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7SV8 «Irs-nblaU >. d. Dtschn. vuchh-nd-I. Nichtamtlicher Teil. 14S, 2S. Juni 1SI2. Nichtamtlicher Teil. Leipziger Briefe. VI. tV siehe Nr. I22.> Berühmt und berüchtigt sind zwei Eigenschaften des Sachsen: seine Gemütlichkeit und seine partikularistische Gesinnung. Beide haben in der Figur des Partikularisten Bliernchen ihren unsterblichen Vertreter gefunden. Die Gemütlichkeit, mag sie auch manchmal über das Matz des Erlaubten hinausgehen, ist eine zu gute Eigenschaft, als daß wir sie verdammen oder missen möchten. In dem Augen blicke, in dem sie aufhört, verschlechtern sich gewöhnlich zu sehends die Zustände. Den Partikularismus dagegen schenken wir uns um so lieber, als er das schlimme Zeichen eines eng begrenzten Horizonts bedeutet. Er bleibt ein schäbiger Rest jenes falschen Patriotismus, der den Zeiten der Kleinstaaterei in Deutschland und der unseligen politischen Zerrissenheit unseres Volkes angehörte. Während man in Leipzig noch ein gut Stück sächsischer Gemütlich keit vorfindet — nicht zum Schaden der vielen Fremden, die alljährlich unsere Stadt besuchen —, so scheint doch Gott sei Dank das Unkraut des Partikularismus fast ausgerottet, weil die in unserer Stadt tonangebende Handelswelt viel zu kosmopolitisch veranlagt ist und weil die rote Internationale, die durch unsere zahlreiche Arbeiterschaft vertreten wird, ihn aus ihrem Programm ausschlictzt. So ist cs gekommen, daß sich der Partikularismus in die Kreise gewisser Beamten und Bürger geflüchtet hat, die in Leipzig kaum eine dominierende Rolle spielen können. Anders liegen offenbar die Dinge in der Residenz Dresden, deren Bevölkerung einen starken Prozentsatz der erwähnten Staatsbürgerklasse aufweist. Dort scheint die Pflanze nicht nur üppig zu gedeihen, sondern auch mancherlei wunderliche Blüten zu treiben. Denn aus dem Landes- und Volkspartikularismus ist offenbar ein Stadtparti kularismus geworden, der den Bewohnern angesichts der an geblichen Rivalität Leipzigs auf wissenschaftlichem Gebiete schlaflose Nächte bereitet. Die großzügigen Ideen, die Karl Lamprecht am letzten Königs-Geburtstage hinsichtlich der Organisation unserer Universität entwickelte, scheinen den Neid der Elbflorentiner aufgestachelt und dem Unmut darüber neue Nahrung gegeben zu haben, daß die Dresdner Tier ärztliche Hochschule aus rein praktischen Gründen und ohne Zutun Leipzigs der Landesuniversität hier angegliedert werden soll. Man sieht, die Gemütlichkeit hat ihre Grenzen, der Partikularismus nicht. Das beweisen die in der Dresdner Presse ernstlich erwogenen Vorschläge zur Gründung einer Universität in Dresden. Dabei ist man sich bewußt, daß man seitens der sächsischen Staatsregierung, die trotz der guten Fundierung der Leipziger Lim» water sür diese alljährlich bedeutende finanzielle Opfer bringen muß, kaum auf Gegenliebe rechnen kann. Man schlägt deshalb eine Stiftungsuniversität nach Frankfurter Muster vor und soll zu diesem Zwecke bereits ein gezeichnetes Kapital von andert halb Million Mark zusammen haben. Nun ist es vielleicht kein Fehler, wenn die großen Zigarettenfabriken, Sanatorien und andere lukrative industrielle und kapitalistische Unter nehmungen Dresdens einmal der Wissenschaft einige Opfer bringen, z. B. sür die Technische Hochschule, die eine solche tat kräftige Förderung gewiß brauchen könnte und nicht ablehnen würde. Muß es denn gleich eine Universität sein? Kann nicht die Stadt Dresden mit ihren Vorzügen sich zufrieden geben, die ihr einmal durch die Natur, das andere Mal durch die Kunst in so reichem Maße beschicken sind? Ist es nicht ein dauernder Vorteil für sie, daß sie die Residenz und da durch im Range die erste Stadt Sachsens bleibt? Wieviel schwerer hat es dagegen eine Stadt wie Leipzig, die, ge wissermaßen in ihrer Weiterentwicklung auf sich selbst an gewiesen, alles aufbieten muß, um ihre Bedeutung als Meß- und Handelsstadt zu erhalten und zu stärken, weil sie in viel härterem Wettbewerbe mit anderen deutschen Städten steht und weil sie gegenüber Dresden von der Natur nur stief mütterlich bedacht worden ist! Und sollte nicht jeder Sachse, auch der in Dresden wohnende stolz darauf sein, daß dieses mächtig gewordene heimische Handelsemporium allezeit Wert darauf legte, daß in seinen Mauern auch Wissenschaft und Kunst eine gastliche Heimstätte fanden? Eine Heimstätte, für die der Boden nicht günstiger gedacht werden kann, weil hier als natürliches Bindeglied zwischen Handel, Wissenschaft und Kunst derBuchhande l feiner großen Kulturaufgabe waltet ? Ist es da verwunderlich, wenn man den Dresdner Unioer- sitätsgedanken als das unschöne Produkt eines städtischen Partiku larismus bezeichnen möchte, der hinsichtlich der Rivalität der beiden Städte auf den Außenstehenden keinen guten Ein druck macht? Man geht wohl nicht fehl, wenn man die StiftungSuniversttät Dresden den Illusionen einer kleinen Jnteresscntengruppe zuschreibt, die schon der Motive halber, die dem Projekt zugrunde liegen, kaum auf Verwirklichung ihrer Pläne rechnen kann. Verständlicher ist schon, daß neuerdings die Stadt Bautzen ernstlichen Anspruch auf die zweite sächsische Landesuniversilät erhebt, weil für sie deren Erlangung tatsächlich den Schritt zum Lichte bedeuten würde, obgleich in diesem Falle die Aussichten noch geringer erscheinen als in Dresden. Der Besitz steigt im Werte, sobald er Gegenstand der Mißgunst des Nachbars geworden ist. Die gewaltigen An strengungen, die gerade in letzter Zeit gemacht werden, um in Leipzig den von Goethe verliehenen Ehrentitel »Klein-Paris», wie er geerbt wurde, auchzuerwerben, scheinen überall der größten Aufmerksamkeit zu begegnen. Die beiden bevorstehenden großen Ausstellungen, die Id» und Uugr», sind besonders geeignet, für die nächsten beiden Jah:e unsere Stadt in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu bringen. Ein kleiner Vorläufer ist die Elektrotechnische Ausstellung auf dem Meßplatze vor dem Frankfurter Tore, die ihre Pforten vom 6. Juni bis 21. Juli aufgetan hat. Sie hat den Vorteil mäßigen Umfangs und infolgedessen großer Übersichtlichkeit. Ein tempelartiger Zeltbau ist der Wissen schaft gewidmet. Gleich beim Eintritt linker Hand präsen tiert sich ein schönes Lesezimmer, mit einfachen, aber sehr geschmackvollen und sehr zweckmäßigen Möbeln in hell Eiche. Man sieht, wie das Buch durch seinen Rahmen gewinnt; denn die sorgfältig von der hiesigen Buchhandlung Gustav Schlemminger ausgewählte und zur Schau gestellte Fach literatur vereinigt sich mit ihrer Umgebung zu einem durch aus harmonischen Bilde von ansprechender dekorativer Wirkung. Die Möbelausstattung stammt von der Leipziger Firma C. F. Gabriel. Auf den Tischen liegt das Propagandamaterial der Geschäftsstelle für Elektrizitätsverwertung in Berlin. Man gewinnt da einen sehr inieressauten Einblick in die Art, wie die Elektrotechnik sich der Reklame bedient. Man findet einfarbige einfache und mehrsarbige doppelte Postkarten, Plakate auf Papier, Pappe und Blech, Wandkalender, Glas- und Emailleschilder, Bro schüren und Prospekte und endlich eine ganze Anzahl ver schiedener geschmackvoll-künstlerischer Reklamemarken. Dieser umfangreiche Apparat dient der Propaganda für dis elektro technische Industrie überhaupt. Mit ihm wird ganz all gemein Stimmung im Publikum gemacht für die wich tigen Errungenschaften der Neuzeit auf diesem Ge biete, die in mannigfaltigster Weise geeignet sind, dem