsruhe erstreckt sich auf den ganzen Sonntag von Mitternacht bis Mitter nacht, an dem Weihnachts-, Oster- und Pfingstfeste in der selben Weise auf beide Tage (48 Stunden hindurch). Wenn sonst zwei Ruhetage aufeinander folgen, ist es gestattet, die Ruhezeit später zu beginnen und am zweiten Tage um 6 Uhr abends zu beendigen, wenn sie im ganzen 36 Stunden gedauert hat. In Betrieben mit regelmässiger Tag- und Nachtschicht ist es erlaubt, den Beginn der 24stündigen Ruhezeit auf eine andere Stunde zu legen, jedoch nicht später als 6 Uhr morgens; lässt man in solchen Betrieben die Ruhezeit bereits am Sonnabend Nachmittag beginnen, so dürfen die 24 Stunden in keinem Falle von früher als 6 Uhr nachmittags au gezählt werden. 2. Bestimmungen für das Handelsgewerbe. Im Handelsgewerbe sollen für Gehilfen, Lehrlinge und Arbeiter nur der erste Weihnachtstag, der erste Ostertag und der erste Pfingsttag unbedingte Ruhetage sein. Im übrigen soll die nothwendige Arbeitszeit an Sonn- und Festtagen im Handelsgewerbe 5 Stunden betragen. Doch können diese 5 Stunden durch Orts statut noch herabgesetzt und die Sonntagsarbeit auch ganz unter sagt werden, sei es für alle, sei es für einzelne Zweige des Handels-' gewerbes. Anderseits kann die Polizeibehörde die zugelassene Arbeitszeit auch verlängern (bis auf 10 Stunden), jedoch nur für Zeiten, in denen ein besonders erweiterter Geschäftsverkehr dies nothwendig macht, z. B. in den letzten vier Wochen vor Weih nachten. Bei einer derartigen Ausdehnung der Arbeitszeit muss die Behörde die ortsübliche Kirchenzeit berücksichtigen. In den Stunden, in welchen es hiernach verboten ist, Ge hilfen usw. zu beschäftigen, muss der Laden vollständig geschlossen sein; der Kaufmann oder Handelsmann, der ohne Gehilfen arbeitet, darf dann ebenfalls seinen Laden nicht offen halten. Auch die Kontore in Fabriken usw. werden wie kaufmännische Kontore be- handelt. 3. Zulässige Sonntagsarbeiten. 1. Es können sich Fälle ereignen, in denen zur Erhaltung von Menschenleben oder sonst zur Abwendung grosser Gefahr am Sonntag gearbeitet werden muss. In solchen Fällen ist die Arbeit erlaubt, wenn sie nicht aufgeschoben werden kann. Das Gesetz gestattet mit ausdrücklichen Worten an Sonn- und Festtagen »Arbeiten, welche in Nothfällen oder im öffentlichen Interesse vorgenommen werden müssen«. 2. Jeder Gewerbtreibende soll einmal im Jahr eine Inventur aufnehmen. Dieselbe stört Kauf und Verkauf; das Zählen, Messen und Wägen der Waarenbestände kann häufig nur an einem Tage vorgenommen werden, an dem das Geschäft geschlossen ist. | Für Arbeiten zur Durchführung einer gesetzlich vorgeschriebenen I Inventur ist es aus diesen Gründen gestattet, einen Sonntag (je doch nicht einen Festtag) zu benutzen. 3. In vielen Betrieben müssen die Ruhetage zur Reinigung und Instandhaltung des Werkes benutzt werden, um den regel mässigen Fortgang des Betriebes zu ermöglichen. In anderen sind auch während der Ruhezeit Arbeiten erforderlich, um die pünkt liche Wiederauthahme des vollen Betriebes am W erktage zu ermöglichen. In noch andern würden die Rohstoffe verderben oder die Arbeit dem Misslingen ausgesetzt werden, wenn man nicht auch während der Ruhezeit etwas dafür thäte. Für alle derartige Arbeiten soll die Regel gelten: was nicht an Werktagen vorgenommen werden kann, das darf während der Ruhezeit vor genommen werden. Ebenso sind Arbeiten, welche bloss zur Be wachung der Betriebsanlagen dienen, an dem Ruhetage erlaubt. Wenn aber derartige Arbeiten länger als drei Stunden dauern, oder die Arbeiter am Besuche des Gottesdienstes hindern, so muss jeder Arbeiter jeden zweiten Sonntag während der Tageszeit (von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends) frei haben, oder statt dessen an jedem dritten Sonntag volle 36 Stunden. Wenn die Arbeit zwar länger als drei Stunden dauert, aber den Besuch des Gottes dienstes am Sonntag nicht hindert, so kann die Behörde gestatten, dass an Stelle des Sonntages eine 24stündige Ruhezeit an einem Wochentage gewährt wird. 4. Besondere Vorschriften. Gewerbetreibende, welche von den eben genannten Ausnahmen Gebrauch machen, sind verpflichtet, ein Verzeichniss anzulegen. In dieses Verzeichniss muss für jeden einzelnen Sonn- und Fest tag die Zahl der beschäftigten Arbeiter, die Dauer ihrer Be schäftigung, sowie die Art der vorgenommenen Arbeit eingetragen werden. Dasselbe ist auf Erfordern der Polizeibehörde, sowie den Aufsichtsbeamten zur Einsicht vorzulegen. Wer von dem Rechte Gebrauch machen will, statt eines Sonntags einen Werktag frei zu geben, bedarf dazu der Genehmigung der Behörde. Diese Be hörde, die »untere Verwaltungsbehörde«, ist, wenn nichts anderes bestimmt wird, in Preussen für die kleinen Städte und Dörfer der Landrath, für die grösseren Städte der Magistrat oder, wenn ein Polizeipräsidium am Orte ist, dieses. In Baiern sind ebenfalls gewisse Städte bestimmt, in denen der Magistrat diese Funktionen übt, sonst das Bezirksamt. In Sachsen ist es die Amtshauptmann schaft, in Württemberg das Oberamt, in Baden das Bezirksamt, in Hessen-Darmstadt das Kreisamt usw. 5. Ausserordentliche Fälle. Wenn ein Fabrikant mit Anspannung aller seiner Kräfte daran arbeitet, um die Waaren für eine Lieferung fertig zu stellen auf deren Versäumung eine Konventionalstrafe von 10 000 M. steht, so wäre es unter Umständen eine grosse Härte, wenn in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag mit dem Glockenschlage 12 Uhr die Arbeit aufhören müsste und erst am Montag wieder beginnen dürfte, obgleich dann der Termin versäumt und die Strafe ver wirkt ist. Trotzdem liegt hier nicht ein »Nothfall« vor, wie wir ihn oben besprochen haben; denn ein drohender Geldverlust ist noch kein Nothfall im Sinne des Gesetzes. Der Fabrikant ist daher auch nicht befugt, in diesem Falle auf eigene Faust eine Ausnahme zu machen. Er muss sich vielmehr zu diesem Zwecke an die »untere Behörde« wenden. Diese darf Ausnahmen zu lassen, und zwar nicht bloss für einen Sonntag, sondern auch für mehrere (jedoch nur für eine bestimmte Zeit), »wenn zur Ver hütung eines unverhältnissmässigen Schadens ein nicht vorherzu sehendes Bedürfniss der Beschäftigung von Arbeitern an Sonn- und Festtagen eintritt . Der Unternehmer muss die schriftliche Verfügung aufbewahren, auf Erfordern dem Aufsichtsbeamten vorlegen und eine Abschrift in der Fabrik oder Werkstätte an einer den Arbeitern leicht zugänglichen Stelle aushängen. 6. Ausnahmen für ganze Gewerbe. Das Gesetz unterscheidet zwischen den verschiedenen Fällen, je nach dem Grunde, weswegen eine Ausnahmebestimmung ver langt wird. Gründet sich der Wunsch nach Ausnahmebestimmungen dar auf, dass 1) gewisse Arbeiten ihrer Natur nach eine Unterbrechung oder einen Aufschub nicht gestatten, oder 2) dass das ganze Gewerbe auf bestimmte Jahreszeiten be schränkt ist, oder wenigstens in gewissen Zeiten des Jahres zu einer aussergewöhnlich verstärkten Thätigkeit genöthigt ist, so handelt es sich um Dinge, welche für das ganze Reich möglichst einheitlich geregelt werden sollen. In diesen Fällen hat über etwaige Ausnahmebestimmungen der Bundesrath zu beschliessen.