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Ottendorfer Zeitung : 25.12.1906
- Erscheinungsdatum
- 1906-12-25
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Privatperson
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1811457398-190612254
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1811457398-19061225
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1811457398-19061225
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Ottendorfer Zeitung
-
Jahr
1906
-
Monat
1906-12
- Tag 1906-12-25
-
Monat
1906-12
-
Jahr
1906
- Titel
- Ottendorfer Zeitung : 25.12.1906
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Zur Wahlbewegung. In der Zentrumspresse wird darauf hingc- wiesen, das? eine ganze Anzahl liberaler Sitze nur durch das Zentrum gegen die Sozialdemo kraten zu halten ist, wie Straßburg, Mülhausen im Maß, Bensheim-Erbach, Offenbach, Duis burg-Mülheim, Hanau, Wiesbaden und Hagen. In andern Kreisen, wo das Zentrum nur mit Hilfe der Liberalen gesiegt hat, würden die Sozialdemokraten durchdringen, wenn das Zen trum aus sich selbst angewiesen bliebe. — Im Wahlkreis Alzey-Bingen stellen die ver einigten Liberalen den früheren Vizepräsidenten des Reichstages Reinhard Schmidt-Elberfeld wieder auf. — Die Polen stellen in allen Wahlkreisen des Ruhrreviers Zählkandi daten auf. In Duisburg-Mülheim- Oberhausen stellen die Sozialdemokraten ihren früheren Kandidaten Hengsbach wieder auf. — Die Nationalliberalen wollen im zweiten oldenburgischen Wahlkreise nicht für Träger (frs. Vp.) eintreten, ebenso wie sie in Oldenburg 1 einen eigenen Kandidaten aufzu stellen beschlossen haben. —-JnElsaß-Loth- ringen hat der Kampf der Parteien, der sich im Reichslande mehr unter parteipolitischen als unter kolonialpolitischen Gesichtspunkten abspielen wird, allenthalben begonnen. Besonders rührig ist in den Reichslanden die Sozialdemokratie. — Der 20 060 Mitglieder zählende Verband der evangelischen Arbeitervereine von Rhein land-Westfalen beschloß, um jede Zer splitterung der nationalen Stimmen bei den Neichstagswahlen zu vermeiden, von eigenen Kandidaturen abzusehen. Der Verband sprach die Überzeugung aus, daß im Interesse der nationalen Sache nur nationale Arbeiterkandi daten ausgestellt werden. — Das bekannte Mitglied der Siebenerkommission, der frühere Bergmann Hansemann, wird von den Sozial demokraten statt des früheren Abgeordneten Bämelburg in Dortmund-Hörde aufgestellt. — In Metz werden die Liberalen, der loth ringische Block, das Zentrum und die Sozial demokraten Kandidaten aufstellen. — Im Wahl kreise Germersheim-Bergzabern ist ein Zusammengehen der Nationalliberalen mit dem Bund der Landwirte gesichert. — Im allgemeinen scheint nicht in allen Wahlkreisen der Zusammenschluß der liberalen Parteien so glatt von statten zu gehen, wie es hier und da gewünscht wird. In Lübeck, wo die frei sinnige Volkspartei anfänglich für einen gemein samen liberalen Kandidaten sich entschlossen hatte, werden jetzt von allen liberalen Parteien Kan didaten aufgestellt. Auch der Bund der Land wirte lehnt im allgemeinen das Zusammengehen mit andern Parteien ab. * * * Deutschland. * Der Kaiser wird sich Anfang Januar zu mehrtägigem Aufenthalt nach Rominten be geben. *Der braunschweigische Regentschaftsrat be schloß, die Thronfolgefrage nunmehr vor den Bundesrat zu bringen. * Wie verlautet, halten sich Kolonialdirektor Dernburg und Gouverneur v. Lindequist gegen wärtig in Loudon auf, um mit der englischen Regierung Vereinbarungen anzustreben, we-che den llbertritt verfolgter Aufständischer in S ü d w e st a fri k a auf englisches Gebiet ver hindern sollen. * Das Verbot der Einfuhr von frischem Schweinefleisch aus Dänemark, Schweden und Norwegen ist auch vom Hamburger Senat für aufgehoben erklärt worden. * Der Lübecker Senat beschloß eine Ände rung des Wahlgesetze 8 dahingehend, daß kein Bürger sein Wahlrecht mehr 'auf fünf Jahre (wie bisher) verlieren kann, weil er ein mal feine Steuern nicht bezahlt hat. Osterreich-Ungarn. * Die drei Parteigruppen des österreichischen Herrenhauses beschlossen, dem vom Abgeordneten hause angenommenen Wahlreform-Ent wurf keinen weiteren Widerstand entgegenzu setzen. Die Vorlage betreffend eine gesetzliche Festlegung der Anzahl der Herrenhausmitglieder wurde vom Herrenhaus an die Wahlresorm- Kommission verwiesen. *Die österreichische Do st Verwaltung hat ihren Beamten die Mitteilung gemacht, daß sie demnächst einen großen Teil der gewünschten Reformen einsühren wird. Trotzdem wurde in einer Versammlung der Vertrauensmänner beschlossen, in den passiven Widerstand einzu treten (d. h. alle Vorschriften wörtlich genau zu befolgen), da die Versprechungen der Regierung völlig ungenügend seien. *Bei der Beratung des Heeresbud gets in der ungarischen Delegation erklärte der Kriegsminister, die Neuausrüstung der Artillerie würde spätestens 1908 beendet sein. Das Budget wurde darauf bewilligt. Frankreich. *Jn der Kammer kam es zwischen dem Ministerpräsidenten Clemenceau und seinem einstigen Mitarbeiter Pelletan, dem jetzigen Führer der Radikal-Sozialisten, zu erregten Auseinandersetzungen, weil dem letzteren der Nachtrag zum Trennungsgesetz nicht weitgehend genug erschien. Die Debatte konnte nicht zu Ende geführt werden, da der Kultus minister Briand erkrankt ist. England. * Joseph Chamberlain, der frühere Kolomalminister, soll infolge der Überanstrengung gelegentlich der Feier seines 70. Geburtstages sein Gedächtnis vollständig verloren haben. Damit würde allerdings sein Wiedererscheinen im Parlament, das der greise Politiker für Neu jahr geplant hatte, ausgeschlossen sein. * Die Regierung sieht sich angesichts des Konflikts zwischen Ober- und Unterhaus wegen des neuen Schulgesetzes in eine pein liche Lage versetzt. Nach der Verfassung muß sie eigentlich an das „Land appellieren", d. h. das Unterhaus auflösen und Neuwahlen aus- schreiben. Dawit aber würde die Lage nur verschlimmert. Es heißt, Campbell-Bannerman wolle noch einmal vermitteln. Belgien. * In der Kammer wurde hinter verschlossenen Türen der Beschluß gefaßt, künftighin den Ab geordneten höhere Tagegelder zu bewilligen, denVerkauf von Alkohol im Parlaments- gebäude während der Sitzungen auf ein Mindest maß zu beschränken. (Das läßt tief blicken!) Schweden. * Das Befinden des Königs Oskar hat sich bedeutend gebessert. Spanien. * Der Minister des Auswärtigen erkärte in der Deputiertenkammer auf eine Anfrage, daß die Handelsbeziehungen zu Deutsch land unverändert geblieben seien. Der neue abzuschließende Handelsvertrag würde im Laufe des kommenden Frühjahrs den Cortes zugehen. *Der Senat hat die Vorlage wegen Gültigkeitserklärung der Algeciras-Akte ohne Debatte angenommen. *Jn der Deputiertenkammer verharrt die Mehrheit auf dem Standpunkt, daß es besser sei, Raisuli einige Tausend Pesetas zu schicken, als ihn zu entwaffnen. Die Regierung wird wiederholt gewarnt, sich von Frankreich zu einer kriegerischen Unternehmung verleiten zu lassen, die im Widerspruch mit dem Marokko-Ab kommen von Algeciras stehe, daher gefährliche Folgen haben könne. Rußland. * Wenn man liest, -wieviel Menschen täglich im Reiche des Zaren verurteilt, verbannt und erschossen werden, so muß man sich wundern, wo immer wieder die neuen Revolutionäre Her kommen. Die Feldgerichte haben in den letzten Tagen 200 Mann zum Tode und 475 zur lebenslänglichen Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. * Mit allem Ernst werden jetzt die Vor bereitungen zur Dumawahl getroffen. Der Ministerrat hat die Wahlen der Wahlmänner auf den 15. Januar, die Abgeordnetenwahlen auf den 5. Februar anberaumt. * Die Regierung erließ eine Bekanntmachung, nach der die Zugehörigkeit zur Ka betten vartet gesetzwidrig und somit strafbar lei. Was unter solchen Umständen die Wahlen er geben werden, liegt auf der Hand. Herr Stolypin hat also in aller Ruhe daS freie Wahlrecht, daS einst das Zarcnmanifest verhieß, dem Volke wieder genommen. * Der Mini st errat genehmigte die Ein führung der deutschen Unterrichts sprache in der Handelsschule von Zübler zu Lodz sür sämtliche Fächer mit Ausnahme der russischen Sprache, Geschichte und Geographie. * Von den 15 Matrosen, die sich im Hafen von SebastopoI nach der Meuterei auf dem Panzerschiff „Potemkin" nach Rumänien geflüchtet hatten, dann aber von dort zurück gekehrt sind und sich freiwillig dem Gericht gestellt haben, wurde einer zu 4 Jahr Zwangsarbeit, die übrigen zur Einreihung in Arrestanten- abteilungen auf die Dauer von 6 Monat bis zu 2 Jahr verurteilt. Amerika. *Die Regierung von Chile hat dem Kongreß die Errichtung eines Arbeitsbureaus vorgeschlagen, das damit beauftragt werden soll, eine Statistik der Gehälter und der Lebens- mittelpreise aufzustellen sowie eine Arbeiter- gesetzgebung vorzubereiten. Der Entwurf ist von den Kammern beifällig ausgenommen worden. Afrika. * Die Lage in Marokko wird mit jedem Tage verwickelter. Raisuli weigert sich ent schieden, dem Ersuchen des Sultans stattzugeben, wonach der „Gouverneur" Tanger und seine Umgebung verlassen soll. Im Gegenteil be absichtigt Raisuli alle Maßregeln zum Empfange der fremden Truppen zu treffen. Infolgedessen soll die Ausstellung starker französischer und spanischer Militärposten in Tanger und Umgegend nach Ankunft der 1000 Franzosen und 1000 Spanier erfolgen. Asien. * Nachdem die Japaner sich in der Mandschurei festgesetzt und Korea unter ihre Herrschaft gebracht haben, beginnen sie nunmehr, sich des Stillen Ozeans zu bemächtigen: In Tokio ist eine neue japanische Schiffahrts gesellschaft mit einem Kapital von 40 Mill. Mk. gegründet worden, die regelmäßige Linien im Großen Ozean einrichten will. * Die Lage in China ist Londoner Be richten zufolge sehr ernst, überall werden ge heime Waffenniederlagen entdeckt, so auch am Mittwoch eme in Tientsin. Der An kauf von Waffen durch Privatleute ist lebhaft. Die treibenden Kräfte sind die Südchinesen, Mitläufer die brotlos gewordenen Opiumver käufer, Besitzer von Spielhäusern u. a. — Die Japaner verstärkten angesichts dieser Bewegung die Bewaffnung der Schutzwache bei ihrer Pekinger Gesandtschaft durch 100 Gewehre und 50 Kisten Patronen. Ober Marokko und besonders über das Verhalten des Gou verneurs und früheren Bandensührers Raisuli ist in der ,Schles. Ztg/ folgendes zu lesen: Die Verhältnisse in Tanger haben sich so weit zugespitzt, daß alle aktiv daran Beteiligten bald gezwungen fein werden, Farbe zu be kennen. WaS neulich vom Sultan als Mög lichkeit bezeichnet wurde, bringt die ,Dep. Mar/ jetzt als Beschuldigung. Er habe Raisuli als Werkzeug betrachtet und benutzt, die Reformen aufzuhalten; deshalb habe er ihm auch die Bestätigung als Pascha von Arsila allerdings versagt, ihn aber wissen lassen, dies geschehe nur vorderhand, aus Rücksicht darauf, daß der nordamerikanische Gesandte noch in Fes weile; es hieße, diesen vor den Kopf stoßen, wenn er jetzt schon dem Räuber Perdicaris' eine neue Würde verliehe. Dazwischen kam die Drohung mit der spanisch-französischen Flotte und die energische Note des diplomatischen Korps. Der Maghzen begriff den Ernst der Lage, es fanden außerordentlich häufige Beratungen statt. Eine militärische Besetzung mußte hintangehalten werden, denn daß diese jemals zurückgezogen werden würde, daran glaubt kein Mensch hier, in Europa wohl ebensowenig. Aks» muß Raiiuli, das enksnt tsrridlo, unschädlich ge macht werden. Der Sultan hat ein bedeutendes Heer nach Tanger geschickt, aber wird das früh genug kommen und stark genug sein, sich einer Truppenausschiffung zu widersetzen? Raisuli hat sich seit dem Ende des Rhamadau ganz still verhalten; er hat Mansnr bei sich im Zinat behalten, und wir haben die ganze Zeit hin so still Und sicher zugebracht, ohne da? geringste mißliebige Vorkommnis zwischen Christen und Marokkanern, wie nur je zuvor. Daß Raisuli seinen Kalifen habe ins Gefängnis, sogar in Ketten legen lassen, ist nicht wahr. Jedenfalls hat sein frei- oder unfreiwilliger Aufenthalt in Zinat sein Ende erreicht, er hat im Namen Raisulis die Zügel der Negierung auf unserm Soko Grande wieder ausgenommen und bringt sogar die ihm früher abgenommene Bestätigung des Sultans mit, die Grundstücks käufe und -Verkäufe im Weichbild von Tanger zu kontrollieren, zu autorisieren und — zu be steuern. Zum Schluß sei noch über Raisuli hinzugefügt, daß unter den Marokkanern selbst die Meinung besteht, er werde sich ganz in den Schranken seiner Befugnisse halten, denn er sei jetzt — reich genug. unä fern. Weihnachten in der kaiserlichen Fa milie. Die kaiserliche Familie wird das Weih- nachtssest in hergebrachter Weise im Neuen Palais bei Potsdam feiern. Da auch das Kronprinzenpaar und Prinz Eitel-Friedrich der Einbescherung im Neuen Palais beiwohnen werden, wird das Kaiserpaar am heiligen Abend seine sämtlichen Kinder um sich versammelt sehen. Aus Rominten sind bereits ein Dutzend herr licher Tannenbäume auf der Station Wildpark eingetroffen, die im Muschelsaale des Neuen Palais aufgestellt werden. Gerade ein Dutzend Bäume ist diesmal erforderlich, denn bekannt lich ist sür den Kaiser, die Kaiserin und jedes der kaiserlichen Kinder ein Baum bestimmt, unter dessen Zweigen auf weißgedeckten Tafeln sich der Aufbau der Geschenke vollzieht. Auch die Kronprinzessin, die Prinzessin Eitel-Friedrich und Prinz Wilhelm, der Kaiserenkcl, erhalten unter besonderer Tanne ihre Geschenke auf- gebaut, obgleich in den Wohngemächern de> Kronprinzen und des Prinzen Eitel-Friedrich noch besondere Familien-Weihnachtsseiern statl- finden. t. Kaiser - Weihnachtsgeschenke werden am heiligen Abend bei den Truppenteilen zur Verteilung gelangen. Diese bestehen aus Kaiser- und Kriegsbildern, sowie aus Büchern patrio tischen oder historisch-belletristischen Inhalts und sollen solchen Leuten verliehen werden, die sich durch treue Pflichterfüllung ausgezeichnet haben und von Hause keine großen Zuschüsse erhalten. Von den Kommandeuren sind die Kaiser-Weih- nachtspräsente mit einer entsprechenden Wid mung zu versehen. Ein seltsamer Diebstahl. Dem Fürsten von Sondershausen wurden während einer Er krankung aus der Privatschatulle 10 000 Mk. gestohlen. Der älteste preußische Geistliche, der Pastor Anton Gersdorf in Weinberg bei Halle ist im Alter von 100 Jahren und 6 Monaten gestorben. Zur Roburit-Explosion bei Annen. In Witten scheinen Anhaltspunkte dafür gefunden zu sein, daß die Roburitwerke noch andern Sprengstoff als Roburit herstellten. Auf dem Terrain der großen Ziegelei sollten Spreng versuche angestellt werden, sür die in dem Felsen boden 30, Meter tiefe Bohrlöcher vom Schieß meister der Roburitfabrik angebracht wurden. Da man die Wirkungen des Roburits kannte, wird angenommen, daß man einen andern Spreng stoff erproben wollte. Auch nach dieser Richtung hin wurden Untersuchungen angestellt. Böser Unfug. Unbekannte Täter be warfen bei Schweich den Abendschnellzug Trier- Koblenz mit Steinen. An der Maschine und am Packwagen wurden die Fenster zertrümmert; der Heizer wurde leicht verletzt. K Der Meg rum Zerren. 8) Novelle von F. Stöckert. «Fortsetzung.) Dr. Bergen sieht im Geiste Melitta in einem kleinen, ärmlichen Stübchen, in schwarzen Trauer kleidern an der Staffelei sitzen; auf dem Tisch daneben steht ein Glas mit halbverwelkten wilden Rosen. Ach, alles was von Poesie und Romantik in seinem Herzen lebt, umgibt diese einsame Mädchengestalt. Eine heftige Unruhe erfaßt ihn, ihm ist, als müsse er eilends der Stadt mit ihren ehrlichen Philisterseelen den Rücken wenden, als wäre das Leben, was er hier gelebt, ohne allen Wert. Mächtig zog es ihn nach der Heimat; was ihm verloren gegangen, hier in diesem alltäglichen Leben, er wollte es dort suchen und finden, dort, wo eine wilde Rose einsam schmachtet nach Licht, Luft, Leben und Liebe. Melitta malte schon längst kein? Blumen mehr, sie stickte wieder für die Weißwarenhand lung und war sehr traurig, sehr unglücklich. Das wenige, was sie und ihre Mutter mit ihren Arbeiten verdienten, reichte natürlich nicht aus zu ihrem Lebensunterhalt. Ein kostbares Schmuck stück nach dem andern wurde zum Juwelier ge tragen und verkauft; dazu war der Winter vor der Tür, dessen Schattenseiten die beiden Damen jetzt wohl kannten. Sonst war er für sie hingegangen in einem Rausch von Zerstreuungen, jetzt wußten sie, was es heißt, wenn 20 Grad Kälte sind, und die Fenster bei der geringen Wärme, die dem Leinen Ofen entströmt, den ganzen Tag nicht abtauen wollen. Und dann mit den erstarrten Fingern die feine Handarbeit vollenden und damit zum Abend durch die winterlichen Straßen eilen, geduldig harrend in dem kalten Laden stehen, bis eine von den schnippischen Laden fräulein die Arbeit abnimmt und die wenigen Groschen dafür bezahlt. An dies alles dachte Melitta mit kummer vollem Herzen an einem trüben Novemberabend. Der Regen schlug gegen die Fensterscheiben, in der Stube war es kalt. Die Mutter saß fröstelnd am Ofen, in welchem das Feuer aus gegangen. „Soll ich nicht lieber noch einmal Feuer an machen, Mamachen?" fragte Melitta, „ich werde dir Tee kochen." „Ja, Kind, besser wäre es schon, aber Holz und Kohlen sind teuer und der Winter fängt erst an." „O, Mama, ich habe ja noch meine echte Perlenschnur, wenn ich die verkaufe, können wir beinahe den ganzen Winter dafür leben." „Aber dann, Melitta, was dann?" „Dann kommt der Frühling wieder," wollte Melitta recht sorglos heiter erwidern, aber es gelang ihr nicht recht; bei dem November sturm draußen klang es wie Hohn, vom Früh ling zu sprechen. Sie begann das Feuer wieder anzufachen, dann setzte sie sich, als es hell flackerte und knisterte, zu ihrer Mutter. Der Feuerschein warf rötliche Lichter auf ihr blasses Gesichtchen, auf das blauschwarze Haar, das noch wie früher in schweren Flechten herunter hing. Ein vertragenes schwarzes Samtkleid, das noch aus glücklichen Zeiten stammte, schmiegte sich weich um die jungen Glieder. Etwas von der alten Anmut und dem Liebreiz, der ihr einst in so großem Maße zu eigen, lag auch heute noch über dieses Mädchens Erscheinung ausgegossen. „Es muß doch noch einmal anders werden, Mama," begann sie jetzt wieder die Unter haltung. „Ich glaube und hoffe fest, daß der liebe Gott auch für uns noch ein wenig Erden glück aufbewahrt hat. Wir könnten irgend einen reichen Verwandten in Amerika haben, den wir beerben, oder wir versuchen unser Heil einmal in der Lotterie!" „Gott erhalte dir diesen Glauben," erwiderte die Mutter seufzend, „es ist schon etwas wert, wenn man noch hoffen kann, ich kann es nicht mehr." Melitta blickte betroffen in das Antlitz ihrer Mutter, es lag ein Ausdruck darin, den sie sich nicht recht zu deuten vermochte, nicht Trauer, nicht Gram und Sorge, etwas Überirdisches lag in ihrem Blick, als ob ihre Seele sich langsam loslösen wolle von der Bürde des Körpers, von aller Erdenlast und Sorge. Das junge Mädchen hatte einst von schönen Frauenhänden gelesen, die nachts auf kranken Herzen ruhen; solche Hände waren es wohl, die da ineinander gefaltet wie leblos auf dem dunklen Kleide ihrer Mutter lagen, dann und wann von dem rötlichen Licht des Feuers übergossen. „Mama, du bist krank!" rief sie plötzlich in heißer Angst und faßte die kalten, leblosen Hände. „Ich bin nicht krank, mein Kind, nur müde, sterbensmüde." > Von diesem Abend an gewann eine neue Sorge Raum in Melittas Herzen, sie bongte sür daS Leben ihrer Mutter, die immer stiller, immer müder wurde. Der Doktor, es war der Armenarzt, ein andrer besuchte diese dunklen Häuser der Vor stadt nicht, kam jetzt täglich zu der Frau Kom- merzienrätin. Er verschrieb Arzneien, verordnete kräftige Nahrungsmittel, und Melitta in ibrer bangen Sorge um das geliebte Leben befolgte alle seine Verordnungen aufs pünklichste. Die Perlenschnur, das letzte von ihren Schmuck stücken, hatte schon längst zum Juwelier wan dern müssen. Eine verstohlene Träne war darauf gefallen, als sie noch einmal die feucht schimmernden Perlen durch die Fingern hatte gleiten lassen; sie riefen Erinnerungen wach an selig vergangene Zeiten. Sie gedachte eines Donnerstag-Abends, man hatte sich zahlreich in dem Salon ihres väter lichen Hauses eingefunden. Tasso, diese herrliche Dichtung Goethes, sollte mit verteilten Rollen gelesen werden, und ihr und Doktor Bergen waren durch das Los die Hauptrollen in dem Stücke zngefallen. Sie sah sich im Geiste neben ihm sitzen in dem dunkelroten Samtkleid«, worin er sie so gern gesehen, als einzigen Schmuck die Perlenschnur um den Weißen Hals ge schlungen. Sie hörte seine tiefe, wohlklingende Stimme, wie er voll hoher Begeisterung die Worte sprach: „Beschränkt der Rand des Bechers einen Wein, Der schäumend wellt und brausend überschwillt? Mit jedem Wort erhöhest du mein Glück, Mit jedem Worte glänzt dein Auge Heller
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