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bis die Sitte ihm erlaubte, sich ihr zu nähern: alles in ihm drängte zu ihr. — Sehen mutzte er sie. Seit Alexi Peternoff vor Monaten den plötzlichen grausen Tod gefunden, mutzte Lothar um Etelkas Ab kunft. Der Justizrat Bentin hatte ihn schriftlich davon unter richtet, in jener zarten, schonenden Art, die den alten Menschenkenner verriet. Lothar mutzte nun, daß er als Etelkas Gatte nicht Offizier bleiben konnte, und es schmerzte ihn nicht. Wer ihm das vor einem Jahr gesagt hätte! Sein Herz hatte, seit er Etelka kannte, so viele Ge- sühlsstadien durchlaufen: für dies, was ihm nächst der verehrten Mutter das Höchste gewesen, blieb es, vorerst wenigstens, fast empfindungslos. Daß er von diesen Ent täuschungen und Hoffnungen, diesen wichtigen Lebensplänen seiner Mutter nichts anvertraute, erschien ihm selbst rätsel haft. Aber so oft er auch im Begriff gewesen, ihr ein Bekenntnis abzulegen, stets hielt ihn ein seltsames inneres Widerstreben zurück. Er vermied auch einen Besuch in Niederloh und wies die Selbstvorwürfe hierüber mit der Selbstentschuldigung zurück, daß die Mutter wieder in ihre Rechte treten werde, sobald er Klarheit und Gewißheit über seine Zukunft habe. Gleichsam im Traum lebte er die Zeit seither; ab gestumpft gegen alles, was ihm sonst lebens- und be gehrenswert erschienen, war er doch nie zuvor ein treuerer Kamerad, ein liebenswürdigerer Gesellschafter gewesen. Das innere Glück leuchtete förmlich aus ihm heraus, und wenn nicht alle Welt sein Geheimnis erriet, so war das nur seiner trotz aller Versunkenheit stets maßvollen, zurück haltenden Art, sich zu geben, zuzuschreiben, jetzt aber, unter der Nachwirkung von des glückberauschten Freundes Worten vergaß er alle seine Vorsätze, vergaß er die ganze Welt um sich her. Zu ihr! — Weiter fühlte, überlegte er nichts. Er riß die Uhr heraus. Fatal, der Schnellzug war nicht mehr zu erreichen. Und der nächste, ein gräßlicher Bummelzug, ging erst in zwei Stunden. So lange warten? Nein, unerträglich dünkte es ihn. Mit diesen pochenden Pulsen zwei Stunden im Zimmer und schließlich in solchem Marterzug zu sitzen, ertrug er nicht. „Franz!" rief er mit schallender Stimme in den Pferrestall hinunter. Der Bursche sprang in die Tür. Erwartungsvoll sah er zu seinem Herrn hinauf. „Den Wodan satteln! Sofort!" „Zu Befehl, Herr Leutnant." Das kam etwas erstaunt, zögernd. Was, jetzt aus reiten, wo es Zeit zum Frühstück im Kasino war? Denn wmn die Offiziere abends um sechs Uhr Liebesmahl hatten, pflegten sie mittags gemeinsam zu frühstücken. Franz sagte sich, da müsse etwas nicht richtig sein. Droben im Ankleidezimmer warf Lothar in höchster Eile den Hausanzug ab. Fritz, der Stubenbursche, gab unter Koyfschütteln den nagelneuen Jnterimsrock aus dem Schrank. — Den besten Rock, und das zu Pferde bei so regnerischem Wetter! Bedauernd sah er auf das zarte Hellblau des Tuches und dann zum regnerischen Himmel auf. „Herr Leutnant, der is aber hin, wenn Herr Leutnant wiederlommen", konnte er sich nicht enthalten, respektvoll zu bemerken. Lothar mußte lachen. „Was tut's, Fritz! Es gibt noch Schneider m der Welt. Den Mantel? Nein, mein Sohn, bei diesem Ritt wird mir ohne Mantel warm." In wenigen eiligen Sätzen war er die Treppe hinunter. Wodan tänzelte gesattelt aus dem Stall. Freudiges Wiehern begrüßte seinen Herrn. Lothar strich ihm schmeichelnd den schönen Kopf, bevor er in den Sattel sprang. „Nun zeig' einmal, was du kannst, mein braves Tier! Heute gilt es —" Ein Heller, aufmunternder Ruf, und dahin stoben Roß und Reiter. In dreieinhalb Stunden konnte er dort sein. Die beiden Burschen sahen ihrem Herrn betroffen nach. „Da is was nich richtig!" sagte Franz leise. — „Mir tut nur der neue Rock leid bei so'n Wetter!" sagte Fritz wehleidig in einer Vorahnung, daß ihm die Wiederher stellung dieses Kleidungsstückes ziemliche Mühe machen werde. „Aber fein sah er aus, unser Leutnant, daS muß man sagen!" „Na, weißte, Fritze, mit'n Mädel hat's waS zu tun, diese Geschichte, das glaube man dreiste." Mit diesem prophetischen Ausspruch verschwand Franz wieder im Stall, um das Dienstpferd und das Sattelzeug seines Herrn für den morgigen Dienst in Ordnung zu bringen. 9. Auf der Chaussee nach Jngelberg flog Wodan dahin. Den schlanken Hals langgestreckt, mit geblähten Nüstern, die dunkelglänzenden Augen weit geöffnet, schien er mit den leichten Hufen kaum den Boden zu berühren. Zuweilen, wenn die Sonne scheu und verstohlen unter einem Wolken eckchen hervorlugte, weckte sie metallisch schimmernde Reflexe auf dem glänzend schwarzen Fell. Und der Reiter, fest im Sattel, das feurige Tier in sicherer Hand, trieb es an, schneller und schneller, daß sie duhinflogen wie im Geisterritt. Um sie her sauste der Sturm. Eisig schnitt der scharfe Luftzug in Lothars Gesicht und peitschte Wodans lange, seidige Mäbne zurück. Weißer Schaum flog von des Pferdes Gebiß und blieb wie Schneeflocken an Lothars Brust hängen. Er fühlte und sah nichts davon. Sein leuchtendes Auge war geradeaus auf sein Ziel gerichtet. In ihm blühte und tönte es. Süße, liebliche Melodien, majestätische, stolze, dröhnende Klänge einer herrlich schönen Symphonie. Er dachte, reflektierte nicht, er fühlte nur alles in sich wachsen, seine Fähigkeiten zu verzehnfachen. Und alles, was so emporstrebte, war die Kraft, der Wille zum Guten, zum Edelsten. Diese quellenden Melodien in ihm sangen vom Beglückenwollen; zart nur mischten sich die fordernden Töne des Selbstgenießens hinein, bis alles überflutet ward von Dankeshymnen an den Schöpfer, der eine Welt schuf, die Raum für so viel menschlich Schönes und göttlich Erhabenes bot. Er hätte hinausjauchzen mögen in den Sturm, der frei und machtvoll war wie seine Liebe. Er spürte, was jetzt durch seine Brust zog, ihn über jedes Zweifelnde, Kleine hinaushob, war der Höhepunkt des menschlichen Glückes. In dieser Stunde, die ihn das alles empfinden ließ, fühlte er das Einswerden in Liebe. Ohne Etelka räumlich nabe zu sein, wußte er, daß seine Seele der ihren vermählt war für Zeit und Ewigkeit. — Die Chaussee führte jetzt durch an beiden Seiten hoch aufragenden Wald. Hier im Walde statte man Schutz gegen den Wind. Wohl knarrten die Kiefern und warfen einen Regen von Nadeln herab, mancher morsche Ast brach knatternd nieder, aber die volle Macht des Sturmes mußte draußen bleiben auf freiem Feld. Wodans stürmischer Lauf mäßigte sich. Schnaubend, mit schlagenden Flanken, fiel er in Schritt: Auch Lothars Brust keuchte. Er setzte sich loser rar Sattel, die Spannung Ler Muskeln ließ nach — und der Strom ungestümer Empfindungen fing an sachte, ganz sachte fortzuebben. — Im langsamen Vorwärtsreiten nahm er die Mütze ab, um sich die feuchte Stirn zu trocknen. Als er das Tuch wieder in die Brusttasche zurück schob, hörte er darin ein leises Knistern. Er griff mit der Hand hinein — es war der zuletzt erhaltene Brief seiner Mutter. Liebevoll ruhte sein Blick auf den feinen, energischen Schriftzügen. Während er die Zügel in einer Hand zusammenfaßte, las er die Zeilen der ersten Seite. Offenbar die Antwort auf ein paar Verdrießlichkeiten im Dienst, hervorgerufen durch eine Vertretung des vor gesetzten Rittmeisters, die Lothar ihr im ersten Unmut mitgeteilt hatte. Sie schrieb darauf: „Treten kleine Unannehmlich keiten an dich heran, so habe Geduld; suche jedoch nicht auszuweichen, laviere nicht, sondern fasse sie an und ordne sie mit ruhiger, geschickter Hand. Denn, mein Sohn, man vernichtet nichts Schweres und keinen Schmerz, indem man ihm aus dem Wege geht — stelle dich ihm gegenüber und sieh ihm fest ins Auge." Ja, so war sie, Lie Frau, die er so tief verehrte, so ungeteilt, bis er die andere, die eine, die einzige gesehen. Etelka! Nicht hoheitsvoll, nicht von imponierender, unbedingter Überlegenheit, aber wie berückend, wie einzig unvergleichlich war die süße Hilfsbedürftigkeit, ihre scheue Zurückhaltung, der traurige Blick ihrer Augen, deren tiefster Grund doch Seligkeiten ahnen ließ. Schöne, wonnige Zukunftsbilder zogen Lurch seine Phantasie. Bilder von Glück und Arbeit und Heimat liebe. Und bald, bald wollte er Etelka seiner Mutter bringen. Allgemach wurde der Forst lichter. Noch ein paar von Wodans weiten, elastischen Schritten, und rechts und links breiteten sich Felder aus. In den Ackerfurchen spazierten würdevoll, im Gänsemarsch hintereinander, schwarzglänzende Raben; in fast regelmäßigen Zwischen räumen hackten die kräftigen Schnäbel in das lehmige Erdreich. Ein Langohr jagte in hurtigen, lautlosen Sätzen über die Stoppeln. Seitwärts auf hohem Damm führten Schienenstränge der Stadt zu, auf den Telegraphendrähten saßen Spatzen so dicht, wie zu einer Kette aufgereiht. Und dort, weit hinten noch, in Nebel und Rauch grau verhüllt, aber doch schon erkennbar durch schlank ragende Türme, dort tauchte Jngelbexg auf. Lothar durchzuckte es. Er lockerte die Zügel. Gleich einem Jubelruf brach der anfeuernde Ruf von seinen Lippen, und Wodan streckte die geschmeidigen Glieder zu neuem, rasendem Lauf. — In einem Seitengebäude der Villa des Justizrats Bentm war von dem früheren Besitzer her ein in gurem Zustande erhaltener Pferdestall. — In der kleinen Kutscher wohnung hauste jetzt, da Bentin keine Equipage hielt, der Gärtner. Für ein kleines Geschenk nahm dieser den Offizieren und Herren vom Zivil, die zu Pferde aus der nächsten Garnison zum Besuch der Herrschaft herüber- kamen und ihre wertvollen Tiere nicht gern den Be diensteten der Gasthäuser anvertrauten, die Pferde ab, deren Pflege er als gedienter Kavallerist gewissenhaft und umsichtig besorgte. Wodan hatte schon häufig hier von Niederloh aus Unterkunft gefunden, und so ritt Lothar auch beute durch die hübsche Einfahrt an dem Portal vorüber dem Seiten gebäude zu. Es schien merkwürdig still zu sein in dem sonst stets von fröhlichem Leben so erfüllten Hause. Kein Mensch war zu erblicken. Nur Lord, Frau von Torbens prächtige, gelbe Rüde, erhob sich von der Terrasse, heftete das kluge Auge beobachtend auf den Ankommenden, tat einen tiefen, anmeldenden Blaff und kam dann mit majestätischem Schritt freudig heran. Lords Signal mußte gehört sein, denn vom Ende des Gartens eilte jetzt der Gärtner herbei. Sorgfältig wischte er die erdbeschmutzten Hände an der blauen Leinenschürze ab, bevor er das elegante Reitzeug berührte. Wodan war sein Liebling, Lie Krone aller Pferde, die je seiner Obhut anoertraut gewesen, und Lothar war in seinen Augen ein schneidiger Reiter, der wohl mal höllisch losgehen ließ, aber doch zu rechter Zeit zu stoppen verstand. Als er nun heute das schaumbedeckte Tttr mit dm zitternden Flanken erblickte, überkam sein altes Kavalleristen herz Mitleid. „Heute haben's der Herr Leutnant aber eilig gehabt", sagte er im Tone des Bedauerns. Lothar, im Bewußtsein, daß Ler Mann nicht unrecht hatte, nahm den Vorwurf ruhig hin. „Ja, Röder, es wird ein tüchtiges Stückchen Arbeit sein; aber machen Sie's nur gut. Sie müssen reiben, bis er trocken ist und sich beruhigt hat. Decken haben Sie ja genügend", antwortete er, ein Geldstück in Röders Hand gleiten lassend. Er ging dann durch den Stall in das danebenliegende Stübchen, um sich so gut wie möglich zu säubern. „Die Herrschaften sind doch zu Hause?" sragte er durch die offene Tür. „Leider nicht alle, Herr Leutnant. Nur Frau Peternoff ist zu Hause. Der Herr Justizrat sind für einige Tage verreist, kommen aber heute nachmittag zurück. Frau von Torben ist schon mehrere Wochen fort nach dem Süden. Herr Leutnant wußten das nicht? Wenn Herr Leutnant am Portal klingeln wollen, Mina wird melden." Von all dem waren Lothar ausschließlich die Worte: nur Frau Peternoff im Ohr geblieben. Und zugleich kam ihm zum Bewußtsein, welche Tollheit im Grunde in dem rasenden Ritt hierher lag. Denn er Etelka nun auch ver reist gefunden hätte? Wenn er nun in dieser Gemüts verfassung die Stunden, bis sich sein Pferd von der örichten Überanstrengung erholt, in dem Nestchen hier >ätte zubringen müssen? Mit dieser Enttäuschung! Aber ie war ja da! Sie war da! Sein Herz pochte; bis in sie Fingerspitzen fühlte er es. Hastig strich er sich daS Haar aus der Stirn, nach wenigen hastigen Schritten tand er am Portal — hell tönte die Klingel durch daS Haus. — — (Fortsetzung folgt.) Eine fürchterliche Blamage. Humoreske von A. G. (Nachdruck verboten.» Es war an einem der letzten 28 Tage des MonatS, die für leichtlebige Gemüter bekanntlich die schlimmsten sind, als der Schauspieler D. den letzten blanken Taler, der von dem auf seine künftige Monatsgage gepumpten Gelde noch übrig war, sorgenvoll in der Hand wog. „Ich habe keinen zweiten zu versenden!" murmelte er mit dem Pathos eines tragischen Helden, „wie bald wird auch er dahin sein!" Da fiel der Blick des Mimen auf seinen Schreibtisch und entdeckte dort etwas weiß Schimmerndes, eine Karte, deren krause Schriftzeichen wie leuchtende Kometenschweife das düstere Zwielicht seines Daseins erhellten: Werter Herr! Würde mich sehr freuen, Sie morgen mittag 1 Uhr als Gast bei mir zu sehen. Bestens grüßend Ihr ergebener Direktor. Natürlich sprach D. am nächsten Tage pünktlich bei dem Direktor vor und ließ es sich äußerst wohl schmecken. Außer ihm war noch ein anderer Schauspieler der Gast des Direktors. Nachdem man sich verabschiedet, trat D. unter pekuniärer Assistenz seines wohlhabenderen Berufs genossen eine ziemlich umfangreiche Bierreise an, von der er erst abends nach Hause zurückkehrte. Wie freudig aber war er erstaunt, als er auf seinem Schreibtisch schon wieder eine Einladung des Direktors für nächsten Mittag vorfand. Er leistete auch dieser zweiten Einladung Folge und ließ es sich wieder trefflich munden; doch batte er das Gefühl, als sei der Empfang ein weniger herzlicher gewesen, als am ersten Tage. D. hatte entschieden Glück, er traf auch heute einen guten Bekannten, der ihn freihielt, und wieder kam er ziemlich angeheitert nach Hause. „Aber das ist ja eine Seele von einem Menschen, der reine Zivilversorgungsschein!" rief er ganz entzückt aus, als er auch heute wieder eine Einladung des Direktors für morgen mittag auf seinem Schreibtisch fand. D. glaubte, sich auch diesmal nicht ablehnend verhalten zu sollen, und erschien auch am folgenden Tage Punkt 1 Uhr bei dem menschenfreundlichen Direktor. Der Empfang war aber diesmal ein auffallend kühler. Auch bei Tisch zeigte sich der Gastgeber verschlossen und wortkarg. Endlich wandte er sich an den erstaunten Schauspieler mit der Frage: „Sagen Sie mal, lieber D., Sie wissen, ich sehe Sie jederzeit gern bei mir; doch eine Frage er lauben Sie mir: Welchem besonderen Umstande verdanke ich, ehrlich gesagt, speziell heut die Ehre?" „Welchem Umstande? Sie waren doch so liebens würdig, mich auch für heute einzuladen, Herr Direktor!" „Offen gestanden, davon weiß ich ja gar nichts." „Aber, ich bitte, Herr Direktor. Sie luden mich doch per Karte, die ich gestern abend erhielt, ein, auch heute Ihr Gast zu sein!" „Aber, Herr, davon müßte ich doch etwas wissen! Ich habe Sie doch nur sür vorgestern eingeladen!" D. stutzte, eine fürchterliche Ahnung stieg in ihm auf. Wie von Furien gejagt, stürzte er nach Hause an seinen Schreibtisch. Da — ein Blick auf die Karte — und er sank, moralisch ganz plattgedrückt, verzweiflungsvoll aus das Sofa. — Entsetzlich! Er hatte in der seligen Stimmung der beiden letzten Abende das Datum nicht beachtet und dreimal dieselbe Karte als Einladung für nächsten Mittag gesehen!