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Beilage zu Nr. 2 der Sächsischen Elb Zeitung. Schandau, Sonnabend, den 6. Januar 1883. Feuilleton. D er S ch i ck s a l s h u t. Humoreske von Grüwr Elcsilcr. Daß man esse» kann, ohne Hnngcr zu spüren, ins besondere aber, daß man trinken kann, ohne mir im mindesten vom Dnrstc geplagt zn sein, ist eine allbe kannte Erfahrung, aber daß man sich über Hals nnd Kopf verliebt, ohne cö nvlhig zn haben, daß inan so gar hcirathct, ohne das geringste Bedürfnis; dazu, — das ist ein Thema, welches Bielen schier unglaublich und unmöglich erscheint, über welches nach landläufiger Ansicht eben nur die Phantasie eines Novcllcnschrcibcrö zn verfügen haben soll, nnd dennoch tritt ein solches Ereignis; recht oft in die Wirklichkeit und ganz geringe Anregungen des Herzens setze» sich manchmal in große Thatcn nm, wenn die Sonne der Liebe in die Winkel und Tiefen des GcmüthS leuchtet nnd die zur Aetiou eines Liebenden erforderliche Wärme daselbst conccn- trirt. Für verknöcherte Hagestolze nnd solche, die cö nicht werden wollen, will ich die wahrhaftige Geschichte von dem seligen Doctor Aruo Langmantcl erzählen; d. h. besagter Doetor ist keineswegs todt, sondern er „lebt »nd zappelt" noch, aber trotzdem ist er zur Se ligkeit ciugcgaugcu — nicht zu jener verdächtigen, welche die Herren BacchnS nnd Gambrinus zu spenden pflegen, sondern zn dcrpcrmauentcn GcmüthSvcrfassnng, welche mir der empfinden soll, der von Herzen liebt nnd von Herzen wicdcrgcliebt wird. Wie der Doctor aber dazu gekommen, soll der geneigte Leser von mir in aller Kürze erfahren. Ein kalter regnerischer Frühlingstag ist anscheinend nicht dazu angcthau, zn Wasscrfnhrten anznrcgcu nnd so war eö anch nur natürlich, das; an einem solchen Tage im Jahre 18 . . das Dampfschiff „Adler", wel ches die Elbe stromauf bcsnhr, eine sehr schwache Bcuntz- ung seilen der Passagiere anfznwciscn hatte. Ein eisiger Südsturm kam aus den Bergen der „Sächsischen Schweiz" hervor, der daö Verdeck dcü mühsam sich aufwärts arbeitenden Schiffes rein fcglc nnd kaum den diensthabenden Schiffslcuten den Aufenthalt daselbst gestattete. Die erste Kajüte dcö Schiffes zeigte sich menschenleer, denn der einzige Passagier derselben, den wir unsern Lesern als den 1)r. MI. Arno Langmantcl verstellen, halte cö vor Langeweile daselbst nicht anö- zuhaltcn vermocht nnd war ans Bcsnch in die zweite Kajüte gegangen, wo wenigstens ein Dntzcnd Männ lein nnd Wciblcin „wimmelten" nnd eine behagliche Temperatur herrschte. Nachdem unser Doctor den un vermeidlichen Dunstbcschlag von seiner goldgefaßten Brille gewischt hatte, sah er sich in dem niedrigen Nanmc nm und cntdccklc endlich im Winkel ein präch tiges Mädchcngcsicht, welches die Mühe zn lohnen schien, cö näher zn betrachte». Nasch nvaiicirtc Arno gegen das Angriffsobjcct. Wir müssen voraiisschickcn, daß der gMc Doctor trotz seiner 33 Jahre nicht gerade zn den blödesten Naturen der Männerwelt gehörte. Er lebte in einer glücklichen Unabhängigkeit; seine Stelle als Oberlehrer an einem Institut war gut besoldet, von den Eltern, die beide schon das Zeitliche gesegnet hatte», war ihm ein solides Erbvcrmögcn hinterlassen worden nnd ein noch am Leben befindlicher „Erbonkel" stellte überdies eine zukünftige Vermehrung seines Einkommens in sichere Aussicht. So lebte Arno als „reiner Thor" im Wcltgctricbe, verschaffte sich für sein Geld alle erlaubten Genüsse der Hanplstadt, erfüllte dabei redlich seine Pflichten im Berufe nud war noch gar nicht da zu gekommen, sich die Frage vorzulegcn, ob cö wirklich nicht gut sei, daß der Mensch allein bleibe. Er hatte oft Gelegenheit, mit Damen zu verkehre» und that dies mit angcwöh»ter großstädtischer Sicherheit, ohne sich viel dabei zu deiikcii. Seine naturwisscnschaftlichcn nnd philologischen Stndicn ließen ihm keine Zeit da zu. Eben jetzt war er auf einem Anöflngc nach einem Nachbarorte begriffen, wo sich auf einer Stelle der daö Dorf umgebenden Felsen prächtige „Bcrwcrfungcu" des Gesteins vorfindcn sollten. Daö Mädchen, welches im Winkel der Kajüte saß, mochte wohl schon einige zwanzig Lenze zählen, war aber von einer wahrhaft klassischen Schönheit, groß und schlank gewachsen, mit anödrncksvollcn, mir sehr ernst gefurchten Zügen und sprechenden dunklen Augen. Aruo fand sich sofort zu dieser schwcigsameu Schön heit magisch hiiigczogcn. Er grüßte das Mädchen höf lich nnd cngagirtc sofort ein Wortgefecht. „Sie haben cs gut verstanden, mein Frünlcin, sich am Bug des Schiffes ein ruhiges und beschauliches Plätzchen anözusnchen, von dem ans mau sowohl die Ufer des Stromes, als auch daö Treiben im Schiffs körper übersehen kann, ohne selbst gesehen zn werden," begann er. „Fürchten Sic den» den Sturm nicht, der das Wasser der Elbe zu förmliche» Wellenbergen aufwühlt?" „Was mau gewöhnt ist, fürchtet man nicht mehr," gab sic trocken zur Antwort. „Ich fahre täglich m dem Schiffe nach der Stadt nnd kehre abends zurück so lauge der Sommer währt!" „Täglich fahre» Sic, sagte» Sic nicht so?" „Daö heißt, an Sonntagen erscheine ich nicht an der Bildfläche," lächelte das Mädchen, „dann bleib ich zn Hanse." „Ich mache das gerade nmgckchrt, mein Fräulein," lächelte nnu auch sciuerscitö der Doctor. „Au Sonn tagen schwimme ich in der Regel auf dem Wasser, während der Wochentage bleibe ich auf der Bude, — parckon, iu der Wohnung." „Bude?" lachte mm das Mädchen gerade hinaus. „Dann müssen Sic ein Schneider, purclou, ein Mit glied der europäischen Modcnakadcmic sein, denn diese Herren sitzen tagsüber auf ihrer „Bude." „Halten Sic mich wirklich für einen Klcidcrmachcr, mein Fränlcin?" — „Je mm — au Facon scheint es Ihnen eben nicht zn fehlen und Ihren Reden nach zu urthcileii, verstehen Sic Ihre Stoffe gnt znznschncidcn. Ucbrigcnö bin ich nicht bei Erhebung der Bcruföstatistik bcthciligt, mein Herr, nnd cö steht mir kein Unheil darüber zn, waö Sie sind und was Sic sein könnten." „So? Und damit wären wir wohl fertig mit einander, mein Fränlcin?" sagte der Doctor lächelnd. „O, so leicht werden Sic mich nicht los. Erlauben Ew. Schiüppigkcil, daß ich mich neben Sic setze und mein bescheidenes Theil beitrage, Ihnen die Molcstcn der Reise etwas vergessen zu machen?" „Als lustiger Naih doch wohl, wie ich hoffe?" antwortete die jnnge Dame. „Immerhin," fügte sie hinzu und lud ihn mit einer kleine» Hmidbcwcgung zmn Nicdersitzc» ein, „dieses Bankinstitut ist zur Be nutzung des gcsammtcn hochvcrchrlichcn Publikums da. Leider etwas hart — Sic werden cs besser da heim haben auf Ihrer — wie sagten Sic doch? — Bndc!" „Vergessen Sic dcn fatalen Bnrschcn-Anödrnck," bat er inständig und setzte sich neben die Schöne. „Lassen Sic mich licbcr wissen, wie der Port heißt, auf welchem Sie Ihren niedlichen Fnß ans Land setzen werden?" „Ei, das müsse» Sic also auch wisse», mein un bekannter Herr? Sie leiden wohl an chronischer Neu gierde? Das ist ein übler Zustand, der sonst immer mir dcn Frauen zngcschricbcu wird. Seien Sic ver sichert, mein Gcncralstab" — hier deutete die Schöne auf ihren lieblich geformten Mund — „vcrräth nichts von seinen Geheimnissen." „Für wen halten Sic mich denn, mein Frünlcin?" entgegnete l)r. Langmantcl, dcn das Gespräch mit der Holden immer tiefer intcrcssirw. „Es wird Zeit, daß ich mich Ihnen vorstclle: Or. Arno Langmantcl aus Dresden, Oberlehrer am Trichterschcn Institute!" setzte er hinzu und überreichte seine Karte. Das Fräulein verbeugte sich artig. „Dann nehme ich zurück, was ich iu losem Ucbcrmnthc sagte, Herr Doctor. Sie wissen ja doch, daß wir Mädchen vor- 'ichtig gegen Reisebekanntschaften sein sollen. Mir chwcbt immer Gretchens Ablehnung ans „Fanst" auf der Zunge: „Kann migcleitct nach Hause gehn!" „Sie haben recht, mein Fränlcin, nnd ich dachtc an Fausts Ansrnfc dcö EntzückcnS, als ihn Gretchen nbgetrnmpft hatte: „Wie sic kurz angebunden war, das ist nun zmn Entzücken gar." Der Doctor war ordentlich lebhaft geworden und hatte sich immer mehr an daö Mädchen hcrangcschobcu, welches ihm so zu versichtlich und wcltklng gegenüber trat. „Ucbrigcnö weiß ich leider noch immer nicht, mit wem ich eigent lich die Ehre habe —", sagte er zögernd. „Herr Doctor", entgegnete das Mädchen mit Bc- rcutnng, „vergessen Sie gefälligst nicht, daß Sic sich etzt in zweiter Kajüte befinden, wo man in der Regel licht viel auf Etikette hält. Ich bin ein armes Mäd chen aus dem Volke und führe keine Visitenkarten; wenn Ihnen daran liegt, cs zn erfahren: ich heiße Minona Hartmann." „Und wohnen in Dresden? Das wäre ja herr lich!" — „Nur im Winter wohne ich dort, Herr Doctor; ich habe eine alte unvcrheiralhct gebliebene Tante, die immer kränklich ist und deren KrankhcitSznstand cö gebieterisch fordert, die bessere Jahreszeit auf dem Lande znzubringcn. Wir wohnen jetzt dort drüben in X." „Daö ist ja anch der Punkt, wo ich anöznsteigen gedenke," versetzte der Doctor. „Ein recht glücklicher Zufall. — So bringen Sic also der kranke» Tante das Opfer, von L. ans sechsmal in der Woche »ach Dresden zn fahren? Daö macht Ihrem Herzen Ehre, Fränlcin Minona." „Nennen Sic nicht Opfer, waö doch nur Pflicht ¬ erfüllung ist", sagte daö Mädchen bescheiden. „Unsere Eltern sind längst gestorben nnd so müssen wir Ge schwister für die pflegebedürftige Tante sorgen. Wir erfüllen damit doch mir ein Gebot, das in der sitt lichen Wcltordnung begründet liegt." Arnos Interesse wurde durch diese edle Gefühls äußerung dcö Mädchens immer mehr angefacht. Er erfuhr im Laufe dcö Gesprächs, daß der ältere Bru der des Mädchens in Dresden als Eommiö in einem Drogncngcschäfte conditionirtc und daß in der Regel nur die 13jährige Schwester Marie die Pflege der Taute besorgen müsse, da Minona als Verkünfcrin in einem Handschnhladcu der Residenz stand. Der Doktor horchte unschwer aus Minonaö Reden heraus, daß die älteren Geschwister allein für dcn Unterhalt der kranken Taute zu sorgen hatten nnd daß der Vater, ein kleiner Beamter, schon vor Jahren gestorben war nnd wenig hinterlassen haben mochte. Unter anderen Umständen würde Arno, der Epi- knräcr wie er im Buche steht, sich über sich selbst ge wundert haben, daß ihm daö Schicksal fremder Per sonen so nngcmcincS Interesse cinflößtc, damals ans dem Schiffe schien ihm dies viel wichtiger zn sein, als alles andere. Er war noch niemals in seinem Leben so thciliiahmövoll für die Einzelheiten dcö Er gehens seiner Ncbcnmcnschcn gewesen, alö in dem Win kel der zweiten Kajüte deö Elbdampfcrö „Adler" znr Erscheinung trat und nahm cs für eine recht verdrieß liche Störung dcö immer eifriger gewordenen Zwie gesprächs, daß die Schifföglocke endlich darein fuhr nnd zmn Ansstcigcn in mit eherner Znuge mahnte. „Wie schade!" sagte der Doktor zn seiner Beglei terin. „Ich wäre im anregenden Gespräch mit Ihnen bis Leitmcritz — ja wohl noch weiter gefahren." Anch Minona versicherte, daß ihr daö Znsammcn- tresfcn angenehm gewesen sei und rüstete sich zum Auf bruch. Der Doktor half ihr beim Zusammcusuchcn dcö vielen Gepäcks, denn es war ein Sonnabend und Minona hatte Arbeit für dcn Sonntagnachmittag nnd allerhand Lebensmittel für sich nnd ihre Angehörigen mitgenommen. Daö Schiff legte sich ächzend an die Seite der Brücke, welche daö Ansstcigcn nach dem Lande ver mittelte. Der Sturm wüthcle an dieser Stelle schancr- lich nud finster nnd frostig lag das Ufer vor dcn beiden Passagieren, welche hier das Schiff verließen. "Niemand war anf der Brücke, niemand zmn Empfange des Mädchens anwesend. „Meine Tante ist gewiß kränker geworden," be merkte Minona mit Besorgnis;, „sonst wäre Marie, meine jüngere Schwester, hier, nm mir das Gepäck abzumchmcn. Das ist sehr fatal." „DnrchanS nicht, denn wozu wäre ich da?" ant wortete Aruo eifrig. „Betrachten Sic mich als dcn Gepäckträger dieses Sturmhafcnö, der cö sich zur Ehre schätzen wird, »och ein Vicrtclstündchcu bei Jh»cn verweile» z» könne»." Und der verwöhnte Doctor, der in dcr Residenz nicht das kleinste Päckchen bis znr Post befördert hätte, bclnd sich rasch mit den diversen Körben dcö Mädchens, trotz der lebhaften Proteste desselben. „Dienstmann dir. 1 ist beladen!" rief dcr Doktor mit Hnmor. Plötzlich entfuhr Miuoua ein lauter Schrei. Sic hatte daö Schifföbillct, wclchcö beim Verlasse» dcö Bootes controlirt worden war, in ihre Geldtasche ge leckt nnd war eben im Begriffe gewesen, dieses Täsch- chcii z» schließe», alö eö dcr St»rm ans ihrer Ha»d riß »nd de» Inhalt dicht nm Landnugöbrctc anf dcn Bodcn nnd thcilwcisc sogar ins Wasser strcntc. Nath- loö stand die jnnge Dame da, denn es war inzwischen ziemlich finster geworden nnd das Anfsnchen deö Gel- ws mußte recht schwierig werden. „Oh mein Gott!" eufzte daö Mädchen, „cö befand sich dcr Nest meines Monatsgehaltes in der Tasche!" „Schlimm, aber hoffentlich ist cs nicht unwieder bringlich verloren!" tröstete Arno nnd warf die Packele und Körbe in dcn Sand. Im Nolhfalle zahle ich die FlnßversichcrnngSschttden ans." „Wie könnten Sie — wie dürfte ich das an- nchmcn?" — „War ich denn nicht soeben erst Ihr Bank-Thcil- haber?" scherzte Arno nnd machte sich an die Arbeit. Er fischte znnüchst die Geldtasche anö den Flnthcn, veil dieselbe sich anschickte, nach Dresden zurückzu- 'chrcn, streifte die Nockärmel auf und war so glück- ich, die verlorenen Schafe fast alle wieder einzufan- gcn. Endlich richtete er sich auf nnd überreichte niit olzcr Miene dem glückliche» Mädchen, welches sich Unalö i» DankeSbeleucrimgeu erging, die Gcld- rsche. Als er sich kurz darauf die Packete wieder anfgeladcn hatte, brach ein Platzregen loö und ein heimtückischer Windstoß riß dem hilfreichen Doctor, der kcine Hand zmn Festhalten hatte, den Nubenöhnt vom Kopfe. Der Doctor stand vor Erstaunen sprachlos